Freitag, 21. April 2006
Morgen früh, wenn Gott will
In diesem Wetter, in diesem Braus,
Nie hätt' ich gesendet die Kinder hinaus!
Man hat sie getragen hinaus,
Ich durfte nichts dazu sagen!
In diesem Wetter, in diesem Saus,
Nie hätt' ich gelassen die Kinder hinaus,
Ich fürchtete sie erkranken;
Das sind nun eitle Gedanken,
In diesem Wetter, in diesem Graus,
Nie hätt' ich gelassen die Kinder hinaus,
Ich sorgte, sie stürben morgen;
Das ist nun nicht zu besorgen.
In diesem Wetter, in diesem Graus,
Nie hätt' ich gesendet die Kinder hinaus,
Man hat sie hinaus getragen,
Ich durfte nichts dazu sagen!
In diesem Wetter, in diesem Saus,
In diesem Braus,
Sie ruh'n als wie in der Mutter Haus,
Von keinem Sturm erschrecket,
Von Gottes Hand bedecket,
Sie ruh'n wie in der Mutter Haus.

aus "Kindertotenlieder" von F. Rückert/G. Mahler


Sie war fünf Jahre jünger als ich und wir hatten den Patenonkel gemeinsam. Wenn wir im Skiurlaub zur selben Zeit ins Bett mussten, las ihr Vater Geschichten vor. Damals fuhr ich aber lieber mit den wilden Jungs vom Patenonkel. Sie war ein wenig weinerlich und nervte uns damit gewaltig. Klar, sie war ja noch klein, während wir uns schon zu den Halbstarken zählten. Der Kontakt verlor sich mit den Jahren. Eines Tages hörte ich, sie habe Krebs und kämpfte dagegen erfolgreich. Damals war sie 21. Mein Patenonkel war in meinem Diplomkonzert anwesend, nicht aber ihre Eltern. Ihr Zustand hätte sich verschlechtert. Deswegen seien sie jetzt Tag und Nacht in der Klinik.

Am nächsten Tag beschloss ich, sie dort ebenfalls zu besuchen. Die entsprechende Abteilung in der Uniklinik zu finden, war das kleinste Problem. Auf meine Frage, in welchem Zimmer sie läge, fragte mich die Schwester, ob ich eine Angehörige sei. "Nein, nur eine Freundin" sagte ich und errötete ob dieser Lüge, denn sehr freundschaftlich hatte ich mich nicht verhalten. Immerhin hätte ich sie schon viel früher besuchen können. Die Schwester verkündete mit ernster Mine, dass sie in dieser Nacht gestorben sei. Ich ging wie ein geschlagener Hund zum Auto und fuhr nach Hause. Meine Gedanken kreisten um sie, ihre Eltern und ihre Freunde. Aus Furcht, nicht die richtigen Worte zu finden, rief ich ihre Eltern nicht an, doch am gleichen Abend erhielt ich einen Anruf von ihrem Vater. Ich versprach, in den nächsten Tagen vorbeizukommen.

