Donnerstag, 23. März 2006
Infinity
Als Kind stand ich stundenlang im Schlafzimmer vor der Kommode mit dem dreiteiligen Spiegel. Die Seitenteile des Spiegels waren verstellbar und ich stellte sie so, dass sie sich gegenseitig spiegelten. Sah man dann in eines der Seitenteile, blickte man in ein endloses Tunnel. Ich wusste, das was ich da sah, war Unendlichkeit und ich der einzige Mensch, der in der Lage war, sie sichtbar zu machen. Selbst heute noch stehe ich fasziniert vor dreiteiligen Aliberts, die in Badezimmern von Bekannten hängen. Manch einer mag sich fragen, was ich da drin so lange treibe. Nein, ich schnüffle nicht in Schränken, ich muss sie nur öffnen, um die Spiegel zu positionieren. Manchmal betrachte ich darin auch mein Gesicht. Ein normales Spiegelbild ist seitenverkehrt. Erst die zweite Spiegelung zeigt mir mein Äußeres so, wie auch andere mich sehen. Dabei ist eine – soweit wie möglich – objektive Betrachtung sehr wichtig. Ich versuche mich so anzuschauen, als stünde ich einer Fremden gegenüber. Vielleicht wird es mir eines Tages gelingen, ohne Wertung zu sehen.

Was ist daran so erstrebenswert? Nun, zunächst einmal ist Wertung durchaus positiv (schon wieder eine Wertung), denn sie hilft dem heranwachsenden Wesen, Erfahrungen zu speichern und sie als gefährlich oder zuträglich einzustufen. Jede neue Erfahrung gelangt erst einmal in eine Art Zwischenspeicher, bis die Suchfunktion eine ähnliche Datei gefunden hat und die neue Information dann dorthin verschiebt. Manchmal geschieht dies aber auch fehlerhaft. Dann verknüpfen sich Ereignisse, die im Grunde nichts miteinander zu tun haben. Im Laufe der Zeit verselbständigt sich dieses System. Wir sind fortan nicht mehr in der Lage, wertfrei zu denken, so sehr sich der ein oder andere auch anstrengen mag. Ein Sonnenuntergang, eine Blume, ein Bild und schwupps, schon taucht der Gedanke „wie schön“ auf. Anstatt seine Umgebung so zu betrachten, wie sie ist, katalogisiert der Mensch permanent und ununterbrochen. Dabei sind die Dinge nicht schön oder hässlich, langweilig oder spannend, richtig oder falsch. Sie sind einfach, wie sie sind. Das zu sehen haben wir im Laufe der Zeit verlernt.

Und es gibt noch einen Aspekt der wertungsfreien Wahrnehmung. Hierzu muss ich ein wenig ausholen: Wissen Sie, was ein Koan ist?
Hemdsärmelig erklärt handelt es sich um einen Sinnspruch, der in sich keinen Sinn ergibt. Diese Sätze werden von buddhistischen Meistern an ihre Schüler verteilt. Der Schüler ist angehalten, sobald er den wahren Sinn darin begriffen hat, dem Lehrmeister davon zu berichten. Der Witz an der Sache ist, dass der Schüler nun Tag und Nacht nach einer möglichst intelligenten Wahrheit darin sucht, doch so sehr er denkt und interpretiert, er wird vom Lehrer immer wieder eines Besseren belehrt. Oder er bekommt ein neues Koan, das ihm wiederum etliche Nächte Schlaf raubt. Was ist nun der Knackpunkt? Ganz einfach: das Denken – und damit jegliche Rationalität an sich – hebelt sich selbst aus. Denn erst wenn der Kopf still ist, kann der Schüler offen für eine neue Art der Wahrnehmung werden. Als Vergleiche aus unserer westlichen Welt fiele mir der Rückkoppelungseffekt in einem Lautsprecher-Mikrofon-System ein. Oder ein Computer – wobei dieser Bereich nicht zu meinen Kompetenzen zählt – durch eine unendliche Rechenaufgabe so in Beschlag genommen, dass kein Speicherplatz mehr für andere Aufgaben übrig ist (14.3. ist Tag des Pi, Herr wuerg kann das beweisen).

Die Frage, die ich mir nun stelle lautet: wie sieht dieser Overkill aus, wie fühlt er sich an? Ist dieser Punkt, an dem Denken kollabiert ähnlich dem, was im Volksmund als überschnappen bezeichnet wird? Beginnt dort der Wahnsinn, wo Denken endet?
Ich glaube, ganz so schlimm ist es nicht aber ein wenig Angst hätte ich schon. Manches Mal ist jedoch die Neugier stärker.

