Samstag, 17. September 2011
All My Folks
Wir waren drei. Alle im gleichen Alter. C.s Vater und O.s Mutter waren Geschwister, mein Vater zwar nur Cousin, wuchs aber mit ihnen in geschwisterähnlichen Verhältnissen auf. Überhaupt Kinder, die waren dort immer zahlreich. Die eigenen und fremde. Es gab Söhne, Töchter, Nichten und Neffen, Nachbars- und Pflegekinder. Alles was unter Einszwanzig war, tobte dort herum, wurde beaufsichtigt, gefüttert und geliebt. Dabei war weder Herkunft noch Bekanntschaftsverhältnis von Belang. Alle waren willkommen. Wir gruben im Garten Karotten aus und bauten Zelte, in denen wir übernachteten. Wir ärgerten die Jüngeren und bewunderten die Älteren. Manchmal trennte uns nur ein Jahr, doch für ein Kind sind schon Monate wie Lichtjahre.

In diesem einen Sommer waren wir auf der Schwelle zum Erwachsensein. C. hatte die Einszwanziggrenze bereits geknackt. Es war das Jahr, in dem die Spider Murphy Gang ihren größten Hit spielte. Rauf und runter. Wir grölten ununterbrochen mit. Der Text schien uns wunderbar verrucht. Überhaupt diese Rosi, von der die da sangen, die hätte auch eine von uns sein können. Immerhin war C.s Mutter sowas ähnliches - das glaubte ich zumindest. O.s Vater hat die Ferne seinen väterlichen Pflichten vorgezogen. Bei mir? Nun, ich war eines dieser Kinder, die man notgedrungen akzeptiert und dann heiratet. Immerhin war ich die Einzige, die beide Elternteile kannte. Auf den ersten Blick machte mich das besonders. Auf den zweiten wollte dann aber doch keiner mit mir tauschen.

Ein anderer Cousin war schon zwei Jahre älter als wir. Der kam abends vorbei, um uns Gruselgeschichten zu erzählen. Ich war von klein auf ein ausgesprochenes Weichei. Eines mit zu viel Fantasie. Filmleichen lösten bei mir schreckliche Alpträume aus und eine Geisterbahnfahrt auf dem Oktoberfest war undenkbar. Ich war schon froh, wenn ich seelisch unbeschadet an den furchteinflößenden Fassaden vorbeikam. In den Cousin war ich aber verliebt, weswegen ich gebannt an seinen Lippen hing. Für ihn war ich jedoch nur das kleine Mädchen, das mit den anderen im Garten tobte. Er interessierte sich schon für richtige Mädchen. Mit richtigen Titten, nicht mit Orangen oder zerknülltem Papier unter dem Pullover. Damals wusste ich nichts von Pushups. Ich war sehr unbedarft und sehr verliebt.

Die folgende Nacht überstand ich mit gutem Zureden meiner Großmutter. Das Wetter war mir zur Hilfe gekommen. Wir flüchteten ins Haus. Am nächsten Tag war alles vergessen. Wie jeden Tag alles vergessen war, das zuvor geschah. So war das damals. Alle Ungerechtigkeiten, alle Bevorzugungen leiblicher Kinder oder Schläge daheim waren am nächsten Tag einfach vergessen. Denn das hier war unser wirkliches Zuhause. Wir waren unser zuhause. Wir wußten von unseren Wunden ohne darüber zu sprechen und fühlten den Schmerz des anderen, weil er unser eigener war. Und dann taten wir das Einzige, was man in so einer Situation tun kann. Wir zogen gemeinsam los, neuen Abenteuern entgegen, die Vergangenes vergessen machen. Neue, gute Erinnerungen schaffen.

Es war der letzte Sommer, den wir miteinander verbrachten. C. mutierte zum widerspenstigen Teenager. Sie zog schwarze, zerrissene Klamotten an, färbte sich die Haare und machte sich auf die Suche nach ihrer Mutter. Ihre Mutter hat sie gefunden, nicht aber die Zuneigung, die sie eigentlich suchte. O.s Augen waren schlecht, weshalb er die Schule nur mit großer Mühe absolvierte. Sein Herz war aber immer gut. Sein Bruder war in allem besser. Weil er die richtigen Gene besaß. O. akzeptierte das. Die Liebe holte er sich bei der Großmutter. Von dort ging er beharrlich weiter.

C. brach den Kontakt zur Familie ab, hielt aber immer einen Kanal zur Großtante offen, von der wir erfuhren, wie es C. ging. O. zog nicht in die Ferne, sondern in sein Innerstes. Er blieb im Dorf und zog stattdessen sein Ding durch. Mit der Großtante starb schließlich auch der Kontakt. Wir sahen uns noch ein paar mal auf Beerdigungen, dann verloren wir uns aus den Augen. Vor ein paar Tagen habe ich sie auf einem Portraitportal wiedergefunden. Als wir uns am Wochenende trafen war ich überwältigt von der Herzlichkeit, mit der sie mich empfingen. Als läge kein einziger Tag zwischen dem Sommer damals und dem jetzigen. Jeder ist dort willkommen, auch die weit über Einszwanzig.

Wir müssen nicht reden. Wir spüren den Schmerz, der uns verbindet. Aber wir wollen reden. Das ist der Unterschied zu damals. Wir reden über die Ungerechtigkeiten und die Tränen und das Verlassensein, weil wir es heute können. Heute sind wir genauso ausgelassen und lustig. Aber heute sind wir auch stark, lebensfroh und angekommen. Wir sind endlich groß. Ich bin stolz auf uns.

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