Mittwoch, 5. September 2007
Soliloquy
Du wirst vom Läuten geweckt. "Sie ist vor 10 Minuten gestorben" sagt die Stimme am Telefon. Alles was du denken kannst, ist, was du gerade geträumt hast. Dann stehst du auf. Du schaust auf die Straße. Autos fahren vorbei, Leute laufen die Gehwege entlang. Es regnet. Ein Tag wie jeder andere.

Du gehst in die Küche und machst dir einen Tee. Jemand ist gestorben. An einem ganz normalen Wochentag. Täglich sterben Menschen auf der ganzen Welt. Ihre Zeit ist abgelaufen. Du denkst an deine eigene Endlichkeit.

In etwas mehr als zwei Wochen wäre sie 85 geworden. Der Anruf kam nicht überraschend. Sie war lange Zeit krank. Jetzt ist sie erlöst. Vielleicht ist das aber auch nur eine Phrase, mit der sich die Zurückgebliebenen trösten. Wer weiß schon, was danach kommt?

Du hast oft über den Tod nachgedacht, auch über deinen eigenen. Trotzdem trifft dich die Vorstellung mit einer Wucht, die dich schwanken lässt. Deine Beine werden schwach. Du setzt dich an den Tisch. Kann man jemals vorbereitet sein?

Die Tasse steht vor dir. Noch ist sie voll. Bald wird sie halbleer sein. Schönrederei ist jetzt nicht dein Ding. Irgendwann wirst du sie ausgetrunken haben. Und während du Tee trinkst, läuft deine Zeit ab. Einfach so. Du kannst nichts dagegen tun. Du kannst sie nicht beschleunigen.

Du fühlst dich eigenartig. Nicht richtig traurig, eher melancholisch und ein wenig ängstlich. Wie geht es jetzt weiter? Du kannst nicht einfach Urlaub nehmen. Ob dir ein freier Tag für die Beerdigung zusteht, weißt du nicht. Du liest in den Dienstvorschriften, findest aber nichts. In Kürze hast du einen Langstreckenflug, den du wirklich gerne antreten würdest. Heute Abend hast du was vor. Dein Gehirn tickt weiter, als ob nichts gewesen wäre.

Was ist pietätlos und wer ausser dir kann über dich urteilen? Du selbst bist dein schärfster Richter. Du glaubst nicht an Schuld und Sühne, an Fegefeuer und ein Leben danach. Zumindest nicht in vorstellbarer Form. An was du aber glaubst, ist dein Gewissen. Du kennst die Selbstvorwürfe in schlaflosen Nächten nur zu gut.

Langsam solltest du duschen. Jeden Augenblick deines Lebens läuft die Zeit. Sie peitscht dich durch den Tag, den Monat, das Jahr wie ein erbarmungsloser Zuchtmeister. Deine Zeit läuft ab. Du merkst es nur, wenn du stehenbleibst, atmest und dich umsiehst. Du merkst es, wenn sie für einen anderen abgelaufen ist.

Plötzlich werden deine Augen feucht. Du wehrst dich nicht. Durch die schwersten Situationen geht man im Leben alleine. Keiner kann sie dir abnehmen. Du weißt das. Vielleicht sind sie gerade deswegen so schwer. Der Tod ist die letzte schwere Situation, durch die jeder alleine gehen muss. Diese Art Alleinsein macht dir Angst.

Du merkst, wie wenig du über andere weißt. Du kennst nur deine Gedanken, deine Gefühle, dein Leben. Du weißt nur, wie sich etwas für dich anfühlt. Natürlich kannst du ahnen, was in einem anderen Menschen vorgeht. Du kannst dir vorstellen, wie er etwas erlebt. Aber sicher kannst du dir nicht sein. Und keiner kennt dich so gut wie du selbst.