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Haben Sie gestern etwa auch nach Harald Schmidt den zweiten Teil der Reihe über das Gehirn gesehen, in dem erneut die erstaunlichen Leistungen der Savants gezeigt wurden, die die Welt zumindest in dem sie interessierenden Ausschnitt so wahrnehmen wie sie angeblich ist? Wenn das von Vorteil wäre, dann hätte die Natur uns alle so ausgestattet. Es nützt nichts, eine Ansicht von Rom detailsgenau, unverfälscht und ohne Wertung aus dem Gedächtnis malen zu können, wenn man ebenso wertfrei auf den Schienen stehen bleibt, obwohl der Zug kommt. Überlebt haben offensichtlich Menschen, die das meiste sofort vergessen und den Rest bewerten, wie falsch ihr Urteil auch immer sei.

So weiß ich nicht, ob ein Savant wie ich darüber nachdenken kann oder will, ob sein einfaches oder doppeltes Spiegelbild eher den Blick eines Fremden auf uns wiedergibt, zumal sie sich kaum für andere Menschen interessieren. Für mich ist die Antwort klar: Das einfache ist das richtige, denn die Vertrautheit mit dem Bild ist wichtiger als die Seitenrichtigkeit, wenn man nicht gerade einen Schriftzug auf der Stirn trägt. Eigentlich weiß es jeder: Auf Fotografien sehen alle gut, zumindest normal aus, nur man selbst irgendwie komisch.

Wo ich aber gerade bei den Spiegeln bin, noch eine interessante Frage: Warum vertauscht der Spiegel links und rechts, aber nicht oben und unten?

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Nein, Herr wuerg, einen Fernseher habe ich nicht und auch Bücher lese ich sehr wenig zu diesem Thema. Ich denke einfach ab und an laut vor mich hin.
Ihr evolutionäres Gedankenkonstrukt birgt einen kleinen Fehler: es zielt auf die Vergangenheit ab. Und der Mensch geht meist davon aus, dass sich die Vergangenheit wiederholen wird. Wer von uns ist - ausser sehr theoretisch - in der Lage, sich vorzustellen, dass morgen alles komplett anders sein würde (Unfälle und andere Katastrophen)? Meist baut das menschliche Gehirn sein Bild aus vergangenen Erfahrungen zusammen. Und es gab immer wieder Mutationen, die sich erstaunlicherweise durchsetzten. Sonst stünden wir heute noch vor dem Eingang unserer Höhle (wenn wir auch nicht ganz so weit davon entfernt sind). Ich denke nicht, dass das Einfache das Richtige ist (zwei Wertungen in einem Satz - wow). Das macht vielmehr unsere Faulheit. Vielmehr glaube ich, die wirkliche Weisheit - und damit Einfachheit - erlangt nur der, der durch alle Wirrungen ging. Weigert er sich, bleibt er für immer das naive Kind, erlangt aber nie Weisheit. Der "reine Tor" ist eine Kunstfigur, die den Widerspruch in sich trägt, doch vielleicht trifft es das, was ich meine.

Warum vertauscht der Spiegel nicht oben und unten?
Darüber habe ich noch nie nachgedacht.

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einen wunderschönen...
Zusammen...

Mal ganz kurz zum Thema Spiegel, der Spiegel vertauscht nicht Links und Rechts, sondern vorne und hinten und der Spiegel vertauscht sehr wohl oben und unten...man lege dafür den Spiegel auf dem Boden. Wer es Wissenschaftlich haben möchte findet dazu jede menge im Internet.

Diese Art des Laut Denkes habe ich auch ab und zu mal und bis vor geraumer Zeit auch schriftlich festgehalten. Nein, einen Blog habe ich noch nicht Frau Klugscheisser, weil weder zum Schreiben noch zum Blog erstellen und Pflegen richtig Zeit da ist. Aber eines Tages sicher, wenn Sie mögen schicke ich Ihnen ein paar Schriftstücke per Email zu.
Zum eigentlichen Thema kann ich eben nix mehr sagen weil irgendwie bin ich jetzt gerad völlig durch,das passiert wohl auch wenn man darüber zuviel nachdenkt was man eigentlich schreiben möchte. Naja mach ich´s später...Ade Merci

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Wenn die Zukunft völlig anders wäre als die Verangenheit oder zwei Meter weiter andere Naturgesetze gelten würden, dann gäbe es uns gewiß nicht und wir könnten auch nicht die Frage stellen, warum die Welt zumindest in für uns langen Zeitspannen und großen räumlichen Entfernungen die gleiche ist.

