Freitag, 3. April 2020
Tageblog 3.4.2020 - Coronicles
Eine Frau steht am Supermarkt an der Kasse. Sie lässt das Wechselgeld fallen, sucht, hebt es auf. Ich deute auf ein 5 cent Stück, das noch am Boden liegt und sage, da liegt noch was. Sie guckt, sagt, das gehöre nicht ihr und geht. Der Sicherheitsmann hebt es auf und reicht es der Kassiererin.
Ein Mann steht sehr breit im Gang vor dem Fleischkühlregal. Ein anderer genauso breit vor den Backwaren. Ich warte geduldig, bis sie ihre Auswahl getroffen haben und passiere anschließend. Als ich die Breze herausfische, stößt der Arm einer Frau an meinen. Sie wolle ja nur kurz und macht unbeirrt weiter. Ich bin irritiert. An der Kasse achtet man dennoch auf den größtmöglichen Abstand.

Ich beobachte Menschen, die auf die Straße spucken. Das habe ich bisher nur in China gesehen. Dort schnäuzt man nicht, sondern zieht den Rotz nach innen oder entledigt sich in die andere Richtung. Das ist dort einfach so. Bei uns ist das wohl jetzt auch so.
Es sitzen jetzt viel mehr Menschen mit Masken in der U-Bahn. Manche ziehen sich einfach den Schal bis über die Nase, andere halten sich Tücher vor den Mund. Auch das kenne ich vorwiegend aus Asien. Die ohne Mundschutz sind dort Touristen. Hierzulande sind die Informationen, was Mundschutz angeht, widersprüchlich. Auf Parkbänken werden Alleinsitzende nur geduldet, wenn sie sich kurz ausruhen oder von Polizeipatrouillen nach längerem Verweilen aufgescheucht. Ein Mann isst seine Breze vor der Bäckerei in der Sonne stehend. Zwei Frauen halten hinter dem Zebrastreifen ein Abstandsschwätzchen. Mir fällt die fehlende Normalität auf.

Ich bin keine groß Spazierengehende. Draussen bewege ich mich vorwiegend mit dem Rad zu sportlichen Zwecken. Eine innere Anspannung aufgrund der derzeitigen Situation kann ich dennoch nicht leugnen. Wenn ich rausgehe, muss ich mich jedes Mal auf die Umstände feinjustieren. Es ist mir nicht mehr bewusst, dass ich anderen Menschen nicht nahe kommen sollte. Vielleicht handelt es sich hier um einen Verdrängungsmechanismus, vielleicht ist es aber auch nur die einsetzende Gewöhnung. Noch vermisse ich nichts in meinem Alltag. Gearbeitet habe ich schon so lange nicht mehr, dass mir auch das nicht fehlt. Irgendwann habe ich mich daran erinnert, dass ich nun das dritte Mal im Abstand von 6, 7 Jahren krankheitsbedingt für ein paar Monate freigestellt war. Das sind die Monate, in denen ich plötzlich wieder schlafe und auch sonst eine unbekannte Regelmäßigkeit in mein Leben einkehrt. Danach bin ich immer mit viel Dankbarkeit in den Arbeitsalltag zurückgekehrt. Dankbarkeit für die Sorglosigkeit, mit der ich aus- und wieder einsteigen konnte.

Es ist in diesen Tagen nicht alles leicht. Mich plagt eine Sache, die mich schon sehr lange begleitet. Es sind die Auswirkungen einer psychischen Störung, die für viele nicht nachvollziehbar ist. Während nämlich in der Öffentlichkeit langsam eine Sensibilisierung für Depressionen und Angststörungen stattfindet, sind andere Bezeichnungen nur für die geläufig, die damit direkt konfrontiert werden. Ich habe oft gehört, dass sich eine Diagnose auf Betroffene positiv auswirke. Sie sind erleichtert, können ihr Verhalten endlich einordnen und möglicherweise auch etwas dagegen tun. Ich empfinde das anders, fühle mich gebrandmarkt und zu unrecht verurteilt. Es erinnert mich an die Zeit meines Wechsels vom Musikerdasein zum Fliegen. Meine Antwort auf die Frage von Neubekanntschaften, was ich mache, löste in mir immer großes Unbehagen aus. In meinem Kopf argumentierte ich schon gegen Klischees und Vorurteile, noch bevor die Bezeichnung ausgesprochen und ich damit im Denken meines Gegenübers attribuiert war.

Zum Glück gibt es Menschen, mit denen ich darüber sprechen kann - genauer gesagt gibt es einen Menschen, mit dem ich bisher gesprochen habe. Das genügt aber, um mich in der Verwirrung zu sortieren und neu auszurichten. Ich stecke nicht völlig hilflos mittendrin, sondern gehe schon so lange mit den Auswirkungen um, dass ich Handlungsstrategien entwickelt habe. Trotzdem trifft mich die Wucht der Emotionen genauso heftig wie immer. Da gibt es keine andere Strategie als Aushalten, Durchhalten und Abwarten.



Ich kenne den Urheber des Bildes nicht, wünsche mir aber Bären, die nicht nach einer halben Stunde gehen oder nicht erreichbar sind, wenn es ganz schlimm ist. Natürlich muss da nicht immer ein Bär sein, denn Ziel der Übung ist es, alleine aushalten zu können. Die Idee von Bären, denen der Hase keine Angst macht, ist trotzdem schön. Wünsche sind der Antrieb, der uns weitergehen lässt.

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