Dienstag, 19. Mai 2020
Tageblog 19.5.20 - von früher nach heute
Die Sonne hat den Sommer mitgebracht. Noch sind die Temperaturen erträglich. Das Grün der Bäume macht mich glücklich, genauso wie die Blumen, die jetzt überall - auch in meinem Zimmer - blühen.



In diesem Licht wirkt alles nur noch halb so schlimm. Überhaupt habe ich mich langsam durch die Unerträglichkeit mittels Akzeptanz an's Ufer der Gelassenheit gerettet. Mir kommen immer wieder die fünf Trauerphasen in den Sinn. Trauer über etwas Verlorenes - egal ob Mensch oder Situation - die den Weg vom Leugnen, dem Zorn, der Verhandlung, durch die Depression und schließlich zur Akzeptanz findet. Meistens ist der Weg nicht geradlinig, oft führt er rückwärts oder seitlich, eine Abkürzung gibt es allerdings nicht.

Damals, als alles noch offen schien und ich jung, als ich aufstrebende Instrumentalkünstlerin mit großer Existenzangst im Nacken war, da gab es nur wenig altersgemäße Unbeschwertheit, obwohl die Situation nicht unbedingt schwierig war. Zu viele wenn und aber Gedanken, zu viel Nachdenken über Vergangenheit und Zukunft trübten meine Tage ein. Über allem lag ein verdunkelnder Schleier, den ich nicht zu fassen bekam, um ihn zu zerreissen. Ich wusste zu wenig über das Leben, während ich bereits zu vieles darüber ungewollt erfahren hatte. Diese Schwere durchzog nicht nur mein ganzes Dasein, sondern auch mein Wirken. Das Risiko loszulassen war zu groß als es einfach auszuprobieren. So klammerte ich mich an Menschen, Ereignisse und leere Hoffnung; und auch die Töne, die ich erzeugte waren so eng wie der Griff um meinen Hals, durch den sie sich hindurchquälten. Jeder Luftzug ein Kampf gegen das Gewicht auf meinem Brustkorb. Das Risiko aufzugeben, schien erst im Vergleich zum Verlorenen marginal. Wie wenig wusste ich, dass erst das Aufgeben und Loslassen zu der gewünschten Befreiung führte.

Rückwirkend lässt sich Vieles konstruieren aber eben nur linear, weil der Kopf es nicht anders gewohnt ist. Deshalb wehre ich mich gegen das fatalistische 'es hat so kommen müssen' Gewäsch. Wer weiß schon mit Sicherheit, wie die Dinge durch eine andere Abzweigung gekommen wäre. Ganze Drehbücher basieren auf derlei Gedankenspielerei. Das ist es nicht, was ich meine, wenn ich heute erkenne, um wie viel leichter ich atme, weil ich meinen Weg gegangen bin. Meine Töne klingen heute offener, voller und weniger gequält. Der Drang nach Dichte, das Streben nach Perfektion ist dem Zulassen von
Leichtheit und Fehlerhaftigkeit gewichen. Die Notwendigkeit des Messens an anderen statt an mir selbst und die Gnadenlosigkeit meines Urteils wurden durch Güte ersetzt. Heute kann ich nicht nur meine Fehlbarkeit, sondern auch die der anderen akzeptieren. Dazwischen liegt ein langer Weg, ein Trauerprozess, der in einem Stück eingefangen ist, das ich lange nicht hörte oder spielte. Es ist der Klagegesang aus der Welt der Mythen über den Tod von Linos. Jener maß sich in der Schönheit seines Gesangs mit Apollo und wurde von ihm getötet. Das moderne Stück mit dem Titel Chant de Linos war das Paradestück meiner künstlerischen Abschlussprüfung - sozusagen meine Promotion. Ich liebte es, weil Jolivet - der Komponist - damit alle Arten von Trauer darstellt und ich mich darin wiederfand.

Heute entdeckte ich es in der Einspielung eines damaligen Kommilitonen auf YT. Das Stück ist für ungeübte Ohren nicht besonders eingänglich, der Kommilitone aber inzwischen in Musikerkreisen weltberühmt. Und ich hätte zwar die ein oder andere Passage anders gespielt, kann seine Leistung aber neidlos würdigen. Das war nicht immer so.

