Dienstag, 4. August 2020
On the Road Again
Auch wenn die Straße eher eine Startbahn und die große Freiheit noch eine Weile eingeschränkt ist, freue ich mich, wenigstens ab und zu wieder unterwegs zu sein. Das Leben am Boden ist nämlich anstrengend. Wenn ich nicht aufpasse, versinke ich im Sumpf von Untätigkeit, Langeweile und einer darauffolgenden Sinnkrise. Seit Monaten bewältige ich einen Tag nach dem anderen. Keine langfristigen Pläne, keine neuen Abenteuer, keine tiefgreifenden Änderungen. Ein Schritt vor den anderen. So funktioniert mein Alltag eher schleppend, doch die Zeit geht so auch vorbei. Ich habe mir angewöhnt, jeden Tag etwas zu tun, das mir Freude bereitet - Frühsport mit dem Fitnessfreund im Park (upgrading), musizieren mit der Klavierfreundin (performance), aushäusige Gartenarbeiten (outsourcing) und telefonische Kontaktaufrechterhaltung (maintenance). Das alles braucht zwar Kraft, setzt hinterher aber auch Energie frei, für die ich am Abend dankbar bin. Diese ungewöhnliche Zeit hat mir gezeigt, wie wichtig eigene Widerstandsfähigkeit und innere Entwicklung sind, und an diesen Punkten arbeite ich für mich.

Am Wochenende stand nun erneut ein Indienflug auf dem Plan, ein sogenannter Rückkehrerflug. Wie die Kollegin richtig bemerkte, gibt es nicht so viele indische Restaurants bei uns wie Menschen, die wir wöchentlich von dort nach hier transportieren. Tatsächlich bleiben die auch nicht in Deutschland. Der Anzahl zufolge, dürften also nicht nur indische Restaurants, sondern auch Reinigungsbetriebe und Kundendienstzentralen im Britischen Königreich und Amerika bald wieder reibungslos laufen. Die Angestellten des Flughafens lernen anhand von Schildern den korrekten Gebrauch von Masken, was möglicherweise ein Hinweis darauf ist, wieso viele ihre Masken nur noch aus kosmetischen Gründen tragen. Auch ich habe inzwischen Pickel am Kinn und um den Mund, muss sie aber nicht mehr überschminken, da ich ja für die gesamte Dauer des Fluges eine Maske trage. Das spart viel Zeit und Geld.



Ein neuer Fetisch scheint das Messen von Körpertemperatur zu sein. Nicht nur bei der Einreise, sondern auch beim Betreten des Hotels oder anderer Einrichtungen, überall wird einem ein pistolenähnliches Gerät vor die Stirn gehalten. Leider lag meine Körpertemperatur immer über 35°. Das nimmt man in Indien aber nicht so genau, denn die Umgebungstemperatur muss da sicher noch hinzugerechnet werden, wie man auch ein bisschen was addiert, wenn unter Zunge oder Arm gemessen wird. Übrigens hatte auch ein Passagier nach dem Aufwachen starke Bedenken seine Körpertemperatur betreffend, nach dem Toilettengang ging's aber wieder. Vermutlich konnte er das Fieber dort um 5 Grad runterpressen. Meine eigene Temperatur stieg beim Abendessen ebenfalls so stark an, dass selbst die Augen schwitzten. Das hauseigene Biryani war gar nicht mal so lecker, dafür aber beim ersten Bissen höllisch scharf. Hätte ich am nächsten Tag rektal Fieber gemessen, ich bin sicher, das wären ebenfalls fünf Grad mehr gewesen.


Der Brotteig wird am Deckel auf die Schüssel gebacken

Das schönste an der Reise war demnach nicht das Essen, auf das ich mich gefreut hatte, sondern die Klimaanlage. Während daheim alle bei über 30 Grad schwitzten, konnte ich eine Nacht wunderbar kühl schlafen. Zurück erwarteten mich immerhin noch 29 Grad in der Wohnung, die jedoch im Laufe des Tages ein paar Skalenpunkte nachließ. Noch nie war ich übrigens so glücklich über Regen wie in diesem Sommer.

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Montag, 13. Juli 2020
Berlin-Bombay

Berlin Bombay

Das da oben ist der Duty Free Shop am Flughafen Delhi. Die Luxusartikel in blauer Folie verpackt, die normalerweise auf dem Weg durch das Terminal zum Kauf verleiten sollen. Passiert werden sie jetzt im Gänsemarsch hintereinander statt im Pulk. Auch die Passagiere selbst sind dort in Schutzanzüge und hinter Visiere verpackt. Alles erinnert an eine düster-schlecht inszenierte Zukunftsvision eines aufstrebenden Theaterregisseurs. Zwar fehlt das Bühnenblut doch die Menschen sind nur noch Statisten, die sich von einer Markierung zur nächsten bewegen.