Wenn du den Atem anhältst, kannst du deinen Herzschlag hören. Das Herz schlägt immer weiter. Einfach so. Bis nach einem Schlag keiner mehr folgt. Du weißt nie, welcher der letzte Schlag sein wird. Vielleicht ist es der nächste. Vielleicht folgen noch viele tausend Schläge. Jeder einzelne davon bedeutet Leben. Und du nimmst dir vor, in Zukunft noch genauer hinzuhören, wenn ein anderer den Atem anhält.

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Montag, 14. Mai 2007
Me and my monkey
„Was ein Mann schöner ist wie ein Aff', ist ein Luxus!“
F. Torberg, Tante Jolesch oder der Untergang des Abendlandes


Der vernunftbegabte Mensch (homo sapiens) scheint zunehmend vom Aussterben bedroht. So stellte ich heute fest, wie schwer sich die Vernunft gegen akute Anfälle von Sentimentalität durchsetzt. Am Anfang stand jedoch folgendes Gespräch mit meiner Mutter:

"Sag mal, die alten Spielsachen und Babykleider braucht doch keiner mehr?"
"Naja, je nachdem..."
"Also bitte, du wirst doch keine Kinder mehr bekommen!"
"Wer weiß..."
"In DEINEM Alter? Mach dich nicht lächerlich!"
"..."


Es ist nicht so, dass ich das dringende Bedürfnis nach Fortpflanzung verspüre, ich lasse mich nur nicht gerne an die zeitliche Befristung meiner Optionen erinnern. Dementsprechend fehlte mir das schlagende Argument und meine Mutter begann, ihren blinden Aktionismus auf die Kartons auszuweiten, die über Jahrzehnte die Schätze meiner Kindheit beherbergten. Immerhin durfte ich einen letzten Blick erhaschen, bevor die Sachen im Spielzeugnirvana verschwanden.

So sortierten wir gemeinsam im Speicher nach den Kategorien a.) Schenkung an befreundete/verwandte Kinder, b.) Schenkung an gemeinnützige Einrichtungen, c.) Schenkung an die Müllabfuhr und d.) Schenkung noch im schwebenden Verfahren. Unnötig zu sagen, dass unsere Auswahlkriterien für die Zuordnung nicht immer übereinstimmten. Während meine Mutter zunächst Puppenkleider den entsprechenden Puppen und somit Kategorien zuordnete, sichtete ich alte Kinderbücher. Schnell saßen wir beide inmitten kleiner Häufchen, deren Umschichtung von Neuem begann, sobald wir die Plätze wechselten. Als mit voranschreitender Zeit noch immer keine eindeutigen Entscheidungen erzielt waren, begann eine hitzige Debatte.

"Die Kleider sind sowas von altmodisch, das zieht doch heute keiner mehr an."
"Das dürfte der Puppe egal sein."
"Die Puppe, der die Kleider passen, ist längst entsorgt."
"Ach... aber die Kleider von Amosandra hebst du auf, obwohl Amosandra an Plastikversagen gestorben ist."


[Anm. d. Red.: Amosandra war eine dunkelhäutige Nachkriegsbabypuppe meiner Mutter, der ich alle Finger abkaute als sie in meinen Besitz überging und deren weicher Gummikörper den Aufenthalt in einer Kiste aufgrund von Materialzersetzung und Gewichtseinwirkung nicht ohne erheblichen Schaden überstand.]