... link (6 Kommentare)   ... comment


Mittwoch, 6. Mai 2020
Tageblog 6.5.2020 - volle Kraft zurück
Wenn der Tag mit frühem Aufstehen, sich zum Sport fertig machen, Tasse Tee und dann wieder in's Bett gehen beginnt, dann weiß ich auch nicht. Nicht nur die ganze Energie, auch die Freude, die Hoffnung, der Mut, der Tatendrang, alles weg. Meine Vermutung verstärkt sich, dass es noch sehr lange so gehen wird - mindestens bis nach der Rente. Meine selbstgelegten Termine und Aufgaben dünnen langsam aus. Der Rehasport hat mich bislang noch ganz gut bei der Stange gehalten, denn der bedeutet frühes Aufstehen, dann strammes Radeln zum Rehazentrum, dort anderthalb Stunden Übungen inklusive Balance und Dehnen, danach zwanzig Minuten Heimradeln. Der Rest des Tages hielt ein Gefühl von etwas getan zu haben an, obwohl danach nicht mehr viel passierte. Jetzt habe ich nur noch drei Termine bis das bewilligte Kontingent erschöpft ist. Gerade fühle ich mich aber alles andere als diszipliniert und habe große Mühe, mich im heimischen Rahmen bei der Stange zu halten.

Noch nie sehnte ich mich so sehr nach externen Aufgaben wie derzeit. Ich vermisse meinen Job, unterwegs sein, in fremde Kulturen eintauchen, der Austausch mit KollegInnen und Passagieren, die Unregelmäßigkeit, Tag- und Nachtgleiche - also der verwirrte Zustand im Körper, wenn ich ihm durch Tätigkeit oder Sonnenlicht Tag vorgaukle, innerlich aber alle Uhren auf Nacht stehen. Ich vermisse auch anderes, beispielsweise echte Begegnungen mit Menschen, Begegnungen, die nicht nur die Oberfläche ankratzen, sondern ein Austausch mit Einblick in die nicht so schönen Ecken drunter. Doch hier beobachte ich einen seltsamen Widerspruch. Je mehr ich Begegnungen vermisse, umso stärker ziehe ich mich zurück.

Meinen Alltag zu beschreiben braucht nur wenige Worte: ausgedünnt, langsam und zurückgezogen. Ich beobachte, wie mich Menschen schnell aggressiv werden lassen, wie ich sie vermeide, indem ich nur sehr früh einkaufen gehe oder draussen Sport treibe. Es gibt Freunde, die ich kontaktieren könnte. Gleichzeitig fällt es mir immer schwerer, dies in die Tat umzusetzen. Und dann ist da die Erinnerung an eine sehr dunkle und schwierige Zeit, die Panik in mir hochsteigen lässt. Ich erahne dieses Gespenst vor der Türe, das sich durch den offenen Spalt drängt. Das Dumme daran ist, die Türe befindet sich in mir zwischen Bewusstsein und Unterbewusstem. Sie steht vor allem im Schlaf und frühmorgens schon mal weit offen. Am Tag sperre ich sie ab und schaue nur durch das Guckloch wenn es wieder mal klingelt. Was soll ich also den Menschen erzählen, wenn sie mich fragen. Von Geistern, die hinter verschlossener Türe ihr Unwesen treiben? Nein, mir geht es natürlich gut, ich habe ja alles, was ich brauche. Nur einen Tagesablauf, den habe ich nicht - eher einen Zeittotlauf.

Der Widerspruch beginnt seltsamerweise bei den schönen Erlebnissen. Gestern beispielsweise habe ich mit einer Freundin, die professionelle Pianistin ist, eine weit zurückliegende Erinnerung aufgefrischt. Wir spielten die Prokoffiew Sonate, erst mal nur zum Antesten und sehen, woran jeder für sich noch arbeiten muss. Nach zwei, drei Wochen regelmäßigem Üben war das Gefühl des Fliegens beim Spielen wieder da, gleichzeitig aber auch die Angst vor dem Absturz. Ich war nie der intrinsische Typ, hatte zwar Spaß am Musizieren, das ziellose Üben alleine erzeugte aber in mir keine Freude. So ist das mit vielen schönen Erlebnissen, bei denen mir hinterher das Fehlen so viel schmerzlicher bewusst wird, als es mir vorher ist.