Die Gründe warum sie in dieser Zeit fliegen, sind vorwiegend familiäre. Viele kleine Kinder und viele Alte sitzen in der bis auf den letzten Platz ausgebuchten Maschine. Sie sollen sich für sieben Stunden nicht von dort wegbewegen, bekommen eine verschlossene Box mit abgepackten Lebensmitteln - vorwiegend Süßigkeiten - und eine kleine Flasche Wasser. Auch wir tragen seit dem Weg zum Flughafen Masken, die bei 35° Schweißperlen um den Mund und nach ein paar Stunden Druckstellen hinter den Ohren hervorrufen. Abstand gibt es nicht, nicht in so einem kleinen Raum wie einem Flugzeug. Ich teile für viele Stunden mit 315 Menschen eine vergleichsweise winzige Fläche.

Die Angestellten im Fünfsternehotel stehen unter Quarantäne. Sie leben und arbeiten seit Wochen dort. Alle Einrichtungen wie Restaurant, Pool und Fitnesscenter sind geschlossen. Wir dürfen aber aus den Zimmern in den Garten. Das ist nicht selbstverständlich, denn andernorts - so hört man - werden den Crews nach Ankunft im Zimmer ihre Schlüssel entzogen. Natürlich ist vieles nicht überraschend, denn die Informationen über Bedingungen in den einzelnen Ländern werden veröffentlicht. Doch manches liest sich anders als es sich tatsächlich anfühlt.

Kaum ein Gast erwidert meinen Gruß beim Einsteigen. Die Köpfe gesenkt begeben sie sich zu den ausgewiesenen Plätzen. Wo ich sonst Nähe durch ein Lächeln oder eine Geste herstelle, prallt meine Menschlichkeit jetzt an Schutzmaßnahmen ab. Auf die ein oder andere verrutschte Maske muss hingewiesen werden, doch das bleibt fast der einzige verbale Austausch. So hat mich dieser Flug traurig und desillusioniert zurückgelassen, obwohl ich ihn vorab herbeisehnte. Nichts ist mehr wie es war, denn wir befinden uns innerlich wie äusserlich im Ausnahmezustand.

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Sonntag, 12. Juli 2020
Dawning


Meine innere und äussere Recherche ergab: ich bin vollkommen normal. Das mag überraschend klingen, da meine Lebensweise, Biographie und die ein oder andere Art zu reagieren nicht dem entsprechen, was hinlänglich als Norm bezeichnet wird. Was ich damit meine, ist die Tatsache, dass mein Zustand der Traurigkeit, der Ratlosigkeit und der Suche eine Folge von allgemeiner Ratlosigkeit, von Isolation und gesellschaftlichen Einschränkungen ist. Weit klügere Menschen als ich haben die Konsequenz stetiger Individualisierung und Virtualisierung und die damit einhergehende innere Verwüstung bereits durchdacht. Mir fehlte die Verknüpfung zum Gefühl. Man nennt es übrigens Erfahrung, dieses Zuordnen von Wissen zu Gefühlen. Wer Erlerntes nur theoretisch abspeichert, sammelt Wissen, wer das Wissen mit Emotionen verknüpft, sammelt Erfahrung. Schließlich ermöglicht Erleben auch Empathie.

Was mir also konkret fehlt, ist das Gefühl von sozialer Zugehörigkeit. Ich fühle mich, als flöge ich durch luftleeren Raum. Gelegentlich überfällt mich Panik. Diese Attacken werden durch Verlustangst ausgelöst. Noch vor zwei Wochen schrieb ich das:

Alles wiederholt sich. Jeder Tag eine einzige Wiederholung dessen, was gestern, vorgestern oder vor Jahren war. Ich spüre, wie ich mir unmerklich entgleite. Da ist kein Kampfgeist mehr, keine Energie, mich gegen das zu stellen, was ich nicht ändern kann. Festhalten möchte ich mich, doch mein Griff geht in's Leere. Die Rituale werden zur leeren Hülle.

