Dienstag, 20. August 2019
Feelings


Fragen Sie mal jemanden, was er fühlt, wenn das Gefühlspendel nicht in die ein oder andere Richtung ausschlägt. Die Person wird's nicht auf Anhieb wissen und nach ein wenig Bedenkzeit den Zustand als ruhig oder ausgeglichen beschreiben. Wenn die Gefühlsskala aber auf Maximum steht kann sie's sofort benennen. Im Grunde sind Gefühle also meist gesteigerte Erregungszustände. Angst, Wut, Trauer, Hass aber auch positive Gefühle wie Verliebtheit, Glück, Fröhlichkeit, alles zählt da drunter. Selbst Langeweile und Unzufriedenheit sind nichts anderes als Erregungszustände. Und die wollen wir gerne vermeiden, weil Erregungszustände anstrengend und auf Dauer sogar schädlich sein können. Das Vermeiden haben wir seit unserer Kindheit gelernt. Wir sind Meister in Vermeidungstaktiken wie die Ablenkungsindustrie und vor allem die Häufigkeit von Suchtverhalten zeigen. Wer sich davon ablenkt, hat aber die Gefühle deswegen nicht ausgeschalten, er hat sie nur in eine dunkle Ecke gedrückt. Da warten sie, bis sie uns in einem unaufmerksamen Moment hinterrücks überfallen. Manchmal erscheinen sie nicht als die ursprünglichen, sondern in abgewandelter Form. Wut ist so ein Beispiel. Meistens entsteht Wut aus Unterdrückung und war ursprünglich Verletztheit oder Angst.

Es gibt sehr viele wütende Menschen da draussen. Die projezieren diese Wut fast immer auf andere. Dabei sind sie im Grunde auf sich selbst wütend. Sie fragen sich sicher, wo dieser Beitrag hinführen soll. Wutbürger? Ausländerhass? Nein, dazu bin ich viel zu unpolitisch. Ich beobachte nur - fast immer erst mal mich selbst. Viele meiner Vermeidungsstrategien - rauchen, essen und noch paar andere, selbstzerstörerische - entstanden aus unterdrückter Traurigkeit oder Langeweile. Ich brauche ein Überdruckventil, wenn ich keinen Schaden nehmen will. Oder ich mache das, was eigentlich die ursprünglichste Strategie ist. Ich fühle. Gefühle haben nämlich nur einen Sinn: sie sind zum Fühlen da. Und noch viel erstaunlicher ist die Tatsache, dass sie relativ schnell vergehen, vorausgesetzt ich lade sie gedanklich nicht mit Bedeutung auf.

Klingt ein bisschen kompliziert, doch mit etwas Übung gelingt mir das ganz gut. Dann warte ich die paar Minuten ab anstatt zu essen, Nagelhaut zu kauen oder mich sonstwie abzulenken. Ein bisschen disziplinieren muss ich mich aber schon, weil mein Kopf natürlich immer was draus machen will. Ich kann aber bewußt entscheiden, die Frage nach dem Ursprung meiner Gefühle sein zu lassen. Viele Erregungszustände entstehen nämlich nur aus sehr trivialen Gründen: Schlafmangel, hormonelles Ungleichgewicht oder einfach ein kurzer Anstieg des Adrenalinspiegels. Da muss ich nicht drüber grübeln, das ist einfach so. Ich kann dem also Bedeutung beimessen oder es einfach wahrnehmen. Also meine Gefühle fühlen. Denn zu fühlen heisst gleichzeitig auch, lebendig zu sein.

Na schön, das war jetzt ein bisschen abgehoben. Ich fahre allerdings damit ganz gut. Und heute stieß ich auf das obige Motto. Das ist aus einer Sammlung von Kärtchen für jeden Tag, die spiritual AF heißt und die nicht so spirituell sind, wie der Name prophezeit. Gefunden in einem Scherzartikelladen in Vancouver auf der Suche nach einem Abschiedsgeschenk für eine Kollegin. Fand ich nach kurzer Überlegung dann doch nicht so passend. Also bekam sie eine Tasse mit Vancouver-Motiv, über die sie sich sehr gefreut hat. Und ich freue mich jetzt an den Kärtchen.

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