Montag, 15. Mai 2006
Die musikalische Reise - Teil 2
Die Sonne kitzelt ihre Nase, als sie mit dem Bus vom Flughafen ins Zentrum fährt. Auf den Straßen ist lebhafter Verkehr. Mofas knattern zwischen hupenden Autos. Frauen in engen T-Shirts laufen nebenher, Männer in Anzügen, eine Zeitung unter dem Arm, eilen ihrer täglichen Arbeit entgegen. Der Sommer mit seiner unbarmherzig heißen Luft ist nicht mehr weit. Mit der linken Hand klopft sie die Eingangsakkorde von Ravels Alborada del gracioso auf den Koffer neben ihren Beinen. Heute Abend wird sie es im Palau de la música spielen, ein prachtvolles Konzerthaus in Jugendstilmanier mit hervorragender Akkustik, in dem bereits der junge Rubinstein debutierte. Die Herausforderung lag nicht am schweren Erbe – gab es doch immer wieder große Pianisten, die Meilensteine in der Interpretation verschiedener Kompositionen gesetzt hatten – und auch nicht am Publikum, das gerne Landsmänner feiert, sich jedoch ausländischen Interpreten gegenüber verhalten zeigt. Die größte Herausforderung für einen Pianisten ist, sich immer wieder auf ein fremdes Instrument einstellen zu müssen. Wie wird der Flügel gestimmt sein? Macht dem Instrument die Luftfeuchtigkeit des Meeres bereits zu schaffen? Ist es gut gestimmt? Selbst Namen wie Steinway oder Bechstein garantieren alleine noch lange keine Perfektion. Zu viele Faktoren beeinflussen den Klang des Instrumentes, als dass man von gleichbleibenden Vorraussetzungen sprechen könnte. In die Renovierung der Konzertsäle wird Geld gesteckt, das an Gagen und Instrumentenwartung eingespart wird. Sie spürt Unruhe in sich aufsteigen. Wenn sie in der kleinen Pension ganz in der Nähe der Catedral de Sta. Eulalia angekommen ist, wird sie die Konzertdirektion anrufen und anschließend im Palau Bekanntschaft mit dem schwarzen Ungeheuer zu machen.

Im Palau ist es angenehm kühl. Zwei Putzfrauen schieben ihre Besen zwischen den Reihen vor sich her. Die samtbezogenen Sitze sind wie Kinobestuhlung tagsüber hochgeklappt. Sie sitzt auf der Bühne und lässt ihren Blick über die beiden Emporen schweifen, während ihre Finger über die Tasten gleiten. Abwechselnd erklingen Passagen aus der Schumann Fantasie op. 17, Liszts Sonetto del Petrarca – das Horrowitz in seinem ersten Berliner Konzert nach dem Krieg so unnachahmlich spielte – und diverse Fingerübungen. Sie hat für den Abend ein deutsches Programm gewählt. Stücke aus dem Wettbewerb und solche, die sie schon lange begleiten sind dabei. Für die Zugabe hat sie Ravel und zwei kleine Preludes von Chopin gewählt. Sie ist zu tief in Gedanken, als dass sie das fröhliche Geplapper und Klappern der Putzfrauen beim Aufwärmen stören würde. Heute Abend werden die Emporen mit Menschen gefüllt sein. Der Saal ist nahezu ausverkauft. Schätzungsweise 500 Augenpaare werden dann auf sie gerichtet sein, die in diesem Moment, wenn sie sich vor das schwarze Monster setzt, der einsamste Mensch auf Erden ist. Dann wird sie ihre Fingerspitzen auf die Tasten legen, einmal tief einatmen, um anschließend die Musik aus ihrem Kopf und Körper zu entlassen. Wenn die ersten Klänge den Raum füllen, wird sie in das Zwiegespräch mit ihnen eintreten. Dann existiert kein Bewusstsein von Ich mehr. Die Töne werden mit ihrer Seele verschmelzen und an die Stelle der Worte in ihrem Kopf treten. Diesen Moment liebt sie. Sie ist so süchtig danach, dass sie dafür alle Entbehrungen und Ängste gerne auf sich nimmt. In diesem Moment weiß sie, wer sie ist, obwohl sie gleichzeitig nicht mehr ist.

