Dienstag, 11. Januar 2022
Going Home


In memoriam Stefan Öhlschläger

Man traf sie stets zusammen auf der Straße, in der Tram oder im Supermarkt an, häufig lautstark miteinander schimpfend. Passanten - meist Stadtunkundige - drehten sich mit ungläubigem Blick oder amüsiertem Lächeln nach ihnen um. Denn wenn die Öhlschläger Zwillinge eines nicht waren, dann unauffällig. Selbst im tiefen Winter sah man sie draussen in knalligen Hotpants und unter der Winterjacke bauchfrei bekleidet laufen. Nur das Schuhwerk wurde den Temperaturen angepasst. Und wer sie übersah, der hörte sie eben.

Was nicht in's Bild passt, wird belächelt, doch wer weiß schon, welche Geschichte hinter den beiden Erscheinungen steckte? Geschichten hatten die Beiden bestimmt zu erzählen. Von ihrer Zeit als Modelle - mir bekannt ist beispielsweise ein Buch über Haare von Herlinde Kölbl, in denen sie auftauchten - oder ganz allgemein von Erlebnissen im Zusammentreffen mit dem konservativen Münchner Volk. Bisweilen muss sich sogar der Durchschnittsmensch über konservative Verhaltensweisen und Ansichten in München wundern. Für Aufmerksamkeit benahmen sie sich eben ein wenig anders als andere, doch geschadet haben sie damit niemandem.

Kennengelernt habe ich die Beiden beim Tanzunterricht in einer bekannten Münchner Tanzschule. Einer von ihnen - ich vermute, es war Stefan - nahm Ballettunterricht, der andere - das muss dann Christian gewesen sein - wartete vor dem Saal und beobachtete seinen Bruder durch die Scheibe. Ich vermutete immer eine gewisse Genderfluidität bei einem der Zwillinge, wenn nicht gar bei beiden. Genaues wusste ich aber nie. Irgendwann sind sie aus der Schule geflogen, weil sie der Aufforderung nach "züchtiger Kleidung" nicht nachgekommen waren. Besorgte Eltern hatten sich bei der Schulleitung beschwert, nachdem Stefan gerne durchsichtige Netzhemdchen im Unterricht trug. In meinen Augen war das übertrieben, denn sie hätten keiner Seele etwas zuleide getan.

Dann sah ich sie längere Zeit nicht mehr, erfuhr aber über die Presse, dass sie aus ihrer Wohnung ausziehen mussten. Ihr weiteres Schicksal verfolgte ich nicht mehr, bis ich gestern die Todesnachricht las. Für den Überlebenden wird nun eine sehr harte Zeit anbrechen, denn ich bin mir sicher, mit seinem Bruder ist auch ein Teil seiner eigenen Identität verstorben. Ich wünsche ihm die Kraft und den Mut, einen neuen Weg einzuschlagen.

Liebe Lesende, sollten Sie ein besonders auffälliges Individuum im öffentlichen Bereich antreffen, dann bitte verurteilen Sie diesen Menschen nicht gleich aufgrund seines Aussehens oder seines Benehmens. Niemand kann wissen, was sich dahinter verbirgt. Letztlich erleben wir alle Schmerz oder Freude und suchen das Glück auf die uns ganz eigene Weise - etwas das uns alle eint.

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Danke für die Nachricht. Ich kenne sie vom Sehen seit ich in München lebe. Vor ein paar Wochen habe ich sie auf der Straße gesehen und mich gefreut, dass sie noch am Leben waren. Gleichzeitig bin ich erschrocken über ihren Zustand. Zwei alte Männlein, einer schien nicht mehr gut zu sehen, der andere nicht mehr gut zu hören, schlurften über eine Kreuzung. Ich hätte sie am liebsten über die Straße eskortiert, vermutlich wären sie aber zu stolz gewesen, um sich das gefallen zu lassen.

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Oh,das geht mir oft so mit bekannten Gesichtern. Ich bin immer erstaunt, wie schnell die scheinbar altern. Die beiden Herren schienen schon vor einigen Jahren stark zu altern. In meinem Kopf bleiben halt alle jünger.
Ich hoffe, Sie haben still gegrüßt und sich an ihrer extrovertierten Kleidung erfreut.

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