Mittwoch, 13. Dezember 2006
Sing Hallelujah
Seit ich denken kann, ist Weihnachten mit einer Art Melancholie belastet, die mir zu verscheuchen nie gelang. Mag sein, das kommt von einer besonders leutseligen Gemütsverfassung, die Weihnachten ja gemeinhin hervorruft. Mag sein, mein Herz erinnert sich an die vielen dunklen Tage, die wir zitternd vor Angst oder im Streit verbrachten. Doch da gab es auch andere vorweihnachtliche Momente. Die nämlich, an denen mir meine Mutter bayerische Lieder beibrachte, die wir dann gemeinsam sangen. An zwei erinnere ich mich noch - wenn auch mit Gedächtnislücken:

Es wird scho glei dumpa,
Es wird scho glei Nacht.
Drum kimm i zu dir her,
Mein Heiland, auf d'Wacht.

Fortsetzung hier. Gefunden von Gitana

Es hod se scho aufdoa des himmlische Tor,
de Engalan de gagalan ganz haufenweis hervor,
de Engalan de gagalan, de macha Purzigagalan,
boid auffi, boid owi, boid hin und boid her,
boid üba se, boid untase, es gfreid se umso mehr.
Halleluja...


Als meine musikalische Fortbildung gedieh und mir das Lesen von Noten keine Mühe mehr bereitete, glaubte ich, aus der Not des alljährlichen "spiel doch mal was vor" eine Tugend machen zu können, indem ich meine Rudimentärfamilie in die Geheimnisse des mehrstimmigen Singens einzuweisen versuchte. Bis zu diesem Zeitpunkt sangen alle mit Inbrunst, doch nicht immer in der vorgesehenen Tonlage.

Zunächst analysierte ich das gegebene Stimmmaterial. Da war meine Mutter, deren Laienstimme zwar keinen besonders großen Umfang aufwies, die jedoch in Wort und Klang sehr sicher schien. Ihre Mutter wiederum konnte mühelos auch noch dritte und vierte Textstrophen wiedergeben, driftete aber stimmlich schnell in die untere Lage ab, was zur Folge hatte, dass sie die Melodie als ostinaten Bass interpretierte. Der angeheirateten Großmutters Text wiederum wies erhebliche Gedächtnislücken auf, wobei sie mit glockenklarer Stimme auch noch höchste Höhen erreichte und so aller Anwesenden Hämmerchen und Ambosse in teils schmerzliche Schwingung versetzte, denn auch ihre Liedinterpretation war eine ganz eigene, ganz zu schweigen von der angeheirateten männlichen Fraktion, die sich äusserst mürrisch sowohl in Text, als auch Ton zunehmend vergriffen.

Mir oblag das Anstimmen eines jeden Liedes, wobei ich den Tonumfang genau zu beachten hatte. Stimmte ich ein Lied zu hoch an, bedeutete dies den Verlust von textsicheren Stimmen und zwei einsame Streiter in den oberen Etagen, die in gängigen Platzhaltern wie lalala oder handelsüblichen Vokalen intonierten. Wurde das Lied von mir zur Freude des ostinaten Basses zu tief angesetzt, verloren die Worte jegliche Ähnlichkeit mit ansonsten bekannten Weihnachtsliedern. Mit Schrecken denke ich an die entsprungene Ros, die oft in musikalisch unendlichen Tiefen versank, ebenso wie der See in den Kehlen erstarrte, wo noch kurz zuvor der Schnee leise niederrieselte. Eine ganz eigene Herausforderung war die Tochter Zions, die recht einsam jauchzte und deren Friedensfürst gleichzeitig manchmal an Ivan Rebroff erinnerte. Triviale Vorschläge wie die Lieder über kommende Kinderlein und grüne Tannenbäume wurden sofort abgeschmettert. Nein, man wollte anspruchsvollere Texte singen. Ein heikles Unterfangen also, dessen Tragweite gelegentlich mehrmaliges Unterbrechen im Verlauf der musikalischen Darbietung erforderte.

