Mittwoch, 20. Juli 2022
Riding on a Train
Wer mit den Öffentlichen fährt, erlebt nicht immer Erfreuliches. Vor allem seit Corona und dem 9 Euro Ticket sind die Begegnungen von zweifelhafter Natur - einmal zu nah und zu gefährlich unbedeckt, das andere Mal zu voll. Es gibt allerdings auch Interessantes zu sehen, manchmal auch schöne Begegnungen. So war ich letzte Woche tagsüber am U-Bahnhof unterwegs und konnte ein paar Beobachtungen übere menschliches Verhalten machen - genauer gesagt das psychologische Phänomen der Verhaltensdistribution.

Als ich am Bahnsteig ankomme, fällt mir eine ältere Frau auf, relativ gut gekleidet, Papiertüten renomierter Läden neben sich stehend, sie selbst sitzt auf einer der aus Draht geformten Sesselbänke. Sie hat die Augen geschlossen und sinkt langsam zur Seite. Als sie dabei ihre Nebensitzerin berührt, steht selbige auf und entfernt sich. Daraufhin kippt die ältere Dame ungehindert auf den Sitz neben sich. Die Umstehenden beobachten, schauen weg, manche tuscheln, manche gehen einen Schritt zur Seite, andere scheinen unsicher, wie sie sich verhalten sollen. Auch ich weiß die Situation nicht so recht einzuschätzen. Was vielleicht wie zu viel Alkohol in Kombination mit zu wenig Schlaf aussieht, könnte auch einen anderen Grund haben. Da ich beim Fliegen auf diverse Krankheitsbilder geschult werde, beschließe ich zu handeln. Wenn sich die Dame in der Unterzuckerung befindet, sieht das für Aussenstehende ebenfalls aus wie ein wenig zu tief in's Glas geschaut. Sollte es sich um eine Obdachlose handeln, die halt hier ihren Rausch ausschlafen möchte, wird sie mir das schon sagen. Und auch Obdachlose haben übrigens ein Recht auf Hilfe von ihren Mitmenschen - unterlassene Hilfeleistung ist auch da ein Thema.

Ich nähere mich der Dame, berühre sie am Oberarm, spreche sie laut an. Sie reagiert nicht. Also schüttle ich ein wenig, frage ob alles in Ordnung ist. Jetzt sehen mir alle am Bahnsteig in unmittelbarer Nähe Stehenden interessiert zu. Die Frau fährt plötzlich nach oben, murmelt Unverständliches, schnappt ihre Taschen und steht auf. Wäre sie nicht zu sich gekommen, hätte ich sie im nächsten Schritt in den inneren Oberarm gezwickt, dann nochmal auf der anderen Seite und bei Nichtreagieren die Notfallnummer gerufen. So aber bin ich erleichtert. Die U-Bahn ist noch nicht eingefahren, weshalb sie sich wieder setzt und sofort erneut einschläft. Als die Bahn kommt, wecke ich sie wieder. Sie springt auf, schnappt die Tüten und steigt ein. Eine Station vor mir verlässt sie den Wagon, um es sich in einer ruhigeren Station gemütlich zu machen.

Ich habe keine Ahnung, was der Grund für ihr Verhalten war aber gelernt, keine Mutmaßungen oder gar Diagnosen zu stellen. Denn genau das ist der Beginn allen Übels. Die Menschen beobachten und beurteilen. Wenn bereits viele andere herumstehen und keiner eingreift, sinkt die Wahrscheinlichkeit, dass eine neu hinzugekommene Person etwas tut. Im Gegenteil ist die Wahrscheinlichkeit eines Eingreifens höher, je weniger Personen involviert sind. Die Verantwortung verteilt sich auf alle Anwesenden - so in einem sozialpsychologischen Experiment einst nachgewiesen. Ich möchte dann lieber doch nicht das tun, was mein Sozialtrieb mir nahelegt, sondern mit klarem Verstand und ohne Ausreden helfen.

Als ich vor zwei Tagen meinen Koffer am Flughafen wieder in Empfang nehmen durfte, fuhr ich ebenfalls mit der S-Bahn heim. Mir gegenüber setzte sich eine etwas jüngere Frau mit einem Koffer und einem Geigenkasten. Mein Interesse war geweckt. Nur wie spricht man jemanden an, der Ohrstöpsel trägt, während ich eine Maske aufhabe? Ich hab's bewerkstelligt, woraus sich ein sehr schönes Gespräch zwischen einer internationalen Berufsmusikerin und mir entspann. Auch hier wieder war mir die Aufmerksamkeit aller Umsitzenden sicher, obwohl der Austausch auf Englisch stattfand. Ich erzählte ein wenig aus meiner beruflichen Vergangenheit, sie aus ihrer Gegenwart, doch so wirklich viel wollte sie nicht von sich preisgeben. Da bohre ich auch nicht nach. Dass sie wissen wollte, ob ich liiert sei oder gar verheiratet, ob ich alleine wohne und andere soziale Umstände, zähle ich zu kulturellen Unterschieden. Ein Nordamerikaner fragt beispielsweise ohne mit der Wimper zu zucken beim ersten Treffen nach dem Einkommen, während die Unterhaltung über Geld bei uns eher unter vorgehaltener Hand geführt wird. Später habe ich ein Bild von ihr und die dazugehörige Biographie im Netz gefunden. Sie kam an diesem Tag zwar aus London und spielt in einem schwedischen Ensemble, ist selbst aber Finnin. Vielleicht spricht man in Finnland schnell über soziale Verhältnisse, weil bei der langen Dunkelperiode keiner alleine sein möchte. Ich werde es nie erfahren, denn auch die Konzertkarte habe ich abgelehnt. Eines Tages sieht man sich bestimmt wieder. Die Welt ist ja dieses Dorf, von dem alle sprechen - unter Fliegenden noch mehr als für die sogenannten Fußgänger.

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