"Das ist was anderes. Die haben altertumswert."
"Wenn man die anderen Kleider lange genug aufbewahrt, sind die auch bald antik."
"Und die dicke Puppe ist so häßlich, die will auch kein Mensch mehr."
"Psst, sie könnte einen irreversiblen psychischen Schaden bekommen."
"Ihr Leben ist befristet."
"Na schön, die dicke Puppe können wir entsorgen."
"Überhaupt haben alle Puppen ein Frisurproblem. Guck mal wie platt die am Hinterkopf sind."
"Wenn du so lange in einer Kiste gelegen hättest, hättest du auch ein Frisurproblem."
"Wenn ich in einer Kiste liege, habe ich kein Frisurproblem mehr."
"Schau mal, da ist meine alte Kommunionskerze."
"Das war auch gleichzeitig deine Taufkerze. Willst du die behalten?"
"Wir könnten sie ja an Weihnachten..."
"Was ist mit den Büchern?"
"Das Buch mit den französischen Märchen kann man wegwerfen. Die sind so grausam, dass ich danach nicht mehr schlafen konnte."
"Aber das ist Kulturgut."
"Wann hast du eigentlich das letzte Mal ein Buch gelesen? Und überhaupt schreibt man Barbie nicht mit Ypsilon."
"Werd jetzt nicht persönlich."
"Aber DU hast die Kartons beschriftet."
"Oh schau mal, Petzibücher! Die werfen wir nicht weg."
"Nein, die zerfallen bereits von alleine. Aber den alten Heidiband mit den eingeklebten Sammelbildchen, den behalten wir. Guck mal, das sind Bilder aus dem Film..."
"Gott ja, ziemlich sentimental war der. Das will doch heute niemand mehr."
"Ich schon."
"Dann nimm's mit. Und die anderen Sachen dazu."
"Und wo soll ich all das aufbewahren? Mein Keller ist kleiner als dein Besucherklo."
"Dann werfe ich alles weg."
"Wenn du das tust, zünde ich die Amosandrakleider mit meiner Kommunionskerze an..."


Zum Abschied winkte ich der dicken Puppe, die auf der Mülltonne thronte, noch einmal kurz zu, packte den Affen auf den Rücksitz und fuhr mit einer Kiste im Kofferraum und einem tiefen Seufzen los. Die Sachen warten jetzt auf eine neue Bleibe in einem Kinderherz. Bis dahin darf der Affe auf dem Klavier sitzenbleiben.

Schimpi

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Sonntag, 13. Mai 2007
Mother


Sie wäscht, kocht, füttert, tröstet, räumt, macht sich Sorgen, ist da, nicht nur einen Tag im Jahr, und sie hofft, dass das, was sie für die alte Mutter tut, eines Tages jemand für sie tun wird.

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Samstag, 14. April 2007
Love is in the air
Der Frühling ist schuld. Und die Hormone. Wie könnte ich sonst mein derzeitiges Verhalten rechtfertigen? Ein pubertierender Teenager ist Dreck dagegen. Ehrlich. Nicht schlafen, nichts essen können, keinen klaren Gedanken fassen und froh sein, wenn einem ein vollständiger Satz über die Lippen kommt, der nicht von haltlosem Lachen unterbrochen wird. Seit Tagen die Hölle auf Erden. Zumindest für einen Kontrollfreak wie mich. Kein Grund zur Panik. Der nächste Herbst kommt bestimmt.

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Donnerstag, 12. April 2007
R.E.S.P.E.C.T.
Nach jedem Tief geht es wieder hinauf. Diese abgeschmackte Weisheit mag man nicht glauben, wenn der Wendepunkt noch nicht erreicht, die Tränen noch ungezählt vergossen und die Kälte noch nicht aus den Gliedern geschüttelt.

Es sind die Kleinigkeiten, die das Herz erwärmen. Eine warme Hand, in der die eigene Halt findet, ein liebes Wort. Aufmerksames Zuhören, das Lächeln einer Fremden im Zug, ein kleines Kompliment, das nebensächlich eingestreut.

Es sind die Menschen, die mit ihrer Anteilnahme und Spiegelung des eigenen Selbstes das Leben lebenswert machen. Sie verdienen Respekt und Dankbarkeit. In jedem noch so nichtigen Moment.

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Mittwoch, 7. März 2007
Auf einen Totenacker hat mich mein Weg gebracht
Manches Mal wenn die Beine unruhig scharren und sich im Kopf Endlosschleifen abspulen, muss ich ganz dringend meine Behausung verlassen. Meist führt mich mein Weg zum nahegelegenen alten Nordfriedhof. Die Bezeichnung ist irreführend, denn obwohl es sich tatsächlich um Grabstätten handelt, wurde dort schon lange keiner mehr betrauert. Mütter pflügen mit den neuesten Kinderwagenmodellen Bahnen durch den Kies, während die Kinder alte Grabsteine als Slalomhindernisse nutzen. Jogger drehen ihre Runden innerhalb der Mauern und Spaziergänger flanieren auf den kleinen Wegen, die sich wie Adern über die Grasfläche ziehen.



