Sonntag, 17. November 2019
Voices in My Head
Mein Bewegungsradius ist klein geworden. Die paar hundert Meter von der UBahn heim lege ich langsam und mit Schmerzen zurück. Ich suche das Kinoprogramm nach brauchbaren Filmen ab. Nichts trifft wirklich meinen Geschmack. Vielleicht But Beautiful oder Systemsprenger ansehen. Verteidiger des Glaubens interessiert mich auch, der läuft nur noch am Dienstag. Dann denke ich, lieber keine Problemfilme, lieber was Schönes, gibt ja genug doofe Sachen um mich rum. Die Entscheidung fällt schnell, weil die Vorstellung des zurückgelegten Weges mir das kurze Vergnügen madig macht. Ziehe ich halt doch wieder Kreise auf meinem Teppich oder verkrieche mich zurück in's Bett. Die Bewegungseinschränkung lässt mich mit dem Gefühl von Hilflosigkeit zurück.

Gestern als ich im Bett lag, dann der Gedanke, ich könne ja trotzdem glücklich sein. Nicht das 'es könnte schlimmer sein' glücklich, sondern mehr so das 'ich mach' mal Pause von meinen Gefühlen und Problemen' glücklich. Die Probleme und Gefühle laufen nicht weg, wenn ich sie mal für eine Minute abschalte. Hat wirklich gut funktioniert, halt nur für eine Minute. Wenn ich das jetzt jeden Tag eine Minute praktiziere, klappt es nächste Woche vielleicht für fünf. Kein Optimierungswahn, nur ein bisschen Ferien im Kopf vom Kopf.

Als Kind war ich Meisterin im Tagträumen. Stundenlang habe ich mich in Szenarien und Dialoge hineinversetzt, ganz ohne Requisiten. Die Dialoge wurden über die Jahre vernünftiger, die Szenen realistischer. Wenn mich wer dabei beobachtete, fühlte ich mich ertappt, das Geheimnis war nicht mehr nur meines. Manchmal mache ich es immer noch, mit dem Unterschied dass die Gespräche mit fiktiven Gegenüber oft konfliktbeladen sind. Ich übe worst-case Szenarien. Manchmal gibt es aber auch schöne Gespräche. Leider war noch nie ein neuer Witz dabei.

Wenn ich gegen halb sechs morgens aus dem Fenster sehe, läuft unten immer ein alter Mann vorbei. Er trägt einen langen, schwarzen Ledermantel. Die wenigen weißen Haare stehen wild vom imaginären Hutrand ab, oben auf dem Kopf wachsen keine mehr. Seine Schritte sind langsam, schlurfend und mühsam. Mit tiefer, rostiger Stimme redet er vor sich hin. Nach ein paar Sätzen macht er eine Pause, um nachzudenken oder möglicherweise dem unsichtbaren Gegenüber zuzuhören. Dann wird das Gespräch hitziger. Oft schimpft er - nach innen gekehrt, nie mit Passanten. Inzwischen fühle ich mich ihm verbunden, obwohl er mich noch nie wahrgenommen hat. Ob er wohl noch mit anderen Menschen spricht ausser vielleicht noch der Bäckerin oder dem Arzt?

Ich telefoniere mit Freunden. Kurze Gespräche, denn die langen sind anstrengend geworden. Nach einer halben Stunde möchte ich gerne meine Gedanken neu sortieren und mich zurückziehen. Musik läuft bei mir nur zum Sport im Hintergrund. Ich mag den Klang der Stille, unterbrochen von Nachbarsgeräuschen oder denen von der Straße. Als ich in einer Hinterhauswohnung mit häufig abwesenden Nachbarn wohnte, fühlte ich mich ohne diese Geräusche sehr einsam. Die Menschheit hätte bei einer Katastrophe ausgelöscht sein können und ich die einzig Überlebende - so fühlte sich das an.

In meinem Kopf ist es sehr selten still ausser ich halte inne und lausche. Die Aufmerksamkeit, mit der ein Tier Gefahr in der Umgebung wittert, die ist ohne Zeit. Festhalten funktioniert genauso wenig wie drauf konzentrieren. Sie lässt sich aber erleben. Das sind die kleinen Pausen, die Ferien im Kopf vom Kopf. Ich glaube, ich fliege jetzt gleich mal in den Urlaub.

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