Samstag, 21. September 2019
Hurt Feelings
Hatago Iwa - married rocks - Oku-Noto Peninsula, Japan

Zwei Felsen in der Brandung verbunden mit einer Hängebrücke, eine kleine, rote Hütte auf dem größeren der beiden. Das Foto selbst unbearbeitet, schlecht belichtet, doch ein schönes Symbolbild für menschliche Verbindung. Ich hatte in den letzten zwei Wochen nicht nur schöne Erlebnisse, sondern auch eines, das mich die Reise nach drei Tagen fast hätte abbrechen lassen. Diese Radtour war von langer Hand geplant, das Ziel - Japan - war das Wunschziel meiner kleinen Schwester. Sie war immer schon etwas schwieriger, etwas anspruchsvoller und etwas unnahbarer als die anderen. Ich habe ihr Verhalten immer verteidigt, habe mich daran erinnert, was tiefe Verletzung und Trauma in einer Seele anrichten können und war verständnis- und liebevoll zu ihr. Ich war immer für sie da, vor allem in den schwierigen Zeiten, in den Nächten, in denen man um 5 Uhr Beistand braucht oder an Tagen, an denen man sich komplett alleine und unverstanden fühlt. Ich habe mich um ihre seelische Gesundheit gesorgt - manchmal auch um ihr Leben - und mich mit den anderen beraten, was man für sie tun könne. Ich habe ihr viele Kleidungsstücke vererbt, Jeans aus USA, eine Lederjacke aus Holland, ein paar alte Lederkoffer aus Familienbesitz, weil sie daran Freude hatte. Ich habe ihr Bücher geschenkt, weil sie die liebt und war auch in anderen Dingen stets großzügig. Die Reise sollte uns einander näher bringen. Das Ziel hatte sie sich ausgesucht, die finanzielle Seite habe ich für's Erste übernommen.

Tatsächlich funktionierte das Miteinander genau einen Tag. Dann begann sie sich mir gegenüber zu verschließen. Ich fragte erst mich und dann sie, was ich möglicherweise falsch gemacht hätte. Sie blieb mir eine Antwort schuldig. Am zweiten Tag lernten wir die Gruppe Mitreisender kennen. Sie gab sich keineswegs introvertiert, war gesellig und unterhaltsam im Umgang mit den anderen. Mit mir hat sie ab diesem Zeitpunkt selbst Blickkontakt gemieden. Gesprochen wurde nur das Nötigste. Kann ich Dein Deo benutzen? Ich brauche Bargeld. Kann ich als erstes in's Bad? Wann treffen wir uns morgen? Ich versuchte small talk, bemühte mich um Umgänglichkeit, prallte jedoch ab. Sie ging früher oder später frühstücken, saß dann meist am anderen Ende des Tisches und verweigerte jegliches Miteinander. Die nötige Aufmerksamkeit suchte sie bei denen, die selbst durch ihr Verhalten viel Aufmerksamkeit auf sich lenkten.

Am Abend des dritten Tages zwang ich sie zu einer Aussprache, drückte meine Verletztheit aufgrund ihres Verhaltens aus und gab ihr drei Lösungsmöglichkeiten. Erstens, ich würde abreisen, sie bliebe und kümmere sich dann selbst um ein Rückflugticket, denn mit einem Standby Ticket kann sie nur gemeinsam mit mir fliegen. Zweitens, sie reise gemeinsam mit mir ab und drittens, wir würden uns aussprechen und zusammenraufen, damit der weitere Trip für uns beide erträglich wäre. Sie hatte weder Kreditkarte noch das Geld, um ein Ticket zu kaufen - das hätte ich jedoch für sie übernommen - und wollte auch nicht abbrechen. Was blieb, war die letzte Möglichkeit. Das darauffolgende Gespräch war jedoch nicht sonderlich zufriedenstellend. Sie verhedderte sich in Rechtfertigungen und Ausflüchten, konnte mir keine konkreten Fehler meinerseits nennen und hatte keinerlei Erklärung für ihr offensichtlich ablehnendes Verhalten mir gegenüber. Ich beließ es dabei, beobachtete aber in den folgenden Tagen keine großartige Annäherung oder Veränderung in ihrem Verhalten. Die Hotelbuchung am Ende hatte ich inzwischen storniert, den Rückflug vorverlegt. Für sie entstanden dadurch keine weiteren Kosten.