Drei Tage wartete ich, bis ich mich zum Kondolenzbesuch aufmachte. Es war bereits Sommer. Man bat mich in den Garten hinter dem Haus. O., ihr Vater sprach mit leuchtenden Augen über sie, als ob sie noch am Leben wäre. Und dann geschah etwas, vor dem ich mich fürchtete. O. bat mich um einen Gefallen. Ich solle ihn begleiten, wenn er sie, wie jeden Tag, besuchen ginge. Es wäre nicht weit, denn man wohne gleich in der Nähe des Friedhofes. Nun ist es so, dass ich von Kindheit an unter wiederkehrenden Alpträumen litt, in denen Untote und Leichen eine Rolle spielten, obwohl ich bis zu diesem Zeitpunkt noch nie einen Toten zu Gesicht bekommen hatte. Ich vermied es gar, Krimis im Fernsehen zu schauen und wenn dies absehbar war, verdeckte ich meine Augen im Kino, bei dem erwarteten Anblick einer Leiche. Wäre ich zu einer Zeit geboren, als der Tod noch zum Leben gehörte und die Toten im eigenen Hause verabschiedet wurden, hätte ich sicherlich kein Problem damit gehabt. So aber schien meine größte Angst Wirklichkeit zu werden. Gleichzeitig begriff ich jedoch, dass ich ihm diesen Wunsch nicht abschlagen konnte. Er wünschte sich einen Menschen, mit dem er gemeinsam trauern wollte. Zögerlich folgte ich ihm durch die Hecke und über das Feld in Richtung Friedhof. Er steuerte direkt ein kleines Häuschen mit nur zwei Fenstern und einer Holztüre an. Die öffnete er mit dem Schlüssel aus seiner Hosentasche, trat hinein und öffnete dann eine der beiden Türen im Inneren. Von der Sonne geblendet, sah ich erst nur Umrisse im Dunkel. O. schob mich vor sich in den kleinen Raum. Drinnen stand der geöffnete Sarg. Der Gang daneben war nicht größer als der Sargdeckel. Da lag sie vor mir, völlig ruhig, fast wie eine Puppe aus Wachs. Er beugte sich über sie, nahm ihre Hand, streichelte ihr Haar und begann mit ihr zu sprechen. Besuch habe er heute mitgebracht, sie kenne mich ja, hätte sich über meine Casettenaufnahmen doch so gefreut. Ja, draußen sei es sehr heiß geworden, da hätte sie doch immer dieses eine Sommerkleid so gerne getragen, nicht diesen langen Fummel, den sie jetzt anhatte. So kalt seien ihre Hände, ob sie friere. Dann nahm er meine Hand und zog mich näher an sie heran. Ob ich nicht auch meinte, sie sähe ein wenig blaß aus? Mir wurde schwarz vor Augen, nicht weil ich den Anblick, sondern seine Trauer nicht ertrug. Ich stürzte an ihm vorbei zur Türe. Meine Knie zitterten. Draußen wartete ich auf dem kleinen Bänkchen, bis er bereit war und die Türe wieder schloß. Noch nie zuvor kam ich mir hilfloser vor, als in diesem Augenblick, als sich O. neben mich setzte. Ich sollte ihn trösten, dabei fühlte ich mich unendlich schwach in diesem Moment. Wir sprachen noch eine kleine Weile, bevor wir uns wieder auf den Rückweg machten.

An diesem Abend hörte ich noch lange Schuberts Streichquartette und den langsamen Satz des -quintetts. Bevor ich zu Bett ging, schaltete ich die Stereoanlage - wie jeden Abend - sorgsam aus. Gegen Morgen träumte ich von ihr. Sie lag vor mir in ihrem Sarg, ich stand daneben. Plötzlich öffnete sie ihre Augen und hob langsam die Hand, streckte sie mir entgegen. Erst erschrak ich, doch sie sagte, ich müsse keine Angst haben, sie würde mir gerne etwas zeigen, ob ich mit ihr gehen wolle. Ganz langsam führte ich meine Hand zu der ihren, doch bevor sich beide Hände berührten, wachte ich auf. Mein Anrufbeantworter hatte sich in diesem Moment eingeschaltet, doch keine Stimme war darauf zu hören. Ich lag einige Zeit starr vor Schreck im Bett, als sich plötzlich meine Anlage einschaltete. Zu hören war der zweite Satz von Schuberts Streichquintett, das Stück, das ich gerne auf meiner eigenen Beerdigung gespielt hätte. Mein Hirn suchte krampfhaft nach einer Erklärung für diese merkwürdigen Vorgänge. Erst als ich die blinkende Uhr des Fernsehers sah, wusste ich, dass sich durch eine Stromunterbrechung die elektrischen Geräte eingeschaltet hatten. Was ich mir allerdings bis zum heutigen Tag nicht erklären kann, ist die Tatsache, dass sich Anrufbeantworter und Stereoanlage zu verschiedenen Zeitpunkten eingeschaltet haben. Zudem würde die CD bei Stromunterbrechung am Anfang beginnen und nicht beim zweiten Satz des Streichquintettes. Bei einer Überprüfung der Anrufzeit auf dem Anrufbeantworter, stellte ich des Weiteren fest, dass zu diesem Zeitpunkt der Strom bereits ausgefallen war. Ohne Strom läuft das Gerät jedoch nicht.

Noch einige Wochen war ich der festen Überzeugung, sie hätte mir eine Nachricht aus dem Zwischenreich senden wollen, bis ich eines Tages beschloß, die Vorfälle des damaligen Abends weder rational erklären, noch sie mystifizieren zu wollen. Es gibt Dinge zwischen Himmel und Erde, die werde ich niemals verstehen. Und einige davon sind sogar physikalisch beweisbar.

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