Sonntag, 15. Mai 2022
Trainwreck


Am Münchner Hauptbahnhof führt der Weg von meiner U-Bahn zu den Gleisen in der Haupthalle durch den Untergrund. Man läuft eine Weile, da die Eingangshalle umgebaut wird und der direkte Weg versperrt ist. Mir fällt eine Gruppe Frauen mit Kindern auf, die in Spannbettlaken gewickelte Bündel tragen. Eine eher kleinere Frau trägt in einem Arm einen Säugling, die andere Hand schleppt und zieht das riesige Knäuel. Ich biete meine Hilfe an, bin aber nicht sicher ob sie mich versteht. Ihr Blick ist starr ohne erkennbare Mimik. Das Bündel ist schwer, obwohl wir es gemeinsam halten. Mein eigenes Gepäck habe ich an der anderen Hand. Schließlich lässt sie los, um den Säugling nach oben zu rutschen. Mir fallen vor uns weitere Frauen auf. Sie sind alle auf dem Weg zur Haupthalle bei den Gleisen. Am Fuß der Rolltreppe bildet sich eine riesige Traube. Die Frau mit dem Kinderwagen zögert und ruft einem kleinen Jungen davor immer ungeduldigere Worte zu, die sich für mich russisch anhören. Der etwa Vierjährige traut sich nicht, die schnell fahrenden Stufen zu betreten. Ich lasse das Bündel los und gehe nach vorne, strecke dem Jungen meine Hand entgegen, doch der hat Angst. Schließlich greift er danach und wir hüpfen auf die Treppen. Ein Lachen erhellt sein Gesicht. Oben hüpfen