Sonntag, 12. Juli 2020
Dawning


Meine innere und äussere Recherche ergab: ich bin vollkommen normal. Das mag überraschend klingen, da meine Lebensweise, Biographie und die ein oder andere Art zu reagieren nicht dem entsprechen, was hinlänglich als Norm bezeichnet wird. Was ich damit meine, ist die Tatsache, dass mein Zustand der Traurigkeit, der Ratlosigkeit und der Suche eine Folge von allgemeiner Ratlosigkeit, von Isolation und gesellschaftlichen Einschränkungen ist. Weit klügere Menschen als ich haben die Konsequenz stetiger Individualisierung und Virtualisierung und die damit einhergehende innere Verwüstung bereits durchdacht. Mir fehlte die Verknüpfung zum Gefühl. Man nennt es übrigens Erfahrung, dieses Zuordnen von Wissen zu Gefühlen. Wer Erlerntes nur theoretisch abspeichert, sammelt Wissen, wer das Wissen mit Emotionen verknüpft, sammelt Erfahrung. Schließlich ermöglicht Erleben auch Empathie.

Was mir also konkret fehlt, ist das Gefühl von sozialer Zugehörigkeit. Ich fühle mich, als flöge ich durch luftleeren Raum. Gelegentlich überfällt mich Panik. Diese Attacken werden durch Verlustangst ausgelöst. Noch vor zwei Wochen schrieb ich das:

Alles wiederholt sich. Jeder Tag eine einzige Wiederholung dessen, was gestern, vorgestern oder vor Jahren war. Ich spüre, wie ich mir unmerklich entgleite. Da ist kein Kampfgeist mehr, keine Energie, mich gegen das zu stellen, was ich nicht ändern kann. Festhalten möchte ich mich, doch mein Griff geht in's Leere. Die Rituale werden zur leeren Hülle.

Insgesamt erlebe ich das, was Viele erst im letzten Lebensabschnitt kennenlernen, wenn die Erwerbstätigkeit und familiäre Aufgaben wegfallen, wenn große Lebensziele nicht mehr zu erwarten und sie völlig auf sich selbst zurückgeworfen sind, wenn Ablenkungs- oder Verdrängungsmechanismen nicht mehr greifen. Diese Mechanismen griffen übrigens noch nie besonders gut bei mir, weil ich sie für gewöhnlich zu schnell enttarne. Wiederholung ist an sich nichts Schlechtes, ihre Schönheit liegt darin, dass wir jedes Mal besser werden können. Wenn aber nach Abzug von allem Sinnstiftenden nichts mehr bleibt als sich wiederholende Tätigkeiten wie aufstehen, waschen, essen, schlafen, nützen auch die schönen Sprüche nicht. Dann macht über kurz oder lang auch das Aufstehen, waschen, essen und schlafen keinen Sinn mehr. Im Grunde wiederholt sich Lebendes nicht. Der Kreislauf vom Wachsen und Vergehen ist nur mikroskopisch wahrnehmbar. Vieles, wie das Älterwerden beispielsweise, wird erst in der Retrospektive erkennbar. Anderes reißt uns mit einem Knall aus der gewohnten Eintönigkeit. Es geht also darum, die mit Veränderung einhergehende Unsicherheit - im Umkehrschluss den Verlust einer Sicherheitsillusion - auszuhalten und anzunehmen.

Soweit ist alles wie immer. Seit Virus unseren Alltag auf den Kopf stellt, funktioniert aber nichts mehr wie früher. Während die Einen noch an altbewährten Strategien festhalten, zerfällt bei Anderen die letzte Säule ihres Daseins: das Netz reziproker Beziehungen.

Ich habe lange darüber nachgedacht, was mir besonders fehlt. Aufgrund meiner beruflichen Funktion bin ich in engem Austausch mit Passagieren und Kollegen. Das sind oft nur belanglose Gespräche, die so jedoch nie in einem Supermarkt stattfinden würden, ohne dass mich seltsame Blicke träfen. Das ist eine Form von Fürsorge für Fremde, die auf der Straße als übergriffig deklariert würde. Das ist das füreinander Einstehen im Kollegenteam, wie es sonst nur in einer Notlage erlebbar wäre. Die Frage, wieso uns das Virus nicht solidarisiert, ist schnell beantwortet: erstens ist die Bedrohung nicht sichtbar und zweitens unterbindet sie menschliche Nähe. Während sich Menschen bei anderen Bedrohungen instinktiv zusammenrotten, ist genau das jetzt die Gefahr. Kurz, das Virus stellt den Überlebensinstinkt einmal auf den Kopf. Wir können bei räumlicher Nähe nicht überleben, ohne menschliche Nähe werden wir aber seelisch sterben.

Eigentlich ist es nämlich die seelische Nähe, die unser Überleben instinktiv sichert. Sich öffnen und verletzbar machen geht oft nur noch in engen Zweierbeziehungen oder in familiärer Konstellation. Eine tiefe zwischenmenschliche Beziehung setzt eine tiefe, ehrliche Beziehung zu sich selbst voraus. Wer seine dunklen Seiten fürchtet, wird sie vor sich verstecken und sie im Gegenüber auch nicht sehen wollen. An Stelle von berührenden Begegnungen wuchs über die Jahre gefilterte Selbstdarstellung. So füttern wir uns gegenseitig mit Zucker statt Brot und wundern uns, dass wir trotzdem hungrig bleiben. Ich bewundere Leute, die über ihre Schwächen reden und über ihre tägliche Anstrengung, Leute, die sich für ihre Ehrlichkeit nicht schämen. Räumliche Nähe kann über vieles hinwegtäuschen - ihr jetziges Fehlen offenbart die eigentliche Sehnsucht nach tiefer Verbindung umso stärker.

Dass uns die Zwangspause zum Umdenken oder gar zu persönlicher Entwicklung anregen würde, die uns einander näher bringt, wird wohl Wunschdenken bleiben. So verstecken wir uns noch mehr hinter verschlossenen Türen, obwohl wir nach menschlichen Begegnungen dürsten. Die Parties, das Aufbegehren gegen Vorsichtsmaßnahmen sind ein verzweifeltes Festhalten an Bekanntem. Noch wird sich gegen die Botschaft gesträubt, dass eine Veränderung in der inneren Einstellung des Einzelnen beginnt und nach draussen rebelliert. Es ist auch viel einfacher, Fehlverhalten beim Nächsten anzuprangern als bei sich selbst. Noch funktioniert der Mechanismus der kognitiven Dissonanz hervorragend. Möglicherweise sind die düsteren Filme eines einzelnen Überlebenden in einer verwüsteten Umgebung nicht Utopie, sondern einzig mögliche Konsequenz. Denn so lange noch irgendetwas funktioniert, machen wir weiter mit der inneren wie äusseren Zerstörung.

Was mich rettet, sind die wenigen Gelegenheiten, bei denen ich mich von anderen emotional berühren lasse oder sie berühre, sind die Begegnungen ohne Seelenmaske, bei denen sich zwei Menschen vorurteilslos zuhören, ohne Scham in die gemeinsamen Abgründe schauen oder sich an der Existenz des Gegenüber erfreuen. Ich hoffe sehr, es wird immer mehr Menschen geben, die ähnlich empfinden. Denn nur so wird alles erträglicher.

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Ja. Leider.

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