Samstag, 29. April 2006
Für C.
Es war ein kalter Herbstmorgen, viel zu kalt für die Jahreszeit. Die Sonne schien und der Schnee auf den Dächern leuchtete weiß gegen den blauen Himmel. Die Luft wurde bei jedem Ausatmen sichtbar. Man traf sich in der Dorfkneipe. Etwas anderes war nicht geöffnet. Der Vater wartete an einem Tisch. Vor ihm stand ein Bier. Seine Mutter sollte heute beerdigt werden. Als er uns sah, stand er auf, begrüßte meine Mutter und mich. Dann setzten wir uns um den Tisch. Irgendeiner machte einen Scherz und ich musste lachen. Später, viel später habe ich mich für dieses Lachen geschämt, genauso wie ich mich dafür schämte, eine Woche später an einer Veranstaltung meiner Tanzschule teilzunehmen. Aber so war das, ich hatte es versprochen und stand zu meinem Wort.

Wir gingen langsam zur Kirche, eine alte katholische Kirche in einem kleinen katholischen Dorf. Innen war es noch kälter als draußen. Zum ersten Mal in meinem bis dahin kurzen Leben sah ich Reliquienschreine. Schaukästen, hinter deren Scheiben mit Gold und Glitter überzogene Gebeine der Heiliggesprochenen liegen. Mich schauderte ein wenig. Wir setzen uns in die erste Reihe. Im Hintergrund stimmten Klageweiber ihre endlosen Litaneien des Ave Marias an. Meine Hände waren so kalt, ich hatte Angst, die Finger würden abfallen. Dann begann der Gottesdienst. Die Worte und Lieder zogen an mir vorbei. Ich war nur körperlich anwesend. In Gedanken war ich bei ihr, meiner Großmutter. Als ich sie zuletzt sah, war sie so schwach, sie konnte kaum mehr reden. Sie drückte meine kleine Hand in der ihren. Dann wollte sie sich aufsetzen. Ich stützte sie. Sie war so dünn, der Wind hätte sie mit einem Hauch forttragen können.

Wir gingen zum Friedhof. Der Sarg vor uns. Mein Vater und ich dahinter. Vor dem offenen Grab sprach der Pfarrer erneut einige Worte. Ich hörte sie nicht, betrachtete meinen Vater aus dem Augenwinkel. „Was will er hier, der Heuchler?“ fragte ich mich. Später, als der Sarg unten und die Erde darüber gehäuft war, schüttelte ich zahllose Hände. Ich kannte diese Menschen nicht. Selbst die, die mir bekannt waren, schienen mir fremd. Warum redeten sie von Beileid? Und warum weinten die, die ihren Willen nicht respektierten als sie noch lebte? Ich weinte nicht, betrachtete nur die Gesichter. Alles schien fremd, fern, unverständlich. An diesem Tag wurde ein Teil meines Herzens begraben. Dieser Tag war das Ende meiner Kindheit.

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Sie hieß Christina

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Tante Lina
Hört sich niedlich an, aber Tante Lina , das war ihr Name. So wie ich sie immer genannt habe. Ich war 18 und sie war im Dorf nebenan, so bekam ich den Job sie ab und zu ins Dorf nach Tutzing zu fahren. Ich war mords-stolz jemanden fahren zu dürfen, ich hatte ja schliesslich gerade erst meinen Führerschein.
Und dann war meine geliebte Tante Lina auf einmal gestorben.
Eine Welt brach zusammen. Sie war doch noch total normal, hatte coole Sprüche und schien noch gar nicht so alt, wie Leute, die genauso alt aussahen wie sie...
Bei der Beerdigung habe ich es auch noch nicht kapiert.
Und irgendwie kapiere ich es heute auch noch nicht. Es ist irgendwie so - sie hätte ja was sagen können, dass es bald vorbei ist. Ich war total ahnungslos...
Nun ja, was soll ich sagen.

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