Montag, 24. August 2020
Cry Me a River
Vor einigen Tagen stieß ich auf diesen Artikel, der mich aus mehreren Gründen ansprach. Es geht darin um Musikstudierende, die wegen der allgemeinen Situation vermehrt im Unterricht weinen:
"Für die Musikstudenten ist der Zustand der Isolation mehr als nur unangenehm: Sie brauchen den sozialen Kontakt, um gemeinsam musizieren zu können. Und sie brauchen ein Publikum, das ihnen zuhört."

Zunächst erinnerte mich diese Zeilen an mein eigenes Studium. Die Arbeit, das Erlernen der Technik, geschieht natürlich alleine - das Studium besteht hauptsächlich daraus. Doch worunter ich am meisten gelitten habe, waren schon damals die vielen einsamen Stunden ohne Austausch, die Harmonien im Kopf zur Melodie ergänzend. Die wenigen Proben im Zusammenspiel halfen da nicht drüber weg, obwohl sie natürlich einen Höhepunkt und beliebte Abwechslung zum tristen Üben darstellten. Wenn Liebhaber von der Schönheit des Musikmachens schwärmen, ist die Vorstellung immer auf Zusammenspiel bezogen. Dass Profis die Proben so effizient und kurz wie möglich halten, ist ausserhalb ihres Verständnisses. Denn während für einen Profi die Probe nur zur Feinabstimmung im Hinblick auf die Aufführung dient, möchte der Laie so lange wie möglich mit anderen zusammen spielen. Meist steht dahinter auch kein Aufführungsdatum als Ziel, sondern das Zusammentreffen selbst.

Der zweite Aspekt des Artikels bewegt mich noch mehr, denn obig zitierter Satz betrifft nicht nur Musikschaffende, sondern eigentlich alle. Ersetzt man Musikstudenten durch Menschen und musizieren mit existieren, ist es die Zusammenfassung dessen, was ich derzeit erlebe. Mein ganzes Leben war bisher um Kommunikation und Verbindung zu anderen angesiedelt. Nun ist meine Arbeit weggebrochen, meine Freizeittätigkeiten liegen brach und der tägliche Austausch reduziert sich auf die wenigen Worte, die ich mit der Kassiererin im Supermarkt wechsle. Ich sitze wochenlang alleine in meiner Wohnung und weiß nicht, wie ich daran etwas ändern könnte. Telefonate können das nicht auffangen. Der einzige Unterschied zur Artikelüberschrift ist, dass ich nicht weine. Innerlich fühle ich mich aber sehr schwach, wenn nicht gar weinerlich. Das ist mir einerseits peinlich, denn Jammern war nie meine Absicht, und andererseits halte ich mit der wenigen Restenergie meine Fahnen hoch, versuche mich abzulenken oder mir Tätigkeiten auszudenken und bewahre Haltung. Das hat mich die Gesellschaft gelehrt, denn nur der Produktive bekommt Anerkennung.

Ich denke viel darüber nach, was in meinem Leben falsch gelaufen ist, über die Abzweigungen und meine generelle Einstellung, über das Älterwerden und mein Ringen mit dessen Auswirkungen. Mein Erleben beziehe ich rein auf meine Person, wohl weil ich nur wenig von anderen mitbekomme, wie sie all die Einschränkungen empfinden - der Austausch fehlt. Mich wundert, nicht mehr offene Zustandsbeschreibungen in Blogs zu finden. Aber auch hier ist man entweder zu beschäftigt oder zu bedeckt, um sich damit auseinanderzusetzen. Dabei würde genau das helfen. Die Erkenntnis, dass es anderen ähnlich geht, gäbe ein Gefühl von Gemeinschaft. Stattdessen sehe ich im Vergleich nur, was andere scheinbar haben das mir fehlt. Ich wünschte, die Pandemie brächte eine Veränderung in der inneren Auseinandersetzung mit sich und anderen. Von Gemeinsamkeit und Miteinander wird geredet, wenn es um deren Bekämpfung geht. Der Feind sitzt scheinbar draussen, doch was eigentlich fehlt, ist die Ehrlichkeit, Verletzbarkeit und Menschlichkeit, die das Miteinander erst wirklich werden lässt. Wir funktionieren nämlich als soziale Wesen nur in Beziehung mit anderen.

Lösungsvorschläge habe ich keine, nicht mal eine Pointe ausser der, dass ich nicht weine. Dabei würde ich es gerne mit jemandem, der nicht urteilt, sondern mitfühlt. Miteinander weinen - wörtlich oder metaphorisch - ist nämlich die höchste Form von Miteinander.

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Allein weinen ...
... muss nicht sein.
Radle raus in die westliche Vorstadt, ins Obstgärtchen oder in den Wintergarten.
H.s freuen sich.

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Das Gefühl von Einsamkeit habe ich viel mehr in Gesellschaft empfunden, wenn Gruppen und Paare um mich waren, und gleichzeitig jemand im Raum, mit dem ich gerne Nähe gehabt hätte, was aber aus verschiedenen Gründen dann nicht der Fall war. Da ich mich ohnehin überwiegend in meinen eigenen Räumen aufhalte und auch gerne mit Dingen beschäftige, die ein Austausch mit schöpferischen Kräften sind, spielen die Corona-Beschränkungen keine große Rolle in meinem Leben. Am ehesten fehlen mir ab und zu Livekonzerte und Tanzen gehen. Aber das wird ja wieder geschehen.

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...Mich wundert, nicht mehr offene Zustandsbeschreibungen in Blogs zu finden. Aber auch hier ist man entweder zu beschäftigt oder zu bedeckt, um sich damit auseinanderzusetzen....

Ja und Nein. Ich habe darüber geschrieben, weil ich ja auch in einer Situation stecke in der mein Beruf sehr wenig bis gar nicht gefragt ist. Und über die wenigen spärlichen Aufträge reißen sich alle drum, wie die Wölfe um ein Stück Fleisch.
Was mir zu einem Moment sehr geholfen hat war ein Filmszene. Ähnlich wie in unserer Situation mit einem Ausnahmezustand der so schnell nicht besser wird, meinte ein kleines Mädchen, dass sie wieder leben wolle, dass der Zustand in dem steckten nun mal so ist, und ihn nicht ändern kann.
Als mir das bewusst wurde, konnte ich endlich wieder atmen.

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Joel
ich hab's bei Dir gelesen, dass die Aufträge wegbrechen und es tut mir sehr leid für Dich. Allerdings liest sich der Alltag noch einigermaßen unterhaltsam bei Dir, was nur meinen Eindruck wiedergibt und natürlich nicht der inneren Haltung entsprechen muss.

Auch ich hab's mir auf die Fahne geschrieben, mich nur mit dem zu beschäftigen, das ich beeinflussen kann. Das hilft schon.

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Es geht mir ähnlich
wobei ich meinen Job - ich will das nicht mehr Beruf nennen - ohne größere Probleme im Home Office ausüben kann. Was ich bemerke: ein Wegbrechen der Freundschaftsbeziehungen. Die Freund_innen, die auf E-Mails nicht reagieren, vielleicht, weil sie gerade selbst zu viel mit sich zu tun haben.

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