Ein schönes Erlebnis ist nur so schön, weil es nicht ständig da ist, sagte meine Oma mal zu mir. Darüber musste ich nachdenken und begriff, wie Süchte entstehen. Meine Mutter hingegen war Meisterin im Vermeiden, denn wer sich freut, kann auch enttäuscht werden. Ich fand das keine akzeptable Lösung. Etwas zwischen überhaupt nicht zulassen und ständig suchen musste doch möglich sein. In der Auseinandersetzung mit diesen Gefühlen stieß ich auf einen Ansatz, der aus dem Buddhistischen stammt. Man lässt die Gefühle zu, vermeidet nichts - auch nicht durch Ablenkung - und beobachtet sie, ohne sich zu sehr daran aufzuarbeiten. Der Vergleich von Gefühlen mit Wolken und Wetter gefiel mir. Wir können nur an unserer Einstellung dazu etwas ändern, was aber den Wolken und dem Wetter ziemlich egal ist. Also habe ich mir die richtige Kleidung für meine Seele besorgt, um bei Regen nicht allzu nass zu werden. Schutzkleidung. Da fängt der Vergleich zwischen Einstellung und Kleidung an zu schwächeln, denn irgendwann ist auch die beste Regenjacke durch.

Dieses lähmende Gefühl geht inzwischen bis auf die Knochen, schwer aushaltbar und nicht zu verändern. Jetzt hilft auch kein gelegentliches Telefonat oder andere Ablenkung mehr. Es ist einfach da, färbt auf alles ab was ich mache und scheint so endlos wie für ein Kind die Zeit bis zu den nächsten Ferien. Gespräche verpuffen, die Sehnsucht bleibt, wird groß, übermächtig. Manchmal weine ich, manchmal schließe ich die Augen und stelle mir eine Begebenheit vor, in der ich mich sicher und geborgen fühle. Das funktioniert ganz gut. Dann schlafe ich ein. Wenn ich wach werde, ist entweder der Tag noch nicht vorbei oder hat noch nicht begonnen. In diesen Momenten bezweifle ich, dass es jemals anders sein wird. Im Grunde war es immer so, nur habe ich mich besser ablenken können. So verbringe ich ganze Tage ungeduscht, zwischen Küche und Bett. Irgendwann werde ich zu essen aufhören - einkaufen, anrichten, alles zu viel Umstand.

Vor zwei Wochen begannen ein Internetfreund und ich eine Übung. Jeder schreibt morgens drei vorherrschende Gefühle auf, unkommentiert und ohne Beurteilung. Ich hoffte auf eine Regelmäßigkeit, an der ich mich festhalten kann. Manchmal bin ich überrascht von einem positiven Gefühl, bezweifle aber sofort seine Nachhaltigkeit. So entdeckte ich, dass Gefühle im Grunde nicht so vielfältig sind, wie immer angenommen. Nur die Interpretation ist es. Der Körper schüttet Adrenalin in gewissen Dosen aus und wir empfinden dabei ein Unwohlsein, mal stärker, mal schwächer. Der Kopf findet dafür in der Erinnerung sofort eine Ähnlichkeit und attribuiert. Eigentlich bin ich also gar nicht hoffnungsvoll oder verzweifelt, sondern nur mal mehr und mal weniger auf der Flucht. Kürzlich las ich von einem vierten Zustand neben Fight, Flight und Freeze. Er heißt Fawn, übersetzt bedeutet das sowas wie herumschwänzeln oder hofieren, auch katzbuckeln. Ich finde mich dabei wieder, meine dunklen Gedanken zu hofieren, damit sie mich nicht wie ein Raubtier attackieren. Auch ein Ablenkungsmanöver, genau wie zu arbeiten oder telefonieren oder essen oder schlafen oder alles andere, das im Grunde nur vergehende Zeit erträglich werden lassen soll.