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Richtig, Herr wuerg. Es gibt Konstanten, ohne die Bisheriges nicht so wäre, wie es ist.
Ich nehme mal ein Beispiel für das, was ich meine:
wenn sie erwarten, ihr Gesprächspartner würde so oder so auf ihre Äusserung reagieren, werden Sie unbewußt Signale senden oder bewußt Worte wählen, die genau die erwartete Reaktion beim Hörer hervorrufen. Dann sind Sie bestätigt, obwohl es nichts anderes als eine platte sich selbst erfüllende Prophezeiung war. Und was im Kleinen funktioniert, geschieht auch im Großen. Jetzt ist es aber in der Naturwissenschaft so, dass dennoch ab und an Großes geschieht. Man mag über Ursachen streiten. Doch die Meilensteine sind es, über die es zu berichten und nachzudenken lohnt. Ist in der Geschichtsschreibung auch nicht anders.

Und es kann sein, dass ich mich ab und an zwischen meinen Gedankenfäden furchtbar verheddere.

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Es drängt mich, zu einigen Punkten doch noch etwas zu sagen. Ich will es ungeordnet tun, besser: In der Reihefolge ihres Auftretens hier.

Weder ein Koan, noch "alle Kreter sind Lügner" oder "Haben sie aufgehört, ihre Frau zu schlagen?" können wirklich irritieren. Am Koan problematisch ist allein die Arroganz des Meisters, der nur schwachsinnige Antworten akzeptiert. Lügende Kreter können nur Triviallogiker dauerhaft verwirren, und die Frauenfrage sollte man keinem Menschen stellen, der nur mit ja und nein antworten kann oder will.

Der gesunde Mensch ist hyperstabil. Wenn ein Regelkreis durch Rückkopplung in unangemessene Schwingung gerät, greifen übergeordnet Prozesse dämpfend ein. Und mächtige Filter sorgen dafür, daß die vielfältigen Sinneseindrücke, die manche für die Realität zu halten scheinen, nicht unsere Festplatte zukloppen. Der wirkliche "Rain Man" sah zwar sofort zwei Erbsen mehr auf dem Teller seines Bruder, dafür konnte letzterer sich aber die Hose allein anziehen. Und im Computerzeitalter sollte man eigentlich ahnen, daß ein sich selbst ankleidender Roboter wesentlich mehr Gehirnschmalz erfordert als einer, der eine Million Primzahlen kennt.

Ein Vorwurf an die Physik besteht darin, sie ginge von der Gleichartigkeit der Welt an allen Orten und zu allen Zeiten aus. Auch wenn das in dieser Plattheit zuträfe, müßte man doch eher umgekehrt sagen: Es gibt nur deshalb eine Physik, weil die Welt in großen Bereichen grundlegend gleich ist. Und hat ein Gott sie gemacht, ist er für mich der große Schöpfungsökonom, der mit einfachen Mitteln eine Vielfalt hervorgebracht hat, in der sogar Menschen existieren. Warum sollte ein Allmächtiger denn alles im Detail hervorbringen oder gar jedem Menschen einen anderen Film mit einer persönlichen Wahrheit zeigen?

Und deshalb ist das Einfache wohl doch das Richtige, wenn man Einfachheit und Vereinfachung zu unterscheiden vermag. Die vermutlich und hoffentlich einfachen Grundlagen der Welt bringen schon auf atomarer Ebene derart komplexe Gebilde zustande, daß Vereinfachung zum Verständnis erforderlich ist. Leider verführt diese Vereinfachung viele Menschen zu einer unangemessen schematischen Sicht der Dinge, und einige glauben gar, alle Angelegenheiten seien durch banale und dennoch übersinnliche Kräfte bestimmt.

Natürlich vertauscht der Spiegel hinten und vorne, und zwar aus seiner Sicht, nicht der des Betrachters. Wegen dieses Einwandes muß ich doch noch einmal sagen, wie unter uns Klosterschwestern mit naturwissenschaftlichem Interesse die Frage in ihrer Langform lautet: Warum haben wir den Eindruck, der Spiegel vertausche links und rechts, aber nicht oben und unten, obgleich wir doch wissen, daß es vorne und hinten ist, und inwieweit ist dieser Eindruck unabhängig vom Menschen und seinem Körperbau, also nicht nur eine Illusion oder Gewohnheit?

Gewiß beeinflußt jeder die Palette möglicher Reaktionen seines Gegenübers, auch beeinflußt jeder sehr schnell das gesamte Weltgeschehen, wahrscheinlich aber nur im Rahmen der physikalischen Möglichkeiten und nicht auf der Basis übersinnlicher Kräfte. Es sollte mich wundern, wenn der Mensch die Naturkräfte nur um ein Jota ändern könnte. Nicht verwundert bin ich aber darüber, daß gerade Menschen, die geistigen Einfluß auf den Lauf der Welt meinen nehmen zu können, sich der Astrologie und Numerologie ausliefern, um das ihnen von der Natur auferlegte Schicksal zu erfahren.