Der alte Brunnen, aus dem früher wohl das Blumenwasser geschöpft wurde, ist längst versiegt. Mein Weg führt mich oft daran vorbei und immer bleibe ich stehen. Bis jetzt kann ich mir keinen Reim aus der Abbildung machen. Eine Darstellung aus der Mythologie wohl, denn das einzige Ungetüm, das im biblischen Zusammenhang einst einen Menschen verschluckte, war ein Wal und kein Schlangenwesen. Heutzutage verschlucken wir uns selbst. Es ist wohl eines der ganz wenigen noch vollständigen Abbildungen, obgleich die Witterung bereits Spuren in Form von Rissen hinterlassen hat. Viele Statuen sind vom Verfall oder Vandalismus gezeichnet, so manchem Engel kam ein Flügel abhanden und andere haben diverse Körperteile eingebüßt. Ein Ort der Unvollkommenheit und Vergänglichkeit.

Genau hier fühle ich mich wohl, auf der morschen Bank, auf der noch kurz zuvor ein altes Mütterlein verschnaufte. Mein Blick gleitet an großen Bäumen entlang nach oben. Erst der Stamm, dann ein Ast, ein kleinerer Ast und schließlich ein Zweig, der sich dem Himmel entgegenstreckt. Jeder noch so kleine Zweig hat einen Anfang und ein Ende. Endlichkeit des Lebens. Dazwischen das ganze Treiben. Sich permanent wiederholend. Und immer wieder die Fragen in meinem Kopf. Durch den Himmel über mir scheinen sie zu fliegen, während sie noch zuvor an die Zimmerdecke prallten und auf mich herabprasselten wie ein kalter Regenguß.

Manchmal löst sich ein Gedanke aus dem Bauch und findet den Weg nach draußen in einer einzelnen Träne. Dann sitze ich ganz ruhig und fühle ihren Weg über mein Gesicht. Meinen Berg abtragen, Stück für Stück, Stein für Stein, Träne für Träne. Meine Gedanken entlassen. Das Lachen ist nicht weit. Zwischen knarzendem Kies und Vogelgezwitscher, zwischen Kinderstimmen und Motorengeräuschen und doch weit entfernt von allem Treiben um mich herum, denn ich lausche nach innen. Falls Sie mich dort treffen, auf der Bank, wundern Sie sich nicht. Es gab schon wunderlichere Menschen dort zwischen den Gräbern. Denn wer sich ablenken will, besucht keinen Friedhof. Die hierher kommen suchen etwas anderes. Ein wenig Frieden mit sich, ein wenig Ruhe oder einfach nur ein klein wenig Himmel über dem Kopf.

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Sonntag, 28. Januar 2007
And follow your memories upstream

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Sonntag, 31. Dezember 2006
Auld Lang Syne


So hammas wieda gschafft.
Am liebsten würd ich es festhalten, das Alte. Nicht weil es besonders gut war. Nein, besonders gut war es wirklich nicht. Nicht mal einigermaßen. Ich glaube aber, das liegt an der allgemeinen Stimmung in dieser Zeit. Partielle Jahresendzeitamnesie gemischt mit sentimentaler Unzurechnungsfähigkeit. Kein Richter der Welt würde mich da für voll schuldfähig erklären. Festhalten will ich nur die Zeit. Mich mit aller Kraft an den großen Zeiger der biologischen Uhr hängen. Den schleichenden Verfall stoppen, das Rädchen rückwärts drehen und all die vergeudeten Momente nachträglich füllen. Jede Szene nochmal drehen, bis sie passt.