Am letzten Tag suchte ich wieder das Gespräch, da ich so nicht auseinandergehen wollte. Ich wartete auf einen günstigen Moment und bat sie, mir über ihre Gefühle in den vergangenen Tagen zu berichten. Sie winkte ab und wurde aggressiv als ich meinte, ich würde gerne eine Sache dazu sagen. Was ich sagte, war ein ganz simples ich habe dich lieb. Dann ging ich bis zur Fahrt zum Flughafen meine eigenen Wege. Mir wurde - wie bereits ein paar Monate zuvor mit einem mir nahestehenden Menschen - klar, dass ich eine Person wegen eines Verhaltens nicht aufhöre zu lieben, dass ich mich aber selbst mehr liebe und deshalb Grenzen setzen muss. Wer mich nicht wertschätzt, nicht mit mir zusammen sein will, wer mich nicht respektiert und mich stattdessen geringschätzig behandelt - ganz gleich aus welchen Gründen - den kann ich zwar nicht ändern aber ich kann mich aus der Situation entfernen. Auch Familie bin ich nicht auf Gedeih und Verderb ausgesetzt. Ich bin ein erwachsener Mensch, ich kann wählen.

Die Verbindung im obigen Foto ist jetzt zerschnitten, jeder steht für sich alleine. Mir macht das zu schaffen, weil ich es gerne nachvollziehen würde, was da in und mit ihr geschehen ist. Ich mag nicht einfach akzeptieren, dass etwas so ist, ich möchte es verstehen können. Verstehen hat mir immer geholfen. Die Zwillingsschwester meinte, selbst sie bemerke, dass räumliche Nähe die Verbindung der Schwestern schwieriger mache und auch sie beide nie wirklich miteinander reden könnten. Sowohl sie selbst als auch Freunde hätten in der Vergangenheit vergleichbare Erfahrungen mit meiner Schwester machen müssen. Bei der Mutter verhält sie sich wie in einem Hotel, nimmt Kost und Logie sowie Zuwendung mit, ohne je etwas dafür zurückzugeben. Es erinnert mich an pubertäres Verhalten, an Selbstverständlichkeiten, die keine sein sollten, wie man aber erst im Laufe der Jahre begreift. Es wundert mich nicht mehr, dass sie so viele Schwierigkeiten an diversen Arbeitsstellen hatte, auch nicht, dass ihr das Aufrechterhalten von Freundschaften schwer fällt. Ich frage mich nur, ob meine Abkehr nicht das Gegenteil dessen bewirkt, was für sie heilsam sein könnte. Verantwortlich bin ich aber dafür nicht, denn sie ist kein Kind mehr. Im Gegenteil, sie ist eine erwachsene Frau, die auf die 40 zugeht.

Meine Fragen werden unbeantwortet bleiben, mein Verhalten jedoch konsequent. Ich merke, wie viel Kraft es mich kostet, immer wieder derartigen Situationen ausgesetzt zu sein. Eine Frage, die mich schon lange begleitet, ist: was ist in mir, das es anderen erlaubt, mich respektlos und herabwürdigend anstatt liebevoll und wertschätzend zu behandeln? Die kleine rote Hütte auf dem größeren der beiden Felsen behütet eine Antwort - keine Erklärung aber eine Ahnung aus längst vergessenen Tagen. Sie beschützt das Herz, das dort oben in die Unendlichkeit hinaus sehnt.

... link (10 Kommentare)   ... comment


Freitag, 20. September 2019
Say My Name, Say My Name

Eine Kultur versteht man erst, wenn man die Sprache kennt. Das hat mal jemand behauptet, der klüger ist als ich. Es sind nicht die Schriftzeichen gemeint - wobei die natürlich auch zum Lesen notwendig sind - sondern die Bilder, die Umschreibungen und die Art der Formulierung. So sind die Japaner in einer Sprache mit vielen indirekten Formulierungen unterwegs - man will ja niemanden auf den Schlips treten - während wir Deutschmuttersprechenden im Ausland mit englischen Formulierungen oft sehr hart und direkt unangenehm auffallen. Aussprache ist da noch ein ganz anderes Kapitel. Übrigens können die Japaner - im Gegensatz zur landläufigen Meinung - sehr wohl ein R aussprechen, sie tun es nur vielleicht nicht an der vorgesehenen Stelle. So ergeben sich Verhörer ganz ungewöhnlicher Natur.

Beispielsweise lernte ich das neue Wort undulated. Verstanden habe ich aber immer underrated. Bei Fragen bezüglich Steigungsgrade der vor uns liegenden Etappe produzierte mein Kopf demnach für underrated terrain der Wirklichkeit nicht entsprechende Bilder. Unterbewertete Hügel waren im Endeffekt nicht so schlimm wie angenommen. Schlimm war dafür der Gegenwind an der Küste. Ja, beim Radfahren kommt der Wind immer von vorne, es gibt aber Steigerungsgrade, beispielsweise in langen, geradlinigen Tunneln, die dann einem Windkanal gleichen. Abgesehen davon verstand ich den Tourguide einigermaßen gut.

