Montag, 10. Oktober 2011
Wrong
Etwas fühlt sich sehr falsch an. Wie wenig ich davon begreifen kann. Wie schnell doch die Grenze meiner eigenen kleinen Denkdimension erreicht ist. Irgendwas scheint da in dieser unserer Welt ziemlich schief zu laufen. Und wir können scheinbar nur sehr wenig dagegen tun. ICH kann scheinbar nur sehr wenig dagegen tun.

In einem kleinen Zimmer des Amtsgerichtes mit der Aufschrift Zeugenbetreuung wartet meine Freundin darauf, dem Mann gegenübergestellt zu werden, der sie vor einem halben Jahr überfallen und zu vergewaltigen versucht hat. Sie hatte Glück, denn zwei jugendliche Passanten konnten das Schlimmste verhindert. Trotzdem hat sie Angst, dem Mann gegenüber zu stehen, der sie für einen Moment in ihrem Leben hat völlig ausgeliefert fühlen lassen. Der Moment hat sich in jede einzelne Neurone ihres Organismus eingebrannt. Jetzt sitzen wir auf einem roten Sofa in diesem Zimmer, das wir mit geschätzt fünfzig Stofftieren und einem riesigen Gummibaum teilen. Erst ist sie ganz still, dann weint sie. Ich bin froh um jede Träne, denn die löst etwas von der Schockstarre, in die sie abwechselnd mit gespielter Heiterkeit verfällt.

Die Zeugenbetreuung besteht nicht nur aus einem geschützen Aufenthaltsort für Opfer und Zeugen von Gewaltverbrechen, sie hat auch eine gute Seele. Während Frau Hartl meine Freundin zum Rauchen nach draußen vor die Sicherheitskontrolle begleitet, blättere ich in dem Buch, das auf dem Tisch liegt. Auf der ersten Seite bittet sie ihre Schützlinge, etwas hineinzuschreiben, etwas Persönliches, das vielleicht die Aufregung löst oder auch anderen Wartenden hilft. Was ich darin lese, macht mich fassungslos. Mütter von ermordeten Kindern, Kinder die sexuell missbraucht, Frauen die von Fremden oder Familienangehörigen geprügelt wurden, sie alle haben warme Worte des Dankes für diese Frau, die ihre Angst auffing. Manche Sätze sind kaum verständlich, die Schrift schwer lesbar, doch läßt sich vieles zusammenreimen. Ein Mädchen schreibt, sie warte hier an ihrem 13. Geburtstag, um ihrem Vater gegenüber gestellt zu werden. Sie schreibt von ihrer Angst und ihrem Leben, das doch bisher so kurz gewesen sei. Eine andere schreibt nur einen Satz: Fahrud ist ein Arsch. Aus jeder Zeile, jedem Zwischenraum quillt unfassbarer Schmerz.

Viele Jahre habe ich mich gefragt, warum jemand so etwas tut, Gewalt ausübt gegen Frauen (ja auch gegen Männer - ich weiß um die Dunkelziffer), gegen Kinder, schlicht gegen Schwächere. Als ich älter wurde, habe ich gelernt, diese Frage nicht mehr zu stellen. Weil es darauf keine Antwort gibt. So einfach ist das. Tatsächlich? So einfach ist es nicht. Ich weiß um die Narben, die Erinnerungen und die Alpträume. Ich kenne diese maßlose Wut, die auf das Gefühl völliger Hilflosigkeit folgt. Wunden heilen aber dieses Gefühl hört niemals auf. Die Frage, die ich mir heute stelle ist, ob eine Antwort etwas daran ändern würde, ob sie die Wut begrenzen und die Hilflosigkeit verwandeln könnte. Kann es eine Antwort geben, die so überzeugend, so aufklärend ist, dass sie das schafft? Ich weiß es nicht.