Wenn man erleben möchte, wie andere Menschen oder gar Savants die Welt (unmittelbar) wahrnehmen, dann ist die Meditation dafür völlig ungeeignet. Sie versetzt den Menschen in einen dumpfen Zustand, der angenehm sein mag und auch andersartige Erkenntnisse oder Eindrücke vermittelt, doch in keiner Weise die Wahrnehmung näher an die vermeintliche Realität heranrückt oder zur unmittelbaren Sicht auf die Welt befähigt. Paradoxien, Probleme, Widersprüche und offene Fragen werden allenfalls aufgelöst, wie es einem Stein perfekt gelingt.

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Das war jetzt fast schon ein eigenständiger Eintrag, Herr wuerg. Macht nichts, ich habe ihn aufmerksam gelesen und stimme in vielerlei Hinsicht zu. Eine Anmerkung hätte ich aber noch:
Der gesunde Mensch ist hyperstabil. Wenn ein Regelkreis durch Rückkopplung in unangemessene Schwingung gerät, greifen übergeordnet Prozesse dämpfend ein. Und mächtige Filter sorgen dafür, daß die vielfältigen Sinneseindrücke, die manche für die Realität zu halten scheinen, nicht unsere Festplatte zukloppen.
Genau diese übergeordneten Prozesse können willentlich ausgeschaltet werden, Filter umgangen.
Herr Wuerg, glauben Sie mir insofern, als ich hier von eigener Erfahrung spreche. Und das ist keinesfalls esoterisch oder meditativ gemeint. Mit Esoterik habe ich nämlich nur soviel am Hut, als ich weiß, dass es ohne h geschrieben wird ;-)
Egal was ich hier schreibe, es basiert nicht auf angelesenem Wissen, sondern rein auf meinem kleinen persönlichen Erfahrungsschatz. Sie erwarten doch nicht, mit mir ernsthaft diskutieren zu können, oder? ;-)

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Natürlich können übergeordnete Regelkreise und Filter nicht nur ausfallen, sondern auch ausgeschaltet werden. Das geht mit Hypnose, Tanzen bis zur Erschöpfung, Drogen oder starken Magnetfeldern. Doch sind die dadurch freigesetzten Fähigkeiten eines normalen Menschen recht bescheiden, weil ihm die lebenslange Übung fehlt. Daß nur wenige Menschen große Teile ihres Lebens für Extremerfahrungen opfern, ist ein Zeichen für die Funktionstüchtigkeit sehr mächtiger Regelkreise, die der Arterhaltung dienen. Und für die ist es nützlicher, die Terabytes im Gehirn für die Gesichtserkennung und das soziale Leben zu verbraten als für Lexikonwissen oder persönliche Glücksgefühle.

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Nun, Wertesystem bedeutet eben auch Abstraktion, schnelles Wiederauffinden eines Vorgangs an seinem Speicherort. Mittels Metasuche. Vieles wird miteinenander verknüpft. Google ist eben deswegen auch so erfolgreich. Natürlich sieht man die Dinge dann nur noch kontextbezogen und nicht mehr puristisch, so wie sie wirklich sind. Wobei es ein eigener, langer Diskurs werden würde die Frage "Wie wirklich ist unsere Wirklichkeit". Jedenfalls bedeutet Wertesystem auch Schnelligkeit, Reaktionsvermögen, Orientierung. Ohne das wären wir verloren. Andererseits sind wir so weit gekommen, in der gelegentlichen Selbstreflexion die Einordnung der Dinge in unser Werte- oder Bezugssystem kritisch zu hinterfragen. Das beinhaltet wiederum die Chance etwas umzustellen, also zu verändern. Funktioniert doch toll. Will man nun freiwillig und längerfristig dieses Bezugssystem ausser Kraft setzen, so kann man das als Gesunder glaube ich nur durch Rückzug in die Meditation erreichen. Wenn es pathologischen Wert hat, kann ich es mir nicht mehr vorstellen, was dann abläuft.

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Wie bereits beschrieben hat dieses Denkschema durchaus seine Vorteile. Nur bewegen wir uns immer innerhalb dessen Begrenzungen. Und Veränderung ist eben auch nur eine kleine Modifikation, nicht aber etwas, das so völlig anders sein wird, als das Bisherige. Wer immer das gleiche tut, bekommt immer gleiche Ergebnisse (naja, ähnliche).

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