Donnerstag, 3. September 2020
Ain't no Mountain High Enough
Zwischendrin war ich dann mal wieder in Stuttgart. Das ist diese hügelige Stadt, in der ich einst den Führerschein gemacht habe und in der kein Bike mehr ohne E vorne fährt. Die innerste Innenstadt geht noch - zumindest die Fussgängerzone vom Bahnhof zum Königsplatz und ein Stück weiter ist flach. An den Rändern geht's aber schon nach oben los. So erinnere ich mich, wie ich zu Studienzeiten vom Hauptbahnhof - von dem inzwischen nicht viel mehr als eine riesige Baugrube übrig ist - über den Schlossgarten die Musikhochschule ansteuerte, davor aber die Landhausstraße hoch abbog, an der alten John Cranko Schule vorbei, danach in den Innenhof einbiegend am Wohnhaus meines Professors kurz vor Klingeln pausierte, denn es lagen sechs Stockwerke Altbau vor mir, an dessen Ende mich der über Sechzigjährige fröhlich in der Türe stehend begrüßte. Mir war es als Teenager immer ein wenig peinlich, weil ich so außer Atem war. Zudem sollte ich die kommende Stunde genau diesen Atem durch mein Instrument in Töne umwandeln. Eigentlich hatte ich vom vielen Fahrradfahren durch die Weinberglandschaft schon etwas Kondition gesammelt, doch die Begrüßung fiel immer sehr kurzatmig aus. Das Dilemma bestand darin, dass ich den guten Mann vom Zeitpunkt des Klingelns gemessen nicht länger als nötig an der Wohnungstüre warten lassen wollte. Verschnaufpausen im Zwischengeschoss waren demnach nicht drin. Kurz vor Drücken der Glocke nahm ich also jedes Mal noch einige tiefe Atemzüge, ähnlich der Apnoetauchenden kurz bevor sie unter Wasser gehen. Oben angekommen presste ich eine höfliche Begrüßungsfloskel zwischen gezwungen verlangsamten und manchmal auch angehaltenen Atemzügen heraus. Der rote Kopf verriet mich aber doch jedes Mal.

Dieses Mal ging ich andere Stufen - Stäffele, wie der Schwabe sie liebevoll nennt. Der alte Freund wohnt im Gebiet am Hang, das nur über eine lange Treppe oder viel Umweg zur nächsten Hauptverkehrsstraße führt. Und weil ich viel Zeit und wenig Schlaf hatte, dachte ich, es sei eine vorzügliche Idee, diese Stufen zu sportlichen Zwecken ein paar Mal nach oben zu laufen. Runter ging's über den geschlungenen und sehr steilen Weg durch einen Park. Mal abgesehen vom (natürlich rein temperaturbedingten) roten Kopf, war es ein wirklich gutes Training, das ich fast noch eine Woche später in den Waden spürte. Aber die Aussicht war phänomenal.

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Montag, 24. August 2020
Cry Me a River
Vor einigen Tagen stieß ich auf diesen Artikel, der mich aus mehreren Gründen ansprach. Es geht darin um Musikstudierende, die wegen der allgemeinen Situation vermehrt im Unterricht weinen:
"Für die Musikstudenten ist der Zustand der Isolation mehr als nur unangenehm: Sie brauchen den sozialen Kontakt, um gemeinsam musizieren zu können. Und sie brauchen ein Publikum, das ihnen zuhört."

Zunächst erinnerte mich diese Zeilen an mein eigenes Studium. Die Arbeit, das Erlernen der Technik, geschieht natürlich alleine - das Studium besteht hauptsächlich daraus. Doch worunter ich am meisten gelitten habe, waren schon damals die vielen einsamen Stunden ohne Austausch, die Harmonien im Kopf zur Melodie ergänzend. Die wenigen Proben im Zusammenspiel halfen da nicht drüber weg, obwohl sie natürlich einen Höhepunkt und beliebte Abwechslung zum tristen Üben darstellten. Wenn Liebhaber von der Schönheit des Musikmachens schwärmen, ist die Vorstellung immer auf Zusammenspiel bezogen. Dass Profis die Proben so effizient und kurz wie möglich halten, ist ausserhalb ihres Verständnisses. Denn während für einen Profi die Probe nur zur Feinabstimmung im Hinblick auf die Aufführung dient, möchte der Laie so lange wie möglich mit anderen zusammen spielen. Meist steht dahinter auch kein Aufführungsdatum als Ziel, sondern das Zusammentreffen selbst.