Unterbrechungen waren auch zwischen den Strophen nicht unüblich. Nach so gut wie jeder Strophe stellten der angeheiratete Freund meiner und der ihrer Mutter abwechselnd einen Antrag auf Öffnen des Geschenkematerials, was von meiner Mutter entweder mit strafendem Blick kommentiert oder aber lautstark abgewiesen wurde. Nein, es mussten schon mindestens vier Lieder mit jeweils drei Strophen sein, bevor man sich die Geschenke verdient hätte. Obgleich die teilweise katastrophale Darbietung eine Belohnung nicht zwingend rechtfertigte, war mir das gemeinsame Singen immer wichtiger als jegliche Geschenke oder das darauffolgende Essen. Eine Minderheitsregierung tut sich jedoch schwer in der Durchsetzung und so wurde das gemeinschaftliche Singen alsbald zugunsten der Gaben unter dem Baum eingestellt, nicht ohne jedoch zu versprechen, sich nächstes Jahr besser vorzubereiten.

Zu diesem Zwecke kopierte meine Mutter im nächsten Jahr Texte bereits im November und verteilte sie an die Verwandtschaft, die nun selbige auswendig lernen sollten. Eine Woche vor Weihnachten probte ich mit meiner Mutter das zweistimmige Singen einschlägiger Weihnachtslieder und es funktionierte mit Unterstützung eines Tasteninstrumentes einigermaßen gut. An Heiligabend sollte die Premiere stattfinden, der wir entgegenfieberten. Alles fing harmlos wie immer an. Einer schlug ein Lied vor, ich stimmte es an und die Verwandtschaft fiel mit ein. Nach den ersten Takten überließ ich die Führung der Hauptstimme meiner Mutter und stimmte leise in Terz- und Quartabstand eine zweite Melodie an. Sogleich kam die Hauptmelodie gefährlich ins Wanken. Mutter verlor die Grundharmonie und fuhr Slalom zwischen Dominante und etwas, das nach stark vermindertem und Subdominantquintsextakkord klang. Ein Trugschluß war nicht nur die Annahme, sie könne alleine die Melodie führen, sondern auch auf die Unterstützung der anderen zu hoffen. Sobald keine starke Stimme mehr die Führung übernahm, brach musikalische Anarchie unter den Sängern aus. Jeder sang in einer beliebigen Tonart, bis nach und nach alle verstummten und sich verwundert ansahen. Ich hatte vergessen, dass das Klavier bei den Proben einen nicht minderen Anteil an der Führungsrolle hatte. Da das Instrument in meinem Zimmer stand, der Weihnachtsbaum aber im Zimmer am anderen Ende des Flures, erklärte ich das Experiment mehrstimmiges Singen von Weihnachtsliedern mit einer musikalisch ungebildeten Rudimentärfamilie für gescheitert und schlug sofortiges Entfernen aller Verpackungsmaterialien von den unter dem Baum liegenden Kartons vor. Nach zwei weiteren, von Mutter eingeforderten, katastrophalen Versuchen fügte auch sie sich dem Wunsch der Mehrheit, nicht ohne mir das Versprechen abzunehmen, dieses Protokoll des Scheiterns nie zur Belustigung von Freunden und Bekannten preiszugeben.

In den folgenden Jahren entkam ich durch Flucht in die Arbeit den musikalischen Darbietungen meiner Familie, doch kein Weihnachtsoratorium, das ich gegen Entlohnung anstimmte, und kein Ort der Welt konnten mir das geben, was einst meine Mutter mir mit dem ersten Erlernen bayerischer Weihnachtslieder gegeben hat. Der Verlust der Lieder bedeutet gleichzeitig ein Verlust von Kindheit. Das damit verbundene Gefühl von Geborgenheit und Familie konnte auch durch oben beschriebene alljährliche Bemühungen nie mehr erreicht werden.

... link (8 Kommentare)   ... comment