Sonntag, 14. Juni 2020
It is Familiar to Me
Als nichts mehr ging, als ich tagelang nur noch mit letzter Kraft zwischen Bett und Toilette hin und her schlich, nahm ich all meinen Mut zusammen, buchte eine Bahnfahrkarte, packte einige Kleidungsstücke zusammen und fuhr zu meiner Mutter. Ich weiß nicht, woher ich die Energie nahm, denn das ist kein kleiner Schritt. Das ist ein erheblicher Kraftaufwand, physisch wie psychisch. Ich ahnte, dass es nicht leicht sein würde, denn das Verhältnis zu meiner Mutter ist alles andere als unbelastet. Ich wusste, ich müsste im richtigen Moment schweigen können und aussitzen, mich innerlich an einen unbehelligten Ort zurücklehnen. Und dennoch hatte ich das Bedürfnis, dieses Risiko einzugehen.



Nach der Narkose im Dezember, da war ich froh, dass sie an meinem Bett saß. Ich wachte auf, sprach ein paar Worte und nickte dann wieder ein. Sie wollte gehen, doch ich wünschte mir, dass sie meine Hand hält und bleibt, dass sie einfach nur da ist, während ich zwischen Traum und Wirklichkeit wechselte. Ich wollte etwas, das mir in meinem schutzlosen Zustand vertraut war und das mir die Illusion von Geborgenheit gäbe. Ich wollte meine Mutter. Kinder sehnen sich unbegreiflicherweise immer wieder nach den Eltern, die sie in manchen Fällen schlecht behandelten. Es ist ihre Normalität, die durch Kontinuität Überleben sichert. Dass es auch anders hätte sein können, begreifen sie erst viel später. Die Sehnsucht und eine diffuse Hoffnung auf Geborgenheit bleibt ein Leben lang. Das Unterbewusstsein ist wie ein Gänsekind, das sich kurz nach dem Schlüpfen auf gelbe Gummistiefel eingeschossen hat.

Meine Mutter wird älter. Langsam verliert sie ihre Spontaneität. Alles muss geplant werden, die Ankunft, die Abholung, die Mahlzeiten, die Abfahrt. Sie kommt nur schwer damit klar, dass ich kein Fleisch mehr esse. Eine altersgemäße Gelassenheit kann ich bei ihr nicht beobachten. Im Gegenteil, sie wirkt nervös und gehetzt. Alles muss perfekt sein, sie muss perfekt sein. Das ist anstrengend. Am Telefon fragte ich: "Gehst Du mit mir spazieren?" Sie sagte ja. Mehr konnte ich nicht erwarten. Ich durfte nicht mehr erwarten, denn Erwartungen erzeugen Enttäuschung, von der ich in letzter Zeit zu viel hatte. Ich wollte keinen Ratschlag und keine Erfahrungsberichte über ihre eigene Enttäuschung hören. Also sprach ich nicht über mich, sondern ertrug jeden Tag reaktionslos ihre Ausführungen über die Fehlbarkeit anderer und ihrer eigenen. Ich ließ mich bekochen, saß gemeinsam mit ihr im Garten und folgte den Gummistiefeln.

Es fing schon vor ein paar Wochen an. Plätzlich war da dieser Sumpf aus Angst und Traurigkeit. Angst vor Veränderung und Traurigkeit über Vergangenes. Früher konnte ich es kaum erwarten, dass sich etwas änderte, denn Veränderung ging immer mit der Hoffnung auf Besserung einher. Heute betrachte ich jede Änderung mit Argwohn. Kleinigkeiten ließen in mir gewaltige Wut aufsteigen. Die Nachbarin, die ihre Türe zu laut schließt, die Rücksichtslosigkeit Fremder. Ich reagierte empfindlich auf jegliche Einflüsse von aussen. Gleichzeitig suchte ich im Aussen Ablenkung von der Traurigkeit. Die Angst vor Veränderung entpuppte sich schließlich als Angst vor Vergänglichkeit, die sich mit der Traurigkeit zu einem großen Klumpen verband.

Ich hatte eine Flasche Wodka im Kühlschrank. Die trank ich über die vergangenen Tage. Eine Flasche mag objektiv betrachtet im Hinblick auf Suchtverhalten nichts bedeuten - für mich, die fast keinen Alkohol mehr trinkt, ist es viel. Ich neige zur Sucht. Alkohol, Zigaretten, Essen, Serien, alle Arten von Ablenkung, meine innere Türe steht dafür weit offen. Ich bin nicht gut im Aushalten. Als ich ihn fragte, ob sein Zustand jetzt ohne Drogen besser sei, sagte der Freund, es sei schlimmer, denn das Gedankenkarussell drehe sich zwar gleich schnell aber ohne Alkohol oder andere Ablenkung nehme er es intensiver wahr. Er sagte auch, dass es halt keinen Weg dran vorbei gäbe. Die Gedanken drehten sich schneller und schneller, man glaube, es würde einem schlecht aber aussteigen könne man eben auch nicht und wenn man glaube, es sei nicht mehr auszuhalten und man würde zerreissen, stoppe die Maschinerie und es breite sich große Ruhe aus. Das alles sagte der Freund, der seit einem heftigen Zusammenbruch keinen Tropfen Alkohol und keine Zigarette mehr anrührt. Manchmal liegt er aber tagelang auf der Couch und schaut Dokus.

Das immer schneller drehende Gedankenkarussell und auch die Ruhe von der er sprach, kenne kannte ich. Lange Zeit war ich gut darin, meine Gedanken und Gefühle nicht so wichtig zu nehmen, weil ich wusste, dass das nur die Oberfläche ist. Darunter ist es still. Was ich nicht wusste, war die Tatsache, dass sich diese Fähigkeit verliert, wie sich Muskeln zurückbilden, wenn sie nicht trainiert werden. Statt der Stille spürte ich plötzlich eine unerträgliche Einsamkeit, die auszuhalten noch schlimmer war als zu trinken oder zu schlafen. Obwohl ich Menschen hätte kontaktieren können, wäre es nicht leichter geworden. Es hätte sich falsch angefühlt, mich stellvertretend mit gutmeinenden Bekannten zu treffen. Diese spezielle Leere kann nur mit Vertrautheit befüllt werden und mit einer tiefen, ehrlichen Verbindung von Mensch zu Mensch. Ich brauchte das gewisse Etwas, das nur durch die gelben Gummistiefel gemildert wird.



Jetzt sitze ich ratlos hier und weiß nicht so recht, wo es hingehen soll. Man muss doch irgendwann lernen können, die Gummistiefel in sich selbst zu finden. Das habe ich zumindest mal wo gelesen. Meine eigenen gelben Gummistiefel sein, denen ich folgen kann und die nie fortgehen. Ich glaube, das ist so ein Lebensziel. Alles Erlebte läuft darauf hinaus. Ich glaube auch, dass ich immer woanders Ausschau halten werde, solange ich sie nicht selber trage. Draussen regnet es aber ich gehe erst wieder raus, wenn ich meine eigenen gelben Gummistiefel gefunden habe. Ich fürchte, dafür muss ich erst mal im Keller suchen gehen.

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