Ganz anders als Informationsaustausch funktioniert Humor in Japan. Ich hatte den Eindruck, die Japaner verstehen keine Ironie, sondern nehmen jede Aussage für bare Münze. Nachdem ich mehrfach meine Abneigung gegen das grüne Fahrrad erwähnte, wollte der Mechaniker allen Ernstes blaue Farbe besorgen. Auch mit den Namen ist das so eine Sache. Während ich schon unsere europäischen Namen verwechsle, liegen mir die japanischen sehr quer im Gedächtnis. Tatsuro durfte von uns mit Tats abgekürzt werden, obwohl die Japaner an sich Namen lieber verlängern, indem ein -san angehängt wird. Dieses -san bedeutet so viel wie ehrwürdige/r, wird aber nicht in der direkten Ansprache verwendet. Ich fand's sehr schick und sprach fortan von Tatsan, was wiederum wie der Name eines bekannten Dschungelkönigs klang. Doch so sah Tats bei Weitem nicht aus, eher wie ein Spargelkönig. Andere sprachen von engl.Touch oder Toots, jeder wusste aber instinktiv, wer gemeint war.

Dann gab es da noch einen Taijisan, der in den ersten Tage von mir mit jigong angesprochen wurde - halt irgendwas mit Kampfkunst. Mayuko fuhr das Begleitfahrzeug mit Mechanikzubehör und Gepäck. Meinen englischsprachigen Mitreisenden erklärte ich, sie sollen sich einfach My Joghurt merken, was manche Situation am Frühstückstisch auch nicht gerade erleichterte. Sie war es, die uns allen unsere Namen zum Abschied in japanisch auf ein kleines Blatt Papier malte. Eine sehr schöne Geste, wie ich finde, bin mir aber nicht sicher, ob ich fortan in japanischen Kreisen nicht Ninja oder amazon oder sogar asshole genannt werde. Ich kann's jedenfalls nicht lesen. Und irgendwie finde ich das da oben auch enttäuschend kurz. Sieht aus wie PT, der Domain Abkürzung für Portugal oder der Abkürzung für part time für Halbtagstrottel. Namen sind in meinen Augen auf japanisch so unterbewertet wie manche Landschaft, ob nun sanft hügelig oder holperig ausgesprochen. Wenn Sie verstehen, was ich meine.

... link (0 Kommentare)   ... comment


Donnerstag, 19. September 2019
Climbing up that Hill
Beim Duschen musste ich heute feststellen, ich bin jetzt Tricolore. Das kommt davon, wenn man zum Radfahren Hosen in drei verschiedenen Längen trägt. An der Wade braun, über dem Knie ein Streifen heller und ab Hüfte ziemlich weiß. Auch die weißen Hände verraten mich, während der Rest der Arme gut abgedunkelt ist. Es ist leicht zu erraten, was ich die letzten zwei Wochen getrieben habe, denn es gibt nur sehr wenige Sportarten, die sich so in Farbe und Form am Körper manifestieren wie das Radfahren. Man warnte mich vor Hornhaut am Hintern. Ganz so schlimm ist es nicht, obgleich ich noch ein wenig unter den wunden Stellen am Beinansatz leide, die von den Nähten der Unterwäsche rühren. Ich weiß, Sie wollen das nicht so genau wissen, müssen da aber jetzt durch. (Im Übrigen ist Toilettenpapier in Japan so dünn, da kann man durchatmen)

Das heimische Tourenrad kommt mir wie ein Seniorengefährt vor - ich bin eine tiefere Neigung gewöhnt, die mir aber am letzten Tag einen Hexenschuss bescherte - und das Crossbike fühlt sich am Popo wie ein Mercedes an, der jede noch so kleine Unebenheit galant abfedert. Nur wer richtig sportlich gefahren ist, weiß, was speed bumps bei einer Talfahrt bedeuten können. Aber vorher muss man ja immer erst hoch. Das war ich von meiner flachen Heimatstadt nicht gewöhnt, und die Weinbergerklimmungen in meiner Kinderklappradzeit hatte ich erfolgreich verdrängt.