Der zweite Aspekt des Artikels bewegt mich noch mehr, denn obig zitierter Satz betrifft nicht nur Musikschaffende, sondern eigentlich alle. Ersetzt man Musikstudenten durch Menschen und musizieren mit existieren, ist es die Zusammenfassung dessen, was ich derzeit erlebe. Mein ganzes Leben war bisher um Kommunikation und Verbindung zu anderen angesiedelt. Nun ist meine Arbeit weggebrochen, meine Freizeittätigkeiten liegen brach und der tägliche Austausch reduziert sich auf die wenigen Worte, die ich mit der Kassiererin im Supermarkt wechsle. Ich sitze wochenlang alleine in meiner Wohnung und weiß nicht, wie ich daran etwas ändern könnte. Telefonate können das nicht auffangen. Der einzige Unterschied zur Artikelüberschrift ist, dass ich nicht weine. Innerlich fühle ich mich aber sehr schwach, wenn nicht gar weinerlich. Das ist mir einerseits peinlich, denn Jammern war nie meine Absicht, und andererseits halte ich mit der wenigen Restenergie meine Fahnen hoch, versuche mich abzulenken oder mir Tätigkeiten auszudenken und bewahre Haltung. Das hat mich die Gesellschaft gelehrt, denn nur der Produktive bekommt Anerkennung.

Ich denke viel darüber nach, was in meinem Leben falsch gelaufen ist, über die Abzweigungen und meine generelle Einstellung, über das Älterwerden und mein Ringen mit dessen Auswirkungen. Mein Erleben beziehe ich rein auf meine Person, wohl weil ich nur wenig von anderen mitbekomme, wie sie all die Einschränkungen empfinden - der Austausch fehlt. Mich wundert, nicht mehr offene Zustandsbeschreibungen in Blogs zu finden. Aber auch hier ist man entweder zu beschäftigt oder zu bedeckt, um sich damit auseinanderzusetzen. Dabei würde genau das helfen. Die Erkenntnis, dass es anderen ähnlich geht, gäbe ein Gefühl von Gemeinschaft. Stattdessen sehe ich im Vergleich nur, was andere scheinbar haben das mir fehlt. Ich wünschte, die Pandemie brächte eine Veränderung in der inneren Auseinandersetzung mit sich und anderen. Von Gemeinsamkeit und Miteinander wird geredet, wenn es um deren Bekämpfung geht. Der Feind sitzt scheinbar draussen, doch was eigentlich fehlt, ist die Ehrlichkeit, Verletzbarkeit und Menschlichkeit, die das Miteinander erst wirklich werden lässt. Wir funktionieren nämlich als soziale Wesen nur in Beziehung mit anderen.

Lösungsvorschläge habe ich keine, nicht mal eine Pointe ausser der, dass ich nicht weine. Dabei würde ich es gerne mit jemandem, der nicht urteilt, sondern mitfühlt. Miteinander weinen - wörtlich oder metaphorisch - ist nämlich die höchste Form von Miteinander.

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Donnerstag, 20. August 2020
Everything Counts in Large Amounts
Bei meinem heutigen Ausflug an den Starnberger See konnte ich wunderbare Sozialstudien betreiben, die ich Ihnen nicht vorenthalten möchte. Nicht am See selbst, denn dort beobachtete ich vor allem die Segler und Ruderer oder starrte einfach auf's Wasser. Dafür war die Heimreise mit der S-Bahn umso ergiebiger.

Die elektronische Anzeige kündigt die Bahn zurück in die Stadt mit wechselnden Abfahrtszeiten an. Als sie auf dem gegenüberliegenden Gleis eintrifft, stellt sich auch die Gleisangabe als irrtümlich heraus. Innerlich gebe ich sie bereits verloren, denn um sie zu erreichen, muss ich durch die Unterführung auf die andere Seite, setze mich aber dennoch mit vielen anderen Wartenden in Richtung Treppenabgang in Bewegung. Die Menschenmenge begegnet beim nächsten Treppenaufgang den Angekommenen, die Treppe bietet zu wenig Raum für gleichzeitigen Auf- und Abstieg. In beide Richtungen wird geschnaubt, gedrängelt und geschwitzt, denn die Temperaturen liegen im Aussenbereich um 30°. Oben laufe ich noch ein Stück nach vorne. Vermutlich steigen alle bei der ersten erreichbaren Türe ein. Ich befinde mich zunächst in einem fast vollständig leeren Abteil, bis sich nach wenigen Minuten drei ältere Damen im geschätzten Alter um 75 in der Sitzgruppe neben meiner niederlassen. Nach und nach stoßen eine Ausflugsgruppe und weitere Einzelpersonen hinzu.

Gerti, die vermutlich älteste der Damenrunde, beschwert sich bei den Freundinnen über die Gleisänderung. Man hätte schließlich mehr als 10 Minuten auf dem falschen Bahnsteig gewartet und hätte da ja schon in Ruhe das Gleis wechseln können, hätte man's halt gewusst. Aber nein - und da pflichten ihr die Freundinnen eifrig bei - da müsse man sich auf den letzten Drücker abhetzen und zudem so ohne Information, das sei wirklich nicht die feine Art. Nun sei man aber froh, es rechtzeitig geschafft zu haben. Auch hier wieder eifriges Nicken der Begleiterinnen. Mir fällt auf, dass ich diese Stimmen bereits am falschen Bahnsteig sich über fehlenden Schatten beschweren gehört habe. Und obwohl ich nach vorne in die Sonne auswich, während die Drei im Schatten am Treppenabgang warteten, kann ich meinem Schicksal nicht entgehen.