Die Sonne schneidet in die Augen, als sie aus dem dunklen Eingang des Palau tritt. Für einen kurzen Augenblick ist sie blind. Sie nimmt die Gerüche der Straße wahr, saugt sie in sich ein, hört Stimmen und Vogelzwitschern, das Knattern der Lastwägen, spürt die Wärme auf ihrer Haut. Den ersten Schritt nach draußen macht sie mit geschlossenen Augen. Ihre Füße wissen, wohin das Herz möchte. Andere Menschen, andere Zeit. Wenn sie die Augen geschlossen hält, kann sie seine Schritte hören, seinen Arm spüren. Wie an jedem Nachmittag gehen sie in Richtung Barceloneta ans Wasser. Auf dem Weg dorthin ein kleiner Abstecher in die Catedral Sta. Maria del mar, wo sie eine kleine Weile ganz still nebeneinander sitzen. Als sie die Augen wieder öffnet, ist er verschwunden. Sie ist eine andere und wäre doch gerne die, die sie damals war. Dafür würde sie sogar die Musik eintauschen, mit all ihren grandiosen Momenten. Während sie weitergeht, überfliegt sie das Fax ihrer Agentur. Morgen schon wird sie nicht mehr hier sein. Man hat ein Konzert in Budapest für sie arrangiert. Dort wird sie ihr Mozart Konzert vom Finale mit Orchester spielen. Zeit, um von der Vergangenheit Abschied zu nehmen.

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Sonntag, 14. Mai 2006
Die musikalische Reise - Teil 1
Frau Svashtara hat gerufen und ich folge ihr in 30 Tagen/Teilen um die Welt:


Gestern erst ist sie von Moskau zurückgekehrt. Sie fühlte sich so müde, unendlich müde und erschöpft. Einige Tage nach dem großen Ereignis, dem großen Empfang und der anschließenden Feier, war sie mit leerem Kopf durch die Trostlosigkeit Moskaus gestreift. Monumentale Bauten, die die Armut der Menschen überstrahlen sollen, haben sie zu all der abgefallenen Anstrengung zusätzlich ausgesaugt. Dabei weiß sie, dass dies erst der Anfang war. Wenn man einen so wichtigen Preis wie den des Tschaikowskywettbewerbs gewonnen hatte, konnte dies den Beginn einer internationalen Karriere bedeuten. Man muss es nur geschickt anpacken. Die Musikwelt blickt gespannt auf die Geschehnisse innerhalb der bedeutenden Wettbewerbe. Als Martha Argerich beim Chopinwettbewerb unter Protest aus der Jury austrat, weil Ivo Pogorelich nur der dritte Preis zugeteilt wurde, obwohl er laut ihrer Aussage ein Genie wäre, war sein Name in aller Munde. Diesen Preis verdankte sie zahlreichen Studien alter Meister und ihrem Lehrer, der Mentor und Berater, aber auch Drillmeister in einer Person ist. Er ist ihr personifiziertes schlechtes Gewissen und gleichzeitig ihr Selbstbewusstsein. Wie sehr hatten sie noch bei der Auswahl der Stücke gestritten. Das dritte Klavierkonzert von Rachmaninov wollte sie spielen, mit dem ersten Satz ihre unglaubliche Virtuosität unter Beweis stellen, und immer wieder ermahnte er sie, ihre eigentliche Stärke, ihr musikalisches Verständnis mit der ihr eigenen klanglichen Vielfalt zum Ausdruck zu bringen. Schließlich gab sie nach. Der langsame Satz vom A-Dur Konzert KV488 brachte ihr im Finalkonzert nicht nur stehende Ovation vom Publikum, sondern auch den entscheidenden Vorteil im Sieg gegen den Koreaner ein.

