Mittwoch, 22. Oktober 2008
Girl On A Train
Öffentlicher Nahverkehr in Tokio zu Stoßzeiten wäre für mich der blanke Horror, da ich bereits in München bei vollen Trambahnwagons leicht hyperventiliere, und da wird noch nicht mal richtig gestopft. Dieses enge Beieinanderstehen der Menschen, fremden Atem im Nacken, fremde Ellenbogen im Rücken, fremde Hände überall, es macht mich wahnsinnig. Ich mag Fremde nicht berühren müssen, nur weil ich zu einer bestimmten Tageszeit ohne Parkplatzstreß durch die Stadt kreuze.

Wenn es dennoch geschieht, benötige ich dringend ein Ablenkungsmanöver. Wie heute beispielsweise. Heute erspähe ich bereits auf dem Bahnsteig einen wartenden sehr attraktiven Mittzwanziger im Businesslook. Als die erste Bahn wegen einer Störung zu voll ist, warten wir beide auf die zweite, nicht minder gefüllte. Ich stelle mich absichtlich direkt hinter ihn an dieselbe Türe. Im Wagon stehe ich neben ihm. Da ich mich dringend irgendwo festhalten muss, wähle ich die Haltestange, an der er lässig lehnt und greife in die Aussparung zwischen seinem Rücken und Kopf. Er hört Musik über Kopfhörer, schaut mich nicht an, bemerkt mich wahrscheinlich nicht einmal. Dann legt er seinen Kopf nach hinten. Sein Haar berührt meinen Handrücken, ich spüre die Wärme seines Nackens.

Mein Blick wandert ziellos in die andere Richtung, meine Gedanken fixieren das Kribbeln seiner Haare auf meiner Hand. Jetzt würde ich gerne mit den Fingern durch sein Haar streichen, seinen Hals berühren, langsam meine Finger über seinen Rücken wandern lassen, mit den Nägeln über seine Haut kratzen immer auf der Schwelle zwischen Kitzel und Schmerz. Die Bilder in meinem Kopf verselbständigen sich, die Umgebung ist vergessen. Es geht nicht um die Person, es geht um den Genuß purer Lust. Ist das bereits sexuelle Belästigung? Die Frage schießt quer über alle angenehmen Empfindungen. Frotteure, Voyeure und wie sie alle heißen, man hört ja so viel über diverse Neigungen. Bin ich bereits pervers, weil ich mich in der U-Bahn erotischen Phantasien hingebe? Nein, ich denke nicht. Harmlose Alltagserotik, die den Tag um Nuancen spannender gestaltet.

Als ich aussteige, empfinde ich das dringende Bedürfnis, mich bei ihm für dieses Erlebnis zu bedanken. Ich belasse es dabei. Das Lächeln aber hält bis vor meine Haustüre an.

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