Nach der zweiten Station hält der Zug unvermutet auf freier Strecke. Ein paar Minuten passiert nichts, dann fällt Gerti ein, dass sie genau diese Situation vor Kurzem schon einmal erlebte. Keine Information hätt's gegeben, nichts. Noch beraten die Damen, ob es schlimmer sei, in einem Tunnel zu stehen oder auf freier Strecke. Nach weiteren fünf Minuten hat es auch jetzt noch keine Durchsage gegeben und die Damen werden unruhig. Ob Gerti wohl Recht behält und der Zug diesmal auch eine halbe Stunde ohne Erklärung auf der Stelle bleibt? Es werden Handys gezückt. Die Verspätungsapp hat Gerti nicht drauf, denn die braucht so viel Platz. Karla hat mehr Speicher, kann aber keine Verspätung ablesen. Da schallt die Stimme des Zugführers in tiefem bayrisch und auch sonst schwer verständlich durch das Abteil. "Mndammherrrrrn wenganaratchnschnStrrrrrunghamapfrrrrammmpstzt... wanniwoaswaslosis."

Gerti ist indigniert, weil die Damen nichts verstehen, obwohl sie selbst sowohl Landessprache als auch Dialekt beherrschen. Ich überlege kurz ob ich übersetze, verwerfe den Gedanken dann aber kurzerhand, da ich nicht in's Gespräch eingebunden werden möchte. Überhaupt möchte ich nur sitzen und beobachten, was mit den Leuten um mich und mit mir geschieht. Die Bahn steht nun schon seit 20 Minuten mit ungewisser Weiterfahrt. Während ich durch die Reflexion der Plastikabsperrung die Insassen hinter mir registriere, bemerke ich einen kurzen Anflug von Panik in mir aufsteigen. Ein geschlossener Raum ohne Möglichkeit zur Flucht, dazu steigende Temperaturen, lassen auch andere Reisende nicht gleichgültig. Einer hat sein Shirt ausgezogen, ein anderer eine Flasche Bier geöffnet. Die ersten Masken werden kurz gelüftet. Ich bleibe stoisch, während Gertis Damen überlegen, wie man Kontakt zum Zugführer aufnehmen könne. Da sei doch immer so ein Knopf am Ausgang mit einem Mikrofon. Die Türen werden jetzt genau inspiziert. Der Knopf ist aber nur zum Öffnen da. Dieses Risiko will man letztlich doch nicht eingehen. Stattdessen wird weiter über die Bahn im Allgemeinen und den Zugführer im Besonderen larmentiert.

Schnell sind sich Gertis Damenkränzchen und andere Reisende einig, dass die Entschuldigungen der Bahn generell geheuchelt seien. Man könne sich ja nicht mal irgendwo beschweren, das bringe ja nichts, denn wenn es was brächte, hätten es die vielen von Verspätung betroffenen Pendler schon getan. Zwischenzeitlich werden vorbeifahrende Züge kommentiert und Vorschläge unterbreitet, den Zug wenigstens bis zur nächsten Station fahren zu lassen. Eine andere Problemlösung kommt vom Viererabteil hinter Gertis. Man könne ja das Gleis wechseln. Wohlgemerkt weiß keiner, ob die Störung die Strecke oder den Zug betrifft, als Gerti einfällt, dass der Zug ja bereits vom falschen Gleis abgefahren sei. Sie ist sich jetzt ziemlich sicher, der Defekt am Zug war schon vorher bekannt gewesen, man habe ihn zum Test aber trotzdem fahren lassen und nun stünde er eben auf dem nicht benötigten Gleis. Dieses Wissen bekräftigt sie noch mehrere Male, während hinter uns die ersten unverschämt Rufe laut werden. Man ist sich einig, dass der Zugführer, der kurz vorher in einer weiteren Ansage seine Bemühung um Problembehebung kundtat, und die Bahn uns absichtlich in diese unsägliche Situation gebracht haben. Nur die Ausflugsgruppe, der Biertrinker und ich bleiben stoisch. So entstehen Verschwörungstheorien, denke ich und der Biertrinker schüttelt ein wenig den Kopf.

Der Rest ist schnell erzählt. Der Zug setzt sich nach etwa einer Stunde in Bewegung und alle steigen einigermaßen wohlbehalten an der nächsten Station aus. Auch Gerti, die zuvor ankündigte, im Abteil gleich zu kollabieren, damit endlich etwas geschehe und nun Kopfschmerzen beklagt. Nach der letzten Ansage des Zugführers mit Aufforderung an alle, den Zug bitte zu verlassen, beschweren sich die Damen noch lautstark über seine fehlende Entschuldigung (Anm.d.R.: eine geheuchelte). Als dieser den Zug zur Kontrolle abläuft, schauen ihm alle stumm mahnend hinterher. Mein Fazit des Tages lautet: Du kannst es den Leuten einfach nicht recht machen. Und ich frage mich wieder, ob sich je einer mal in die andere Seite von Dienstleistung versetzt. Gerti tut es jedenfalls nicht.

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