Irgendwo habe ich diesen Titel gelesen: Das Leben ist ein langer, ruhiger Fluss. Damals befürchtete ich, die Aussage träfe zu. Heute empfinde ich es als anstrengend, den Fluss am Laufen zu halten, denn ohne mein Zutun bewegt sich die Kloake nicht. Das gilt nicht nur für derzeitige Krisenzeiten, in denen alle glauben, wenn nur wieder alles zur früheren Betriebsamkeit zurückfände, würde es ihnen besser gehen. Ich befürchte heute, das ist anhaltend allgemeingültig. Und so erschrecke ich vor jedem Anflug von Traurigkeit oder Überforderung, denn das könnte bedeuten, ich werde wieder auf Null zurückkatapultiert an einen Punkt, als alles noch viel aussichtsloser war. Lösung habe ich dafür auch keine. Eines ist jedoch sicher: morgen gehe ich nochmal zum Rehasport, ganz früh, ganz aufgedreht, und danach genieße ich die Genugtuung, wenigstens ein bisschen was geleistet zu haben.

... link (5 Kommentare)   ... comment


Donnerstag, 30. April 2020
Tageblog 30.4.20 - Blumenkonglomerat
Heute unter der Rubrik erste Male einen Blumenstrauß zusammengestellt. Oder wie nennt man die Kombination diverser Blüten- und Grünstengel? Ikebana ist es nicht, denn das erfordert sehr viel Geschick und vor allem Kontemplation. Was ich gemacht habe, war alles andere als kontemplativ oder geschickt. Anlass hierzu war ein Notfall der besonderen Art. Und weil außergewöhnliche Umstände auch außergewöhnliche Maßnahmen erfordern, ging ich kurzerhand Blumen besorgen. Wie schwer kann es schon sein, einen Strauß selbst zu fertigen? Die Antwort kann ich hier schon mal verraten: der Schwierigkeitsgrad hängt maßgeblich von der Anspruchshaltung der Erstellenden in Bezug auf das Ergebnis ab. Im Klartext heißt das schwer - oder zumindest schwieriger als vermutet.

Man braucht ein paar verschiedenfarbige Blumen, etwas Füllmaterial und ein bisschen grün für den Rand, das die Blüten stützt, zudem ein gutes Augenmaß, Geschmack und ein Gefühl für Pflanzen. Die Blumen waren schnell besorgt, ebenso das Füllmaterial. Geschmack und Augenmaß traue ich mir zu, nur das Gefühl für Pflanzen scheint ein bisschen zu fehlen. Kennen Sie das, wenn man etwas auf eine ähnliche Länge kürzt und während des Prozesses merkt, man hat zu viel abgeschnitten? Bei Blumen bestimmen Blattansätze und Verästelung die Länge. Die Blätter machen das Wasser faulig, folglich reißt man sie entweder ab oder kürzt den Stil darüber. Ich habe mich nach eingehender Betrachtung für die Variante 'wie die Natur sie hat wachsen lassen' entschieden, denn alles andere war mir zu riskant.

Bei Floristikangestellten sieht das Binden eines Straußes sehr leicht aus. Eine Hand hält die Stengel, während neue Stiele von allen Seiten ergänzt werden. Danach wird unten auf gleiche Länge gekürzt. So hatte ich einen wilden Ballen in der Hand, die Blüten nach allen Seiten geneigt und das Grün kreuz und quer. Obwohl ich gelb und rot abwechselnd ergänzte, schienen sich gleiche Farben nach dem Ablegen eigenwillig anzunähern. Mit einem Seufzen band ich die Stiele zusammen, denn die Empfängerin würde sicher selbst für das Arrangement sorgen wollen. Spätestens wenn die Tulpen nachwachsen, sind die anderen Blüten zu kurz, weshalb ich nur die Tulpen kürzte. Das Ergebnis sehen Sie hier
(und nein, ich möchte keine Krautkommentare hören!)



Das Gefühl hinterher hat was von selbstgetöpfert - man fertigt was an, das nicht richtig toll gelingt aber andere trotzdem mit dem Ergebnis beglückt. Auch in der Produktion wenig Kontemplation und mehr Konglomerat. Andererseits ist das wilde Ding vergänglich. Falls Sie also demnächst etwas selbst fertigen und es nicht gut gelingt, machen Sie den Banksy bevor es andere tun. Oder schenken Sie Pralinen. Pralinen gehen immer, und die verschwinden ganz schnell von alleine (vermutlich Verdampfung).

... link (2 Kommentare)   ... comment