Mittwoch, 6. Mai 2020
Tageblog 6.5.2020 - volle Kraft zurück
Wenn der Tag mit frühem Aufstehen, sich zum Sport fertig machen, Tasse Tee und dann wieder in's Bett gehen beginnt, dann weiß ich auch nicht. Nicht nur die ganze Energie, auch die Freude, die Hoffnung, der Mut, der Tatendrang, alles weg. Meine Vermutung verstärkt sich, dass es noch sehr lange so gehen wird - mindestens bis nach der Rente. Meine selbstgelegten Termine und Aufgaben dünnen langsam aus. Der Rehasport hat mich bislang noch ganz gut bei der Stange gehalten, denn der bedeutet frühes Aufstehen, dann strammes Radeln zum Rehazentrum, dort anderthalb Stunden Übungen inklusive Balance und Dehnen, danach zwanzig Minuten Heimradeln. Der Rest des Tages hielt ein Gefühl von etwas getan zu haben an, obwohl danach nicht mehr viel passierte. Jetzt habe ich nur noch drei Termine bis das bewilligte Kontingent erschöpft ist. Gerade fühle ich mich aber alles andere als diszipliniert und habe große Mühe, mich im heimischen Rahmen bei der Stange zu halten.

Noch nie sehnte ich mich so sehr nach externen Aufgaben wie derzeit. Ich vermisse meinen Job, unterwegs sein, in fremde Kulturen eintauchen, der Austausch mit KollegInnen und Passagieren, die Unregelmäßigkeit, Tag- und Nachtgleiche - also der verwirrte Zustand im Körper, wenn ich ihm durch Tätigkeit oder Sonnenlicht Tag vorgaukle, innerlich aber alle Uhren auf Nacht stehen. Ich vermisse auch anderes, beispielsweise echte Begegnungen mit Menschen, Begegnungen, die nicht nur die Oberfläche ankratzen, sondern ein Austausch mit Einblick in die nicht so schönen Ecken drunter. Doch hier beobachte ich einen seltsamen Widerspruch. Je mehr ich Begegnungen vermisse, umso stärker ziehe ich mich zurück.

Meinen Alltag zu beschreiben braucht nur wenige Worte: ausgedünnt, langsam und zurückgezogen. Ich beobachte, wie mich Menschen schnell aggressiv werden lassen, wie ich sie vermeide, indem ich nur sehr früh einkaufen gehe oder draussen Sport treibe. Es gibt Freunde, die ich kontaktieren könnte. Gleichzeitig fällt es mir immer schwerer, dies in die Tat umzusetzen. Und dann ist da die Erinnerung an eine sehr dunkle und schwierige Zeit, die Panik in mir hochsteigen lässt. Ich erahne dieses Gespenst vor der Türe, das sich durch den offenen Spalt drängt. Das Dumme daran ist, die Türe befindet sich in mir zwischen Bewusstsein und Unterbewusstem. Sie steht vor allem im Schlaf und frühmorgens schon mal weit offen. Am Tag sperre ich sie ab und schaue nur durch das Guckloch wenn es wieder mal klingelt. Was soll ich also den Menschen erzählen, wenn sie mich fragen. Von Geistern, die hinter verschlossener Türe ihr Unwesen treiben? Nein, mir geht es natürlich gut, ich habe ja alles, was ich brauche. Nur einen Tagesablauf, den habe ich nicht - eher einen Zeittotlauf.

Der Widerspruch beginnt seltsamerweise bei den schönen Erlebnissen. Gestern beispielsweise habe ich mit einer Freundin, die professionelle Pianistin ist, eine weit zurückliegende Erinnerung aufgefrischt. Wir spielten die Prokoffiew Sonate, erst mal nur zum Antesten und sehen, woran jeder für sich noch arbeiten muss. Nach zwei, drei Wochen regelmäßigem Üben war das Gefühl des Fliegens beim Spielen wieder da, gleichzeitig aber auch die Angst vor dem Absturz. Ich war nie der intrinsische Typ, hatte zwar Spaß am Musizieren, das ziellose Üben alleine erzeugte aber in mir keine Freude. So ist das mit vielen schönen Erlebnissen, bei denen mir hinterher das Fehlen so viel schmerzlicher bewusst wird, als es mir vorher ist.

Ein schönes Erlebnis ist nur so schön, weil es nicht ständig da ist, sagte meine Oma mal zu mir. Darüber musste ich nachdenken und begriff, wie Süchte entstehen. Meine Mutter hingegen war Meisterin im Vermeiden, denn wer sich freut, kann auch enttäuscht werden. Ich fand das keine akzeptable Lösung. Etwas zwischen überhaupt nicht zulassen und ständig suchen musste doch möglich sein. In der Auseinandersetzung mit diesen Gefühlen stieß ich auf einen Ansatz, der aus dem Buddhistischen stammt. Man lässt die Gefühle zu, vermeidet nichts - auch nicht durch Ablenkung - und beobachtet sie, ohne sich zu sehr daran aufzuarbeiten. Der Vergleich von Gefühlen mit Wolken und Wetter gefiel mir. Wir können nur an unserer Einstellung dazu etwas ändern, was aber den Wolken und dem Wetter ziemlich egal ist. Also habe ich mir die richtige Kleidung für meine Seele besorgt, um bei Regen nicht allzu nass zu werden. Schutzkleidung. Da fängt der Vergleich zwischen Einstellung und Kleidung an zu schwächeln, denn irgendwann ist auch die beste Regenjacke durch.