Drei Zigarettenlängen, selbstgedrehte, später bringt Frau Hartl meine Freundin zurück. Eine junge Frau stößt zu uns. Sie spricht nur gebrochen deutsch. Aus der Unterhaltung der Anwältin mit Frau Hartl höre ich heraus, dass sie gegen ihren Mann aussagen soll. Ihre ganze Hoffnung steckt in der geplanten Videovernehmung. Nach der Flucht ins Frauenhaus möchte sie ihren Mann verständlicherweise nicht sehen. Nach etwa einer Stunde kommt die frohe Nachricht: der Mann hat alles gestanden und erspart ihr so eine erneute Aussage. Alles noch einmal haarklein erzählen, die Situation wieder erleben, die Angst spüren und diese verdammte Hilflosigkeit. Die Staatsanwaltschaft macht den Deal Geständnis gegen Strafminderung, um Betroffene vor einer Retraumatisierung zu schützen.

In der Sitzungspause überbringt die Anwältin auch meiner Freundin die frohe Botschaft. Die Aussage bleibt ihr erspart, dennoch müssen wir bis zum Ende der Verhandlung warten. Frau Hartl beginnt auf Nachfrage meinerseits ein wenig zu plaudern. Eine spezielle Ausbildung habe sie nicht, sei nur seit den Siebzigern im Justizgebäude auf verschiedenen Posten gewesen. Überhaupt hätte man ja in Bayern erst sehr spät sowas wie eine Zeugenbetreuung eingerichtet. Das gäbe es erst seit ungefähr 15 Jahren. Und dann wurde halt geschaut, wer aus dem Laden sowas machen könne. Da sei die Wahl halt auf sie gefallen. So säßen all die Kinder und Frauen bei ihr auf dem Sofa. Manche ließe sie erst mal in Ruhe, mache die Türe zu, bis sie die zum Sitzungssaal begleitet. Andere wollten reden, um die Angst zu bekämpfen. Mit den meisten hätte sie körperlichen Kontakt, nicht wie die Richter und Anwälte, die ja da droben säßen und sich nur die Geschichten anhören würden. Besonders schlimm seien ja die Kinder. Erst letzte Woche sei ein kleines Mädchen dagewesen, das wurde vom Großvater jahrelang missbraucht. Und dann gibt es noch die vielen Mädchen, die zur Prostitution gezwungen wurden und die Eltern von ermordeten Kindern. Da brauche sie manchmal auch Abstand. Dann nimmt sie sich eine Woche Urlaub. Bei Fällen mit der Drogenmafia sei sie auch schon in brenzlige Situationen gekommen aber sie sei ja über den Funk verbunden, da sei schnell jemand da.

Ich staune über ihre Kraft und die Zuversicht, die sie ausstrahlt. Jeden Tag mit menschlichem Elend von diesem Ausmaß konfrontiert zu sein und dennoch die Hoffnung und das Lachen nicht zu verlernen, das ist wahre Größe. Sie zeigt uns eine Postkarte von dem Mädchen, das gegen den Großvater aussagen musste. Manchmal schrieben ihr die Schützlinge, wie es ihnen jetzt gehe. Dann wisse sie nicht immer ganz genau wer das war, weil so viele dort ein- und ausgehen. Trotzdem freue sie sich über jeden Gruß. Vielleicht ist das die Quelle ihrer Zuversicht - die Worte derer, die auf ein wenig menschliche Wärme angewiesen waren und die sie nun selbst wieder geben können.

Der Angreifer meiner Freundin bekommt zwei Jahre und neun Monate Haftstrafe. Das werden in seinem Fall wohl 33 äußerst unangenehme Monate sein. Denn selbst unter Straftätern gibt es einen Ehrenkodex. Nach vier Stunden Warten dürfen wir gehen. Ich weiß nicht so recht, was ich meiner Freundin sagen soll. Also sage ich nichts. Ein Satz aus dem Urteil des Richters sagt viel mehr. Weil er so gut tut zwischen all den Fragen. Und weil er ein wenig von der Zuversicht zurückgibt, die einem durch so ein traumatisches Ereignis geraubt wurde. Die Anwältin zitiert ihn kurz bevor sie sich verabschiedet:

In dieser Stadt soll keine Frau Angst haben müssen, wenn sie abends alleine durch einen Park nach Hause läuft.

Danke Herr Richter.

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