Dienstag, 18. April 2006
He's disabled
Man mag es kaum glauben aber ich habe einen Job. Sicherlich könnte ich ohne den auskommen, nur nicht ohne Geld. Die geben mir nämlich Geld dafür, dass ich ab und zu in ein Flugzeug steige und die Leute von einem Ort zum anderen begleite. Manchmal bin ich so in meine Gedanken versunken, dass ich meine Verpflichtungen vergesse. Diese Verpflichtungen stören mich mehr und mehr bei dem, was ich lieber tun würde. Und dann gibt es Tage, an denen ich von einem Flug heimkomme und froh bin, dort gewesen zu sein. Dann will ich diese Erlebnisse teilen, mitteilen.

So war es auch vor einigen Tagen. Ein dreizehnjähriger Junge reiste ohne Begleitung. Das ist zunächst nicht ungewöhnlich, der Junge ist jedoch gehörlos. Immer wieder versuche ich, mich intensiv in einen anderen Menschen hineinzuversetzen. Als ich meine Tauchlehrertätigkeit begann, dachte ich zum Beispiel viel darüber nach, wie es wohl für einen Querschnittsgelähmten sei, sich unter Wasser nahezu frei zu bewegen. Dann beginne ich, alles in meinem Kopf aufzulisten, woran in so einem Fall zu denken sei. Ich plane innerlich einen Tauchgang mit dieser Person. Wer wird beim Umziehen helfen? Wie viele Hilfspersonen brauche ich, um den Gelähmten ins Wasser zu tragen? Was ist noch zu beachten?
Beim Fliegen habe ich schon manches Mal darüber nachgedacht, wie man einen Blinden überzeugen könne, im Falle einer Evakuierung in eine Rutsche zu springen, die er nicht sieht. Natürlich müsste er sich setzen dürfen. Ein Gehörloser ist unter Wasser eindeutig den Hörenden gegenüber im Vorteil, nicht aber in der Welt des Schalles. Er hört nicht die Durchsagen, nicht die Evakuierungskommandos. Er kann sich nicht einmal besonders gut unter den Hörenden verständlich machen, die die Gebärdensprache meist nicht beherrschen.

Der Junge freute sich wie ein Schnitzel über die Sportzeitschrift, die ich ihm gab. Später schnappte ich mir Zettel und Stift, um ihn zu fragen, was er trinken wolle. Er antwortete, doch ich verstand ihn nicht. Als ich ihm den Zettel gab, damit er seine Wünsche aufschreiben könne, war ich peinlich berührt. Er hatte sich so viel Mühe gegeben, sprechen zu lernen und ich konnte ihn nicht verstehen. Schließlich deutete er an, er wolle mehr Zettel. Er begann zu zeichnen. Als er fertig war, überreichte er mir freudestrahlend die Papierserviette mit seiner Zeichnung. Darauf war ein Flugzeug zu sehen. Eine Treppe führte auf das Rollfeld. Unten standen einige Personen, die sich unterhielten. In den Sprechblasen stand „Wir fliegen nicht“, „Du spinnst, bist doch tot. Warum wohl? 24 Stunden=1 Tag. Dann sind wir tot“, "10.000 Km sind zu viel", „Hallo willkommen, ihr froh einmal zu fliegen. Wieviel Kilometer denkt ihr?“, „Du spinnst, wir fliegen nicht so schnell“, usw. Gemeinsam mit den Kollegen rätselte ich lange, was die Zeichnung und die Worte wohl bedeuten mögen. Ich traute mich nicht zu fragen. Ein Kollege vermutete, der Junge hätte einen Todesfall in der Familie erlebt, ein anderer meinte, der Junge sei sicherlich geistig verwirrt. Schließlich ging ich zu ihm. Er erklärte mir mit ruhiger Stimme, dass das ein Scherz gewesen sei. Er wolle lediglich wissen, wie viele Kilometer das Flugzeug in der Minute zurücklege. Dann lachte er herzlich. Er lachte mich aus. Wie konnte ich nur so dumm sein und seine Zeichnung nicht verstehen? Ja, ich fühlte mich wirklich dumm. Dieser Junge, über den wir uns so viele Gedanken machten und der uns so leid tat, weil er alleine fliegen musste, war einfach nur stolz darauf, alleine zu fliegen. Er war stolz, endlich erwachsen und nicht mehr auf die Hilfe der anderen angewiesen zu sein. Er war stolz, sich genau wie jeder andere mitteilen zu können. Er bewies uns sein Vertrauen, indem er mit uns scherzte.
Manches Mal hoffe ich, Behinderte sind nachsichtig mit uns Gesunden.

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