Dieses lähmende Gefühl geht inzwischen bis auf die Knochen, schwer aushaltbar und nicht zu verändern. Jetzt hilft auch kein gelegentliches Telefonat oder andere Ablenkung mehr. Es ist einfach da, färbt auf alles ab was ich mache und scheint so endlos wie für ein Kind die Zeit bis zu den nächsten Ferien. Gespräche verpuffen, die Sehnsucht bleibt, wird groß, übermächtig. Manchmal weine ich, manchmal schließe ich die Augen und stelle mir eine Begebenheit vor, in der ich mich sicher und geborgen fühle. Das funktioniert ganz gut. Dann schlafe ich ein. Wenn ich wach werde, ist entweder der Tag noch nicht vorbei oder hat noch nicht begonnen. In diesen Momenten bezweifle ich, dass es jemals anders sein wird. Im Grunde war es immer so, nur habe ich mich besser ablenken können. So verbringe ich ganze Tage ungeduscht, zwischen Küche und Bett. Irgendwann werde ich zu essen aufhören - einkaufen, anrichten, alles zu viel Umstand.

Vor zwei Wochen begannen ein Internetfreund und ich eine Übung. Jeder schreibt morgens drei vorherrschende Gefühle auf, unkommentiert und ohne Beurteilung. Ich hoffte auf eine Regelmäßigkeit, an der ich mich festhalten kann. Manchmal bin ich überrascht von einem positiven Gefühl, bezweifle aber sofort seine Nachhaltigkeit. So entdeckte ich, dass Gefühle im Grunde nicht so vielfältig sind, wie immer angenommen. Nur die Interpretation ist es. Der Körper schüttet Adrenalin in gewissen Dosen aus und wir empfinden dabei ein Unwohlsein, mal stärker, mal schwächer. Der Kopf findet dafür in der Erinnerung sofort eine Ähnlichkeit und attribuiert. Eigentlich bin ich also gar nicht hoffnungsvoll oder verzweifelt, sondern nur mal mehr und mal weniger auf der Flucht. Kürzlich las ich von einem vierten Zustand neben Fight, Flight und Freeze. Er heißt Fawn, übersetzt bedeutet das sowas wie herumschwänzeln oder hofieren, auch katzbuckeln. Ich finde mich dabei wieder, meine dunklen Gedanken zu hofieren, damit sie mich nicht wie ein Raubtier attackieren. Auch ein Ablenkungsmanöver, genau wie zu arbeiten oder telefonieren oder essen oder schlafen oder alles andere, das im Grunde nur vergehende Zeit erträglich werden lassen soll.

Irgendwo habe ich diesen Titel gelesen: Das Leben ist ein langer, ruhiger Fluss. Damals befürchtete ich, die Aussage träfe zu. Heute empfinde ich es als anstrengend, den Fluss am Laufen zu halten, denn ohne mein Zutun bewegt sich die Kloake nicht. Das gilt nicht nur für derzeitige Krisenzeiten, in denen alle glauben, wenn nur wieder alles zur früheren Betriebsamkeit zurückfände, würde es ihnen besser gehen. Ich befürchte heute, das ist anhaltend allgemeingültig. Und so erschrecke ich vor jedem Anflug von Traurigkeit oder Überforderung, denn das könnte bedeuten, ich werde wieder auf Null zurückkatapultiert an einen Punkt, als alles noch viel aussichtsloser war. Lösung habe ich dafür auch keine. Eines ist jedoch sicher: morgen gehe ich nochmal zum Rehasport, ganz früh, ganz aufgedreht, und danach genieße ich die Genugtuung, wenigstens ein bisschen was geleistet zu haben.

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Ach jeee.....
Dieser Zustand, ein Hängen zwischen den Welten, ist nicht gut auszuhalten.
Aber alles kommt wieder, glaube mir. Es schläft nur. Man muss jetzt halt aushalten, warten, in den Pflanzenmodus wechseln. Nur vor sich hin Stoffwechsel betreiben, ohne Nachdenken, ohne große Gefühle, einfach Baum sein. Wenn alles vorbei ist, kommt schon alles wieder. Ich habe mehrfach die Erfahrung gemacht, und die hilft mir sehr. Der nächste Sommer, der ist Deiner.

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Ich hoffe es, Croco. Sehr.

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Das Leben ist ein langer, ruhiger Fluss war ein Filmtitel Ende der 80er.
Französische "Komödie" mit ziemlich vielen Unter- und Zwischentönen.

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Das ist eine ausgezeichnete Beschreibung solch einer Phase - ich bilde mir ein, sie nachvollziehen zu können. In meiner Erinnerung schwirrte mir in einer ähnlichen Lage der Ausdruck der "unerträglichen Leichtigkeit des Seins" im Kopf herum, eine leere Leichtigkeit, die lähmen und fesseln kann.

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Unerträgliche Leichtigkeit
Damals in den Achzigern habe ich das Buch verschlungen, wohl auch in der Hoffnung auf Antworten für die Resonanz, die der Titel in Bezug auf mein eigenes Dasein als junger Mensch hervorrief. Auf Wikipedia heißt es, Kundera kreise um das Thema der ewigen Wiederkehr (Nietzsche). Auch das hat mich damals verzweifeln lassen, weil es bedeutete, dass sich im Grunde nichts ändert.

Mich erstaunt, wie sehr ich in diesen Strudel wieder gezogen wurde, obwohl ich davor so viel Stabilität gewonnen hatte. Diese Sicherheit war halt trügerisch.

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