Donnerstag, 21. Juni 2007
Never stop moving
oder aussergewöhnliche Situationen erfordern aussergewöhnliche Maßnahmen.

Schon wieder ein Kurzaufenthalt in New York. Nach dem Jeansdesaster nicht mehr unbedingt meine Lieblingsstadt. Aber was soll man machen. Statt in sentimentale Lethargie zu verfallen, will ich diesmal Luigi besuchen. Keine Ahnung ob er ein Auto besitzt, in Fachkreisen ist er jedenfalls mindestens so berühmt wie sein kaffeeschlürfender Namensvetter.

Die Morgensonne macht sich bereit, den Asphalt aufzuheizen, als ich meinen Weg nach Norden einschlage. Man hat mich gewarnt: bleib im Sommer nicht zu lange stehen, sonst sinkst Du ein. Ich überquere die Straßen, die den Broadway kreuzen, biege links in die Fünfundfünfzigste und stehe schließlich vor dem Gebäude der Alvin Ailey Dance Company. In einer Fernsehreportage habe ich gesehen, dass man von draußen in den Tanzsaal schauen kann. Leider sind die Fenster verblendet und ich sehe nur durch einen kleinen Spalt zwei Tänzer auf das kommende Training wartend auf dem Boden sitzen. Andere streben aus allen Himmelsrichtungen dem Gebäude entgegen. Sie sind durch ihre Haltung leicht zu identifizieren. Muss schwer sein, mit einem Stock im Hintern zu leben.

Noch bin ich zu früh für das Studio Maestro, also setze ich mich am Lincolnsquare auf einen der zahlreichen Stühle und genieße den Anblick der Met. Ein Stadtstreicher leistet mir Gesellschaft. Vielleicht weil ich derzeit wie Müll aussehe. Ich gehe weiter, vorbei an Läden und Restaurants, bis ich die 68te erreiche. Hausnummern gibt es hier wohl nicht, mein Gefühl sagt mir aber, dass ich rechts abbiegen muss, und ich habe richtig geraten. Die Türe des Studios ist geschlossen. Als eine Dame herauskommt, schlüpfe ich durch den Eingang. Stufen führen hinunter zum Empfang. An den Wänden Fotos von Tänzern. Ich spreche kurz mit der Empfangsdame. Die Luigileute seien noch nicht da aber ich könne mich schon mal umziehen.

Ich weiß nicht, ob Luigi selbst in der Unterrichtsstunde anwesend sein wird. Immerhin muss er mindestens 80 Jahre alt sein. Seine Geschichte liest sich beeindruckend. Als junger Tänzer hatte er einen Unfall. Die Ärzte sagten ihm, er würde nie mehr gehen können. Mit unglaublicher Willenskraft entwickelte er daraufhin seine eigene Technik, die es ihm ermöglichte, zwei Jahre später wieder zu tanzen. Von Gene Kelly entdeckt, wirkte er in zahlreichen Film- und Theaterproduktionen mit und scharte langsam eine kleine Tänzergemeinde um sich, die sich seine Technik zu eigen machte. Das Besondere an seiner Methode ist die geringe Verletzungsgefahr. Luigi arbeitet mit dem Körper, nicht gegen ihn. Zahlreiche Berühmtheiten hat er trainiert. In Fachkreisen gilt er als der Vater des modernen Jazztanzes, sozusagen der Graham des Jazz.

Als ich aus der Umkleide komme, spricht mich die Dame an, die mir die Türe aufhielt. Paula heisse sie und Luigi komme sicher bald. Kurz darauf steigt ein alter Mann die Treppen herunter. Er sieht genauso aus wie auf den Fotos. Nacheinander treffen zwei junge Japanerinnen, eine alte Italienerin, eine noch ältere Amerikanerin, eine etwa gleichaltrige Newyorkerin und schließlich eine Dame ein, die offensichtlich unter den Folgen eines Schlaganfalles leidet. Neben haufenweisen Küsschen zieht Luigi mühevoll seine Tanzschuhe an. Langsam kommen mir Zweifel, ob ich hier fälschlicherweise beim Seniorenturnen gelandet bin. Doch spätestens als sich alle im Trainigssaal versammelt haben und die Musik beginnt, sind alle meine Zweifel behoben.

Luigi möchte, dass ihn alle gut sehen können, auch 'the girl from Germany' in der letzten Reihe. Zunächst kopiere ich die Bewegungen bei dem Profitänzer gleich hinter Luigi, was sich als Fehler herausstellt. Nur wo Luigi draufsteht, ist auch Luigi drin. Was soll ich sagen, dieser Mann, der gefühlte Stunden brauchte, um seine Schuhe zu binden, mutiert vor meinen Augen zum Energiebündel. Was ist sein Geheimnis? Er kommt ohne exaltierte Bewegungen aus. Jeder Schritt ist so voller Spannung gekonnt plaziert, dass ich vor Bewunderung im Boden versinken möchte. Selbst die Dame mit dem Schlaganfall hat mittels dieser besonderen Technik mehr Ausdruck als jeder andere.

Nach dem Warmup erklingt Frank Sinatra mit 'night and day'. Spontan fühlen sich mindestens zwei Schüler zum Mitsingen bemüßigt. Eine der Stimmen ist meine. Ich kann nichts dagegen tun, es passiert einfach ohne dass ich es initiiere. Dazwischen erläutert Luigi die relativ simple Schrittkombination. Wir werden zum Tanzen in Gruppen aufgeteilt und ich bin in der ersten. Kein Luigi, kein Profitänzer, dem ich auf die knackigen Arschbacken starren kann. Mir entfährt ein leises 'Ohgottohgott'. Irgendwie hample ich durch die Choreographie und schäme mich ein wenig währenddessen. Luigi unterbricht und fragt, ob 'the girl from Germany' auch Spaß habe. Ich nicke, wobei ich mir ohne Brille nicht sicher bin, ob er mich ansieht. Tatsächlich schaut er die Dame neben mir an. Lautstark erklären die restlichen Damen, dass es sich bei 'the girl from Germany' um mich handelt und die andere eine bekannte Standup-comedian aus New York sei. Dann erzählt er eine Geschichte, in der er eine junge Dame in Germany begrüßte und jene sich leider den Kopf an einer Mauer anstieß, weil sie sich hektisch umsah. Alle lachen außer mir. Man fragt mich, ob ich die Geschichte 'bekommen' hätte, doch für eine Erklärung ist jetzt keine Zeit.

Später in der Umkleide wird mir erklärt, die Dame hätte sich aufgrund Luigis Ophthalmologie (das Wort ist wirklich gefallen, es bedeutet Schielen und ja, ich musste es auch nachschlagen) den Kopf gestoßen. Wie gut, dass vor allen Wänden in Tanzstudios sicherheitshalber Stangen angebracht sind. Ich verabschiede mich von Luigi und schlage energiegeladen meinen Weg zur 42ten ein, wo ich noch sehr billig eine Jeans erstehe, bevor ich am Abend 'night and day' summend den Rückflug antrete.
Alles in allem ein wirklich schöner Tag, der in diesem Moment nachwirkt.

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