Samstag, 23. November 2019
Coming Home X


Fünftausend Tage geschrieben, gelesen, gelacht, geweint, gehofft, genossen, geliebt, gehasst, gesessen, gelinkt, gebildert, gezählt, gehört, gesungen, gebastelt, gelaufen, getanzt, getaucht, gedacht, geflogen, gearbeitet, gereist, gelernt, gefeiert, getrunken, gegessen, gesorgt, gemeckert, gefangen, gepasst, gelassen, gelöscht, geärgert, gefreut, gemenschelt.

Fünftausend Tage, das sind hundertvierundsechzig Monate und dreizehneinhalb Jahre. Auf dass die kommenden Tage, Monate und Jahre mit vielen neuen Gedanken, Geschichten und Erlebnissen gefüllt sein mögen, die Ihr hier lest und kommentiert.

Und jetzt Ihr:

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Freitag, 22. November 2019
Teenage Years


Seit einiger Zeit beschäftigen mich meine Teenagerjahre zwischen 12 und 17, vor allem im Hinblick auf die Beziehung zu meiner Mutter So bin ich über den obigen Tweet nicht nur gestolpert, es hat mich buchstäblich langgelegt. Da es bei mir nicht anders war, es von mir aber anders wahrgenommen wurde verfolgen mit heute noch Schuldgefühle. Das macht mich traurig und wütend zugleich; nicht in Bezug auf andere, eher auf verpasste Gelegenheiten und unbewusste, falsche Schlussfolgerungen. Aber erst mal der Reihe nach.

Aufgewachsen bin ich wegen schwieriger familiärer Umstände bei der Oma. Als sozusagen Einzelkind ist das ziemlich schön, wenn man bedenkt, dass Omas so gut wie alles für die Enkelkinder tun, jedoch wenig von sogenannten Erziehungsmethoden halten. Die Mutter versuchte das während langer Krankheit und nach dem Tod der Oma nachzuholen. Natürlich war ich ein verzogener Fratz, hatte aber auch meine positiven Seiten. Zum Beispiel war ich sehr gut in der Schule, obwohl ich regelmäßig meine Hausaufgaben vergaß, erledigte kleine Aufgaben im Haushalt nur minimal zeitverzögert, kam nie zu spät und morgens auch von alleine aus dem Bett. Ich aß alles was mir vorgekocht wurde, konnte gut mit Geld haushalten und war auch in anderen Dingen stets verantwortungsbewusst. Na schön, das Auto fuhr ich eine Woche nach Führerscheinaushändigung an einen Pfosten und in einer Nacht und Nebelaktion war ich bei abgeschlossener Zimmertüre aus dem Fenster geklettert, weswegen meine Mutter mit der Leiter von der Straße in die eigene Wohnung einsteigen musste. Da war ich aber schon 18. Die Lehrer brachte ich als Klassenclown manchmal auf die Palme und geübt habe ich oft erst am Tag vor der Klavierstunde. Mein Schrank war nie ordentlich und das Bücherregal verstaubt, das Bett nicht gemacht und der Fernseher lief länger als erlaubt. Abgesehen davon - vor allem im Vergleich zu Berichten von Teenagermüttern - glaube ich aber, ein unter erschwerten Umständen verhältnismäßig gut funktionierender Teenager gewesen zu sein.

Nach dem Tod der Großmutter - ich war gerade mal 13 Jahre alt - kam ich in die Obhut der Mutter, die damals Mitte Dreissig und voll berufstätig war. Dieses einschneidende Erlebnis ließ mich für einige Monate völlig verstummen, was meine Mutter auf ihre Person bezog und sich deswegen von mir abgelehnt fühlte. Ich wiederum bezog die Verweigerung jeglicher sozialer Interaktion immer auf die Trauer, konnte halt einfach nicht mehr reden, mich nicht für Gespräche oder Freizeitgestaltung interessieren und die Schulnoten rasten rapide in den Keller. Heute weiß ich, dass Jugendliche kein traumatisches Erlebnis brauchen, um nicht mit den Eltern zu kommunizieren. Sie tun es nicht wegen des Alters. Damals führte diese Verweigerung zum Bruch zwischen meiner Mutter und mir. Mir wurde jahrelang vorgehalten, nicht zugänglich gewesen zu sein, was mich wiederum bei jedem späteren Annäherungsversuch verzweifelt und hilflos zurückließ. Wir sind quasi einmal falsch abgebogen und haben uns immer mehr verfahren, statt einen Blick auf den Plan zu werfen - Navis gab's ja damals keine.