Sie mag nicht üben. Die Stücke sitzen sowieso in ihren Fingern und dem Kopf, klingen im Ohr und Herzen. Sie muss nicht mehr tun, als sich von Ängsten zu befreien, damit die Töne aus ihr herausfließen können. Dafür hat sie lange und hart gearbeitet. Morgen wird sie nach Barcelona reisen, um ein Klavierrezital zu geben. Die Einladung traf bereits vor ihr im heimatlichen Briefkasten ein. Man hatte diesen Termin extra für einen der Finalisten des Wettbewerbs, vorzugsweise für den Gewinner, reserviert. Vor einigen Jahren war sie schon einmal in Barcelona, damals für einen Meisterkurs. Die Stadt weckt mit dem ihr ganz eigenen Charme alte Erinnerungen. Jetzt im warmen Frühlingswind zeigte sie sich von ihrer schönsten Seite. Ein zusätzlicher Anreiz für die spontane Zusage. Der Koffer liegt aufgeklappt neben dem Bett, wie sie ihn gestern dort abgelegt hat. Das lange schwarze Kleid hängt vor dem Schrank. Während sie getragene Kleidungsstücke durch frische ersetzt, die Konzertschuhe einem prüfenden Blick unterzieht und schließlich das erforderliche Notenmaterial sortiert, schlendert sie in Gedanken bereits die kleinen Gassen der Altstadt zwischen kühlem Mauerwerk entlang, an gaudíesken Fassaden vorbei, streift mit einem Blick die Miró-Statuen und verliert sich über dem Wasser im Hafen. Ja, damals war sie noch viel jünger als jetzt und verliebt. Die Eltern hatten ihr verboten, den Kunststudenten wiederzusehen. Sie hätte keine Zeit für derlei Geplänkel. Ihre Karriere sei viel wichtiger. Der teure Unterricht, die vielen Übungsstunden am Klavier, ob sie dies alles für ein Strohfeuer auf´s Spiel setzen wolle. Ja, das wollte sie damals, wollte mit ihm barfuß im Regen über die Wiesen des Parks de Ciudadella laufen, war neugierig auf die vielen kleinen Clubs und Bars, in denen sie sich mit seinen Freunden trafen. Es war damals eine fremde neue Welt für sie. Dafür hatte sie nie Zeit. Wenn andere mit Freunden zum Skifahren oder im Sommer ins Freibad gingen, saß sie am Klavier und übte. Sie übte, als sich die Mädchen ihrer Klasse zum Abschlussball herrichteten. Sie übte, als sich gefundene Pärchen händchenhaltend zur Eisdiele schlenderten. Sie übte, als die Ersten ihren Führerschein begossen. Sie übte, als die anderen den Abiturstreich ausheckten. Und sie übte – damals schon am Konservatorium – als sich die Klassenkameraden erst für den ein oder anderen Studiengang entschieden. Sie hatte nie eine Wahl. Eine Gabe ist eine Aufgabe sagte man ihr. Dieser Spruch schien sie wie ein Fluch zu verfolgen.

Mit Schwung klappt sie den Deckel des Koffers zu. Keine Zeit für dunkle Gedanken. Morgen wird sie früh aufstehen müssen, um das erste Flugzeug nach Barcelona zu bekommen. Neben einer kleinen Einspielprobe am fremden Instrument will sie ein wenig durch die Stadt schlendern, alten Erinnerungen melancholisch nachhängen, neue Eindrücke sammeln und alles in sich aufsaugen, um es schließlich in ihrem Spiel hörbar zu machen. Morgen schon, nur einige Stunden ist das Ereignis weg, doch die Erinnerung macht alles so nah, als wäre sie bereits dort.


Bomec, bitte helfen Sie mir, sich in Ihrer Stadt zurechtzufinden.

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Freitag, 28. April 2006
Mit meinen heissen Tränen
Näher als alles andere geht mir Schuberts Musik. Vor Jahren habe ich Abhandlungen von Adorno und anderen Musiktheoretikern gelesen, habe im Rahmen meines Studiums analysiert und zu verstehen versucht, habe im Laufe der Zeit Gelesenes vergessen. Was geblieben ist, ist die Berührung meiner Seele. Ich möchte hier kein allgemeingültiges Urteil, noch eine objektiv nachvollziehbare Beurteilung abgeben. Vielmehr liegt mir der Ausdruck meiner persönlichen Subjektivität am Herzen.