Insgesamt erlebe ich das, was Viele erst im letzten Lebensabschnitt kennenlernen, wenn die Erwerbstätigkeit und familiäre Aufgaben wegfallen, wenn große Lebensziele nicht mehr zu erwarten und sie völlig auf sich selbst zurückgeworfen sind, wenn Ablenkungs- oder Verdrängungsmechanismen nicht mehr greifen. Diese Mechanismen griffen übrigens noch nie besonders gut bei mir, weil ich sie für gewöhnlich zu schnell enttarne. Wiederholung ist an sich nichts Schlechtes, ihre Schönheit liegt darin, dass wir jedes Mal besser werden können. Wenn aber nach Abzug von allem Sinnstiftenden nichts mehr bleibt als sich wiederholende Tätigkeiten wie aufstehen, waschen, essen, schlafen, nützen auch die schönen Sprüche nicht. Dann macht über kurz oder lang auch das Aufstehen, waschen, essen und schlafen keinen Sinn mehr. Im Grunde wiederholt sich Lebendes nicht. Der Kreislauf vom Wachsen und Vergehen ist nur mikroskopisch wahrnehmbar. Vieles, wie das Älterwerden beispielsweise, wird erst in der Retrospektive erkennbar. Anderes reißt uns mit einem Knall aus der gewohnten Eintönigkeit. Es geht also darum, die mit Veränderung einhergehende Unsicherheit - im Umkehrschluss den Verlust einer Sicherheitsillusion - auszuhalten und anzunehmen.

Soweit ist alles wie immer. Seit Virus unseren Alltag auf den Kopf stellt, funktioniert aber nichts mehr wie früher. Während die Einen noch an altbewährten Strategien festhalten, zerfällt bei Anderen die letzte Säule ihres Daseins: das Netz reziproker Beziehungen.

Ich habe lange darüber nachgedacht, was mir besonders fehlt. Aufgrund meiner beruflichen Funktion bin ich in engem Austausch mit Passagieren und Kollegen. Das sind oft nur belanglose Gespräche, die so jedoch nie in einem Supermarkt stattfinden würden, ohne dass mich seltsame Blicke träfen. Das ist eine Form von Fürsorge für Fremde, die auf der Straße als übergriffig deklariert würde. Das ist das füreinander Einstehen im Kollegenteam, wie es sonst nur in einer Notlage erlebbar wäre. Die Frage, wieso uns das Virus nicht solidarisiert, ist schnell beantwortet: erstens ist die Bedrohung nicht sichtbar und zweitens unterbindet sie menschliche Nähe. Während sich Menschen bei anderen Bedrohungen instinktiv zusammenrotten, ist genau das jetzt die Gefahr. Kurz, das Virus stellt den Überlebensinstinkt einmal auf den Kopf. Wir können bei räumlicher Nähe nicht überleben, ohne menschliche Nähe werden wir aber seelisch sterben.

Eigentlich ist es nämlich die seelische Nähe, die unser Überleben instinktiv sichert. Sich öffnen und verletzbar machen geht oft nur noch in engen Zweierbeziehungen oder in familiärer Konstellation. Eine tiefe zwischenmenschliche Beziehung setzt eine tiefe, ehrliche Beziehung zu sich selbst voraus. Wer seine dunklen Seiten fürchtet, wird sie vor sich verstecken und sie im Gegenüber auch nicht sehen wollen. An Stelle von berührenden Begegnungen wuchs über die Jahre gefilterte Selbstdarstellung. So füttern wir uns gegenseitig mit Zucker statt Brot und wundern uns, dass wir trotzdem hungrig bleiben. Ich bewundere Leute, die über ihre Schwächen reden und über ihre tägliche Anstrengung, Leute, die sich für ihre Ehrlichkeit nicht schämen. Räumliche Nähe kann über vieles hinwegtäuschen - ihr jetziges Fehlen offenbart die eigentliche Sehnsucht nach tiefer Verbindung umso stärker.

Dass uns die Zwangspause zum Umdenken oder gar zu persönlicher Entwicklung anregen würde, die uns einander näher bringt, wird wohl Wunschdenken bleiben. So verstecken wir uns noch mehr hinter verschlossenen Türen, obwohl wir nach menschlichen Begegnungen dürsten. Die Parties, das Aufbegehren gegen Vorsichtsmaßnahmen sind ein verzweifeltes Festhalten an Bekanntem. Noch wird sich gegen die Botschaft gesträubt, dass eine Veränderung in der inneren Einstellung des Einzelnen beginnt und nach draussen rebelliert. Es ist auch viel einfacher, Fehlverhalten beim Nächsten anzuprangern als bei sich selbst. Noch funktioniert der Mechanismus der kognitiven Dissonanz hervorragend. Möglicherweise sind die düsteren Filme eines einzelnen Überlebenden in einer verwüsteten Umgebung nicht Utopie, sondern einzig mögliche Konsequenz. Denn so lange noch irgendetwas funktioniert, machen wir weiter mit der inneren wie äusseren Zerstörung.

Was mich rettet, sind die wenigen Gelegenheiten, bei denen ich mich von anderen emotional berühren lasse oder sie berühre, sind die Begegnungen ohne Seelenmaske, bei denen sich zwei Menschen vorurteilslos zuhören, ohne Scham in die gemeinsamen Abgründe schauen oder sich an der Existenz des Gegenüber erfreuen. Ich hoffe sehr, es wird immer mehr Menschen geben, die ähnlich empfinden. Denn nur so wird alles erträglicher.

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