Ganz peinlich wird's, wenn einen dann noch wesentlich ältere Mitmenschen am Berg locker überholen, während man selbst auch mit Hautatmung nicht mehr der Luftknappheit Herr wird. Überhaupt ist die Haut vorwiegend damit beschäftigt, die gerade aufgenommene Flüssigkeit ungefiltert zu verdampfen. Muskelkater hatte ich am Abend nie, auch keine schweren Beine, doch machte mir mein allgemeiner Zustand ein bisschen zu schaffen. Mit dem Fitnesslevel einer Bettlägerigen bin ich angetreten, hatte ich doch Monate mit Schmerzen beim Gehen zu kämpfen, inzwischen spüre ich die massive Verbesserung meiner Grundausdauer.

Meistens wurde nach der ersten Stunde Fahrt eine kurze Pause eingelegt. Die ersten 30km des Tages kam ich deswegen nicht wirklich in Schwung. Doch nach der Mittagspause und einer längeren Strecke spürte ich jeden Tag diesen seltsamen Schub. Als hätte mein Körper einen Schalter umgelegt. Plötzlich gingen Steigungen mühelos und schnell. Da konnte ich als Ausgleich auch mal ein paar Senioren entmutigen überholen. Und wenn's ganz steil wurde, hatte ich ja noch den großen Vorteil trainierter Oberschenkelmuskulatur. Fitnessstudio, my ass. Wie bei so vielen Dingen findet der eigentliche Kampf aber nicht im Körper, sondern im Kopf statt.

Ich fahre gerne alleine, denn meistens rede oder singe ich. Das ist mir dann immer etwas peinlich. Manchmal hilft mir lautes gut Zureden, manchmal eine gepfiffene Melodie und gelegentlich auch Gesang ohne Worte, weil ich mir die sowieso nie merken kann. Wenn's hart kommt, wechsle ich zu Fluchen oder Jammern. Sie kennen die fünf Trauerphasen nach Kübler-Ross? Genau, ich stecke dann zwischen Verhandeln und Verdrängen fest. Eine kleine Kostprobe: release your inner Buddha! F*cking NOW! oder Wenn ich das schaffe, dann esse ich nachher zwei Eis oder auch gerne genommen KOMM SCHON! TRITT REIN! gefolgt von lautem Stöhnen und Atemgeräuschen. Die Semiprofis haben mir einen Trick für lange Steigungen verraten. Man darf nicht gucken. Also Kopf nach unten und auf hundert zählen, bevor man wieder hoch schaut. Ich habe in der letzten Woche sehr viel und sehr laut gezählt. In verschiedenen Sprachen - Ichi - Ni - San, also eins, zwei, drei auf japanisch. Rechnen Sie mal aus, wie oft sie das wiederholen müssen, um bis 100 zu kommen.

Seit meiner Rückkehr suche ich mir morgens zwischen 4 und 6 Uhr ein paar Hügel in München, was gar nicht so einfach ist, denn die Stadt im bayerischen Voralpenland ist sehr flach. Einzig der Olympiaberg gibt ein bisschen Steigung her. Den kann man auch öfter hoch fahren, weil ich meist bei drei schon oben bin. Leider ist es um diese Uhrzeit noch sehr dunkel, weshalb das Runter nicht so viel Spaß macht, das ja eigentlich die Belohnung für das Rauf ist - instant gratification sozusagen. Man könnte auch mit Lampe, dagegen wehrt sich aber mein Radsportherz, denn je weniger Klimbim am Rad, umso leichter. Als Kompromiss dient mir eine kleine Stirnlampe, mit der ich vereinzelt entgegenkommende Läufer erschrecke. Bisschen Aufmerksamkeit ist auch eine Art Belohnung. Immerhin hat mich von denen noch keiner überholt.

Warum zur Hölle bin ich aber so früh in dieser gottverdammten Kälte unterwegs? In Gesetzesvorlagen zum Schutz des Flugpersonals steht die schöne Formulierung, die meinen derzeitigen Biorhythmus gut umschreibt: der Körper befinde sich in einem unbekannten Akklimatisierungszustand, und eigentlich meint man damit nicht das Jetlag, das bei Gewöhnung an eine fremde Zeitzone entsteht, sondern ein wildes Durcheinander von Tag und Nacht. Irgendwann wird meinem Körper hoffentlich klar, dass er sich nicht mehr in Japan befindet, schließlich weigerte er sich dort erfolgreich in der ersten Woche gegen vorgegebene Abfahrts- und Schlafenszeiten. Jetzt geht das Spiel wieder von vorne los. Nachts wach, nachmittags müde, die Augen auf Halbmast und die Gedanken kurz vor REM. Wenn ich heute Nacht wieder wach bin, berichte ich weiter. Bis dahin folgen Sie mir bitte in die Kommentare.

... link (1 Kommentar)   ... comment