Dieser Bruch zog sich so lange hin, bis ich schließlich den Rat befolgte, der am Ende des Tweets steht: *love them anyway Dazu musste ich aber meinen kindlichen Anspruch auf Geliebt-werden aufgeben, denn das hatte ich meinerseits der Mutter immer vorgeworfen. Das Vorenthalten jeglicher Zuwendung - körperlich wie emotional - in mir verständlicher Art führten wiederum bei mir zu falschen Schlussfolgerungen. Dass ich ein liebensunwürdiger Mensch sei und ich deshalb von meiner Mutter abgelehnt würde, lernte ich mit der Erkenntnis aufzulösen, dass meine Mutter eben auch nur wegen eigener, unbewusster Mechanismen so reagierte. Dabei übersah jahrelang ich die Dinge, die sie mir aus Liebe und Fürsorge gegeben hat. Sie hat meine Interessen in Tanz und Musik, so gut es finanziell eben ging, unterstützt, hat sich durchaus Gedanken und Sorgen um mich gemacht und war letztlich auch immer ganz pragmatisch da, wenn es mal schwierig wurde.

Heute ist sie viel weicher geworden, heute können die verpassten Gespräche und ersehnten Zuneigungsbekundungen zwischen meiner Mutter und mir geschehen. Darüber bin ich sehr froh. Doch manches Mal fühle ich hilflos die Wut über die Fehlinterpretation meines Verhaltens in mir aufsteigen. Ein normaler Teenager zu sein, hätte mir als Aussage schon so sehr geholfen. Stattdessen förderte die Therapeutin frühere Traumata gestalttherapeutisch zutage, während meine Mutter - von mir eingeladen - ratlos daneben saß und ihr eigenes mühevoll hinunterschluckte. Stattdessen bezeichnete die mutterseitige Verwandtschaft meine Unzugänglichkeit als Undankbarkeit, während sie mich zu ihren Zwecken emotional erpresste. Mein Verhalten war jahrelang der willkommene Anlass, mich als Sündenbock für unerfüllte Erwartungen zu institutionalisieren; die Rolle schien mir als "Tochter meines Vaters" buchstäblich auf den Leib geschneidert. Von der Scham darüber will ich gar nicht anfangen.

Zum Glück weiß ich heute, dass die Wut und die Traurigkeit sein dürfen. Ich muss sie empfinden und aushalten - ohne Scham oder Schuldgefühl. Nur so werde ich langsam aber beständig wieder ganz. In der Rückschau bin ich sogar ein bisschen stolz darauf, was ich bereits hinter mir gelassen habe. Nur manchmal, ganz selten, da legt es mich wie jetzt eben flach.

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Mittwoch, 20. November 2019
Love's Too Familiar a Word


Seit einiger Zeit denke ich über das Älterwerden, insbesondere das meiner Mutter nach. Nicht den körperlichen Gebrechen gelten meine größte Sorge, sondern - ganz egoistisch - dem hoffentlich in sehr ferner Zukunft liegenden Tod. Wir hatten nie eine enge Mutter-Tochter Beziehung, zeitweise überhaupt keine, und als die Großmutter starb, bei der ich aufgewachsen bin, wurde meine Kinderseele vom Gefühl erdrückt, ganz alleine auf der Welt zu sein. Trotz allem ist meine Mutter die Frau, die ich als Familie bezeichne, die mich nach besten Kräften unterstützt hat und auf ihre Weise auch geliebt, die mich manchmal auf die Palme bringt und der ich jetzt alles an Liebe zukommen lasse, was ich mir damals von ihr gewünscht hätte. Sie ist meine Mutter. Wenn sie stirbt, wird mit ihr auch ein Teil von mir sterben.

Freunde erzählen mir vom Tod der Eltern. Dass sie sich jetzt ganz alleine fühlen, denn obwohl da Partner und eigene Kinder sind, hätten diese eine davon verschiedenartige emotionale Konnotation. Die Eltern kennen einen am längsten, in vielen Fällen auch am besten. Wir sind unumgänglich mit ihnen verbunden, ihnen als Kind auf Gedeih und Verderb ausgeliefert und wo wir die Verbindung bewusst trennen, weil das Zerwürfnis unüberbrückbar ist, spuken sie in Abwesenheit durch Unterbewusstsein und Konditionierung. Mit dem Vater und der Mutter wird die eigene Kindheit als Symbolbild für immerwährende Hoffnung auf bedingungslose Liebe und Geborgenheit zu Grabe getragen.

So erlebt ein Freund, den ich mein halbes Leben kenne, das Fehlen der Eltern. Obwohl er nie viel Geborgenheit und Unterstützung erfuhr, hat das Leben nach dem Tod der Mutter für ihn eine neue, größere Dimension der Einsamkeit eröffnet. Natürlich hat er enge Freunde, die für ihn da sind und die mögliche neue Partnerin wird ihm ebenfalls zur Seite stehen, genau wie der Ziehsohn. Doch da gibt es zu seinem Bedauern keine Familie mehr, keine Blutsbande, keine Wurzeln. Seine Ausführung macht mich traurig und betroffen. Wir kennen uns so lange und dennoch kann ich nichts für ihn tun als ihm die Hand reichen. "Ich möchte Deine Familie sein", sage ich, obwohl ich weiß, dass ich damit seine Einsamkeit nicht auflösen kann. Nicht diese Einsamkeit - die Einsamkeit des Menschseins.

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