Dienstag, 5. November 2019
Walk Away
Es ist alles ein bisschen vertrackt. Ich bin müde, sehr müde und kann gleichzeitig nicht schlafen, weil alles in meinem Kopf sehr schnell läuft. Termine koordinieren, abgleichen, recherchieren, entscheiden, neu sortieren. Früher hätte ich ungeachtet der Tageszeit einfach die Schuhe angezogen und wäre losgelaufen - ohne Ziel, ohne Richtung, einfach laufen, wohin die Füße tragen. Heute tragen die Füße aber nicht mehr richtig. Manchmal knicke ich weg, wenn ich zu schnell aufstehe, meistens sind Schritte mit kurzen, scharfen Stichen verbunden, die ich gerne vermeiden möchte, indem ich das Bein anders belaste. Das geht schon eine ganze Weile so, und ich frage mich, wie lange es wohl dauert, bis ich wieder mein altes Gangbild haben werde. Der federnde Schritt, schwungvoll, rund und unbeschwert, der mir eigen war, ich vermisse diese Bewegung so sehr. Mein Körper ist seit einem halben Jahr verkrampft auf Schmerzvermeidung programmiert.

Ich laufe vorsichtig, langsam, ziemlich schwerfällig insgesamt. Manchmal denke ich, das bilde ich mir alles nur ein und zwinge mich, beim Gehen nicht mit dem Körper von einer Seite auf die andere zu schwingen. Dann durchzuckt mich einer dieser elektrisierenden Nervenimpulse. Er erinnert mich daran, dass der Geist eben nicht immer Herr über die Materie ist. Man sagt, das Alter bringe Weisheit, und vielleicht ist diese Weisheit eine direkte Folge von körperlichen Schmerzen. Ich lerne zu akzeptieren, umzulenken und mich zu arrangieren. Als ob ich mich in jeder Phase meines Lebens neu erfinden müsse, neu definieren und anders weitermachen. Hauptsache weiter.

Einer sagte mal, das Leben verlaufe nicht in Phasen und wieso ich das alles so scharf abtrennen müsse. Bei mir gab es immer schon tiefe Einschnitte. Ein Berufswechsel, ein Wohnortwechsel, ein vorher und ein danach. Ich kann das nicht mit sanften Übergängen. Auch so eine Lektion, die angeblich mit dem Älterwerden kommen soll. Vielleicht kommt das aber nur für die, die sich durch den vorgegebenen Alltag mit geringstmöglicher Störung treiben lassen. Möglichst keine Katastrophen und das bisschen Unzufriedenheit wird einfach wegrationalisiert. Das funktioniert bei mir nicht. Ich brauche Abwechslung, Bewegung, im Kopf wie im Körper, laufe dabei schon mal gegen Wände, weil ich Unmögliches als solches nur schwer akzeptiere. Für die einen ist Weisheit sowas wie Abfinden mit dem Unumgänglichen, für die anderen bedeutet es, die eigenen Ressourcen bestmöglich einzusetzen. Ich stehe noch irgendwo dazwischen.

Oft genug möchte ich einfach weglaufen; vor mir selbst oder vor der Situation. Und manchmal träume ich dann, dass ich renne. Im Traum laufe ich ohne Erschöpfung und ohne Schmerzen. Ich laufe mit dem Gefühl, niemals mehr anhalten zu müssen, nicht zum Luftholen und nicht zum Schlafen. Einfach weiterlaufen, bis etwas Schönes meine Aufmerksamkeit fängt. Dann bleibe ich stehen, um es zu betrachten. Ich könnte natürlich jederzeit weiterlaufen, es ist aber schöner zu bleiben. Ich glaube, das ist dann wieder eine dieser Phasen, eine selbstgewählte. Fast kommt es mir vor, als müsse man zur Weisheit erst gezwungen werden. Fürwahr kein besonders begehrenswertes Konzept.

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