Donnerstag, 19. September 2019
Climbing up that Hill
Beim Duschen musste ich heute feststellen, ich bin jetzt Tricolore. Das kommt davon, wenn man zum Radfahren Hosen in drei verschiedenen Längen trägt. An der Wade braun, über dem Knie ein Streifen heller und ab Hüfte ziemlich weiß. Auch die weißen Hände verraten mich, während der Rest der Arme gut abgedunkelt ist. Es ist leicht zu erraten, was ich die letzten zwei Wochen getrieben habe, denn es gibt nur sehr wenige Sportarten, die sich so in Farbe und Form am Körper manifestieren wie das Radfahren. Man warnte mich vor Hornhaut am Hintern. Ganz so schlimm ist es nicht, obgleich ich noch ein wenig unter den wunden Stellen am Beinansatz leide, die von den Nähten der Unterwäsche rühren. Ich weiß, Sie wollen das nicht so genau wissen, müssen da aber jetzt durch. (Im Übrigen ist Toilettenpapier in Japan so dünn, da kann man durchatmen)

Das heimische Tourenrad kommt mir wie ein Seniorengefährt vor - ich bin eine tiefere Neigung gewöhnt, die mir aber am letzten Tag einen Hexenschuss bescherte - und das Crossbike fühlt sich am Popo wie ein Mercedes an, der jede noch so kleine Unebenheit galant abfedert. Nur wer richtig sportlich gefahren ist, weiß, was speed bumps bei einer Talfahrt bedeuten können. Aber vorher muss man ja immer erst hoch. Das war ich von meiner flachen Heimatstadt nicht gewöhnt, und die Weinbergerklimmungen in meiner Kinderklappradzeit hatte ich erfolgreich verdrängt.

Ganz peinlich wird's, wenn einen dann noch wesentlich ältere Mitmenschen am Berg locker überholen, während man selbst auch mit Hautatmung nicht mehr der Luftknappheit Herr wird. Überhaupt ist die Haut vorwiegend damit beschäftigt, die gerade aufgenommene Flüssigkeit ungefiltert zu verdampfen. Muskelkater hatte ich am Abend nie, auch keine schweren Beine, doch machte mir mein allgemeiner Zustand ein bisschen zu schaffen. Mit dem Fitnesslevel einer Bettlägerigen bin ich angetreten, hatte ich doch Monate mit Schmerzen beim Gehen zu kämpfen, inzwischen spüre ich die massive Verbesserung meiner Grundausdauer.

Meistens wurde nach der ersten Stunde Fahrt eine kurze Pause eingelegt. Die ersten 30km des Tages kam ich deswegen nicht wirklich in Schwung. Doch nach der Mittagspause und einer längeren Strecke spürte ich jeden Tag diesen seltsamen Schub. Als hätte mein Körper einen Schalter umgelegt. Plötzlich gingen Steigungen mühelos und schnell. Da konnte ich als Ausgleich auch mal ein paar Senioren entmutigen überholen. Und wenn's ganz steil wurde, hatte ich ja noch den großen Vorteil trainierter Oberschenkelmuskulatur. Fitnessstudio, my ass. Wie bei so vielen Dingen findet der eigentliche Kampf aber nicht im Körper, sondern im Kopf statt.

Ich fahre gerne alleine, denn meistens rede oder singe ich. Das ist mir dann immer etwas peinlich. Manchmal hilft mir lautes gut Zureden, manchmal eine gepfiffene Melodie und gelegentlich auch Gesang ohne Worte, weil ich mir die sowieso nie merken kann. Wenn's hart kommt, wechsle ich zu Fluchen oder Jammern. Sie kennen die fünf Trauerphasen nach Kübler-Ross? Genau, ich stecke dann zwischen Verhandeln und Verdrängen fest. Eine kleine Kostprobe: release your inner Buddha! F*cking NOW! oder Wenn ich das schaffe, dann esse ich nachher zwei Eis oder auch gerne genommen KOMM SCHON! TRITT REIN! gefolgt von lautem Stöhnen und Atemgeräuschen. Die Semiprofis haben mir einen Trick für lange Steigungen verraten. Man darf nicht gucken. Also Kopf nach unten und auf hundert zählen, bevor man wieder hoch schaut. Ich habe in der letzten Woche sehr viel und sehr laut gezählt. In verschiedenen Sprachen - Ichi - Ni - San, also eins, zwei, drei auf japanisch. Rechnen Sie mal aus, wie oft sie das wiederholen müssen, um bis 100 zu kommen.

Seit meiner Rückkehr suche ich mir morgens zwischen 4 und 6 Uhr ein paar Hügel in München, was gar nicht so einfach ist, denn die Stadt im bayerischen Voralpenland ist sehr flach. Einzig der Olympiaberg gibt ein bisschen Steigung her. Den kann man auch öfter hoch fahren, weil ich meist bei drei schon oben bin. Leider ist es um diese Uhrzeit noch sehr dunkel, weshalb das Runter nicht so viel Spaß macht, das ja eigentlich die Belohnung für das Rauf ist - instant gratification sozusagen. Man könnte auch mit Lampe, dagegen wehrt sich aber mein Radsportherz, denn je weniger Klimbim am Rad, umso leichter. Als Kompromiss dient mir eine kleine Stirnlampe, mit der ich vereinzelt entgegenkommende Läufer erschrecke. Bisschen Aufmerksamkeit ist auch eine Art Belohnung. Immerhin hat mich von denen noch keiner überholt.

Warum zur Hölle bin ich aber so früh in dieser gottverdammten Kälte unterwegs? In Gesetzesvorlagen zum Schutz des Flugpersonals steht die schöne Formulierung, die meinen derzeitigen Biorhythmus gut umschreibt: der Körper befinde sich in einem unbekannten Akklimatisierungszustand, und eigentlich meint man damit nicht das Jetlag, das bei Gewöhnung an eine fremde Zeitzone entsteht, sondern ein wildes Durcheinander von Tag und Nacht. Irgendwann wird meinem Körper hoffentlich klar, dass er sich nicht mehr in Japan befindet, schließlich weigerte er sich dort erfolgreich in der ersten Woche gegen vorgegebene Abfahrts- und Schlafenszeiten. Jetzt geht das Spiel wieder von vorne los. Nachts wach, nachmittags müde, die Augen auf Halbmast und die Gedanken kurz vor REM. Wenn ich heute Nacht wieder wach bin, berichte ich weiter. Bis dahin folgen Sie mir bitte in die Kommentare.

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