Das Neue wird trotzdem unaufhaltsam kommen. Tausende werden es heute Nacht mit Böllern, Raketen und Alkohol willkommen heißen. Neues Spiel, neues Glück. Und alle leben in der Hoffnung, es möge alles besser werden. Dabei ist die Hoffnung nichts anders als die an einem Stab befestigte Karotte, die den Esel den Karren weiterziehen lässt. Meine größte Angst hat sich in den vergangenen Jahren bestätigt. Alles was sich ändert, ist die letzte Zahl im Datum. Mal abgesehen von Kleinigkeiten - hier eine Liebelei, dort ein Neuerwerb, eine andere Wohnung, ein anderer Arbeitgeber, was auch immer am Rande vorbeizieht - bleibt alles beim Alten. Gute Vorsätze sind spätestens am 2.Januar vergessen und die Endlosschleife beginnt von vorne. Langeweile galore und Silvester ist der europäische Groundhog Day.

Ich wünsche mir und Euch, dass es endlich mal kracht im zähen Lebensfluß. Und wer einen amüsanteren Text zum Thema sucht, der lese bitte hier.

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Dienstag, 26. Dezember 2006
I want to be a part of it
Ich habs versucht, ehrlich, habe den Atem angehalten, um nicht versehentlich ein Weihnachtsmolekül zu inhalieren, habe mich der Geschenkepflicht entzogen und keine allgemeingültigen Wünsche zum Fest abgesondert. Ich habe tapfer genickt, wenn mir einer schöne Weihnachten wünschte, die Jalousien heruntergezogen und geweint. Irgendwie muss dieses hinterlistige Ding aus einem der Lüftungsschlitze hereingekrochen sein. Da war er also, der Weihnachtsvirus. Kurz vor dem Erstickungstod inhaliert, invadierte er meinen Körper über die Alveolen, setzte das Restratio ausser Kraft und übernahm die Kontrolle über das vegetative Nervensystem. Die Folge waren unkontrollierbare Selbstmitleidsausbrüche. Ganz widerstandslos wollte ich das Feld jedoch nicht räumen. Vereinzelt kämpften in meinem Kopf noch Partisanen mit Ironieschwert und Realitätsschilde gegen den Eindringling, mussten sich aber beim Großeinsatz von Hormonwaffen geschlagen geben.

Um mich dem allgemeinen Frohlocken zu entziehen, verordne ich mir einen Flug. Eine Kollegin verteilt Schokoläuse im Briefing. Auf dem Tisch brennen Teelichter. Die Kollegen sind guter Dinge. Ich möchte gerne wieder nachhause. Der Kapitän und die Purserkollegin auch. Hilft aber nicht. Wir fliegen nach New York.

New York? Oh mein Gott. Erst jetzt fällt mir auf, dass meine Wahl reichlich unüberlegt war. Um Weihnachten zu umgehen, muss man mindestens nach Asien fliegen oder Timbuktu. Auf dem Weg vom Flughafen ins Hotel überall Bäume mit Lichterketten. Ein Blick nach links auf Kevins Baum am Rockefeller Center, und einer nach rechts in die dekorierten Schaufenster genügen, um anschließend den Blick auf meine Hände zu zwingen. Der Fernseher auf dem Zimmer bietet eine Auswahl an Moralgeschwängertem und Herzschmerz, unterbrochen von letzten Geschenkvorschlägen zu reduzierten Preisen. In Amerika wird Weihnachten erst am 25. gefeiert. Die letzten Gaben können rund um die Uhr an den Tagen zuvor erworben werden. Ich lösche das Licht und träume von Männern mit weißen Bärten und roten Nasen.


Das Wetter ist frühlingshaft mild. Ein starker Wind fegt durch die Häuserschluchten. Vor dem Hoteleingang ringt ein Schwarzer seinem Instrument gequälte Weihnachtsmelodien ab. Ein paar verstreute Passanten spazieren auf dem sonst stark frequentierten Broadway. Ich lasse mich treiben, überquere hier eine Straße, biege dort in eine Avenue ohne genaues Ziel. Irgendwo zwischen Madison und 51. soll ein Laden sein, wo ich nach Jeans gucken könnte. Den Namen habe ich vergessen, nach der dritten Ecke auch mein Vorhaben. Am MoMa vorbei, über die 5th Avenue, immer weiter Richtung Osten. Ein Obdachloser wärmt sich am Auspuff eines Maronistandes. Er trägt nichts außer einer Nikolausmütze und zwei um den Leib gebundenen Pappschildern. Auf dem Rückweg komme ich an der St. Patrick’s Cathedral vorbei. Ferngesteuert steige ich die Stufen zum Eingang hinauf und befinde mich mitten in der Weihnachtsmesse. Obwohl dies nie meine Absicht war, setze ich mich in eine der freien Bänke am Rande. Eine Rednerin gedenkt namentlich genannter Verstorbener, es wird gesungen und Gebete gesprochen. Als der Pfarrer aufruft, sich zum Zeichen des Friedens die Hände zu reichen ist mein Tränenkanal geöffnet. Bevor irgendein Fremder auf die Idee kommt, mich in seine Arme zu schließen, verlasse ich fluchtartig die Kirche. Manhattan hinterlässt nach dem Konsumwahn der vergangenen Tage einen deprimierenden Eindruck. Selbst der Weihnachtsbaum am Rockefeller Center scheint bei Tageslicht betrachtet in den letzten Zügen zu sein.

Wenigstens das wäre überstanden, denke ich, als ich das Flugzeug betrete. Mit einer Bescherung in der vorderen Küche habe ich nicht gerechnet. Die Purserkollegin hat Geschenke für jeden verpackt. Wir trinken Kinderpunsch und knabbern Spekulatius. Ich stehe ein wenig verloren zwischen den anderen und ziehe mich schnell zur Wache nach hinten zurück, wo ich den gläsernen Teelichthalter in meine Tasche verstaue. Jetzt steht er auf meinem Tisch. Das Licht der Kerze schimmert durch die Sterne des matten Glases. Ich weine ein bisschen. Dann zünde ich eine Zigarette an. Hilft ja alles nichts. Das nächste deprimierende Ereignis wirft schon seine Schatten voraus.

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Sonntag, 3. Dezember 2006
Wenn du schmollst und traurig bist
Wenn sich deine Pupillen in der Dunkelheit verengen, weil du in einen kleinen Lichtstrahl blickst.
Wenn du auf Fahrtwind hoffst und dein Boot vom Gegenwind in die falsche Richtung geschoben wird.
Wenn deine Ohren vom Motorenlärm taub sind und du die leisen Stimmen nicht mehr hörst.
Wenn deine Hände statt an das rettende Tau ins Leere greifen.
Wenn die Strudel im Kopf nach unten ziehen und du vom Strampeln müde geworden bist.
Wenn du den Duft des Lebens nicht mehr wahrnimmst, weil deine Nase tief in der Scheiße steckt.
Wenn du den Mund offnest, um nach Hilfe zu rufen und deine Stimme versagt.
Wenn du die Steinschleuder nicht mehr findest, die die einzige Chance gegen Goliath bedeutet.
Wenn auf dem Weg keine Abzweigung mehr eine Wahlmöglichkeit lässt.

Was ist dann? Ich weiß es nicht. Ich kann dir nicht sagen, was du tun sollst. Ich kann dir keine neuen Wege eröffnen, noch die Steine aufsammeln. Ich kann dich nicht zwingen, deine Augen auf die guten Dinge zu richten. Ich kann dir keine Hoffnung geben. Ich kann die Reise nicht für dich antreten. Alles was ich kann, ist dir sagen, dass es immer weitergeht, jedoch nicht wie, nicht ob gut oder schlecht. Das ist die Grausamkeit des Lebens, dass jeder von uns sich dieser Zufälligkeit alleine stellen muss. Nur denke daran, welcher Stolz dich erfüllt, wenn du es ganz alleine geschafft hast. Jeden einzelnen Tag. Immer und immer wieder.

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