Wer sich mit Kunst im Allgemeinen und Künstlern im Besonderen auseinandersetzt, der kommt meines Erachtens nicht umhin, sich mit deren Biographien zu beschäftigen. Will ich eine Komposition, ein Bild oder eine Satzkonstruktion begreifen, muss ich mich mit dem Menschen auseinandersetzen, der dies hervorbrachte. In Schuberts Fall war für mich ein Schlüsselerlebnis der Fernsehdreiteiler Mit meinen heissen Tränen von Fritz Lehner. Selten wurde mir ein Mensch durch eine Verfilmung näher gebracht als alle Literatur es vermochte.

Versetzen wir uns einmal in den Franzl hinein. In einer Zeit geboren, als die Romantik sozusagen erfunden wurde – weswegen er fälschlicherweise im Volksglauben zu dieser Epoche zählt. Korrekterweise müsste sein Werk musikwissenschaftlich in der Spätklassik angesiedelt werden – lebt dieser Mann von seinem übermächtigen Vater malträtiert, von den Geschwistern ausgenutzt, von Frauen verschmäht, von Kollegen unterschätzt, von Freunden als Kasper degradiert und als „Schwammerl“ verspottet, in seine Seele zurückgezogen und gleichzeitig von ihr zerrissen. Der Wahnsinn ist nicht weit, grüßt bereits aus der Ferne. Franz weiß das, greift immer wieder über die verbotene Grenze und kostet davon. Wer in einer Gesellschaft existieren muss, auf die er als soziales Wesen angewiesen ist und die ihn gleichzeitig wegen seiner innersten Bedürfnisse und Gedanken ausschließt, dem bleibt nicht viel mehr als Rückzug und Isolation. Verständlich, dass sich eine große Melancholie, ja gar Todessehnsucht breit macht. Während in seiner Musik die Seele des gequälten Franz Ausdruck findet, verstummt er in der realen Welt, komponiert und spielt für die Freunde lustige Tänze zum Nachmittagstee – die einzige Form, mit der er die so sehr ersehnte Annerkennung bekommt – die doch so konträr zum inneren Schmerz klingen. Die anderen Werke behält er für sich. Nicht weil er es so will, sondern weil sich kein Verleger findet und kein Käufer. Keiner versteht das, was er zu sagen hat. Man schreckt vor so viel Schwermut zurück.

Mit einem seiner letzten Werke, dem Liederzyklus „Die Winterreise“ trifft er im konspirativen Zirkel der Revolutionäre ins Schwarze. Im Grunde geschieht dies jedoch nur, weil sie ihn zu einem Werkzeug gegen das Biedermeiertum umfunktionieren. Die Texte von Müller – geheime Antiparolen im Schutzmantel gängiger Liebesschnulzen – beinhalten für Schubert mehr als Kritik an politischen Zuständen. Sie sind das Synonym für seine eigene Todessehnsucht. Wer die Vertonung einmal gehört hat, weiß was ich meine. Er selbst sagt darüber in einer Ankündigung zum regelmäßigen Treffen bei seinem Freund Schober: „Ich werde euch einen Zyklus schauerlicher Lieder vorsingen.[...] Sie haben mich mehr angegriffen, als dieses je bei anderen Liedern der Fall war.“ Doch seine Freunde begriffen nicht. Einzig „Der Lindenbaum“ war für sie sofort eingängig und somit gefällig.

Werde ich gefragt, welche seiner Werke ich favorisiere, so sind dies neben der Winterreise die Streichquartette, das Quintett und das Klaviertrio in Es neben den Klaviersonaten und der unvollendeten Sinfonie, sowie der letzten. In all diesen Werken ist eine Tiefe zu spüren, die nur ein Mensch auszudrücken vermag, der einmal in die menschlichen Abgründe geschaut hat. Schubert hat hineingeschaut, lange und intensiv. Es blieb ihm nichts anderes übrig, denn sie waren in ihm. Ich verneige mich vor seiner Fähigkeit, sie zu Papier zu bringen.

Möglicherweise fasziniert mich sein Werk, weil ich selbst eine Affinität zu menschlichen Abgründen, zu Wahnsinn und Tod habe. Gleichzeitig finde ich darin immer wieder eine Aussöhnung mit genau diesen Aspekten. Einige Zeit konnte ich diese Musik nicht mehr ertragen. Zu viele Wunden wurden aufgerissen, zu viel aufgewirbelt. Jetzt höre ich sie wieder – nicht ohne Tränen. Manchmal muss man aushalten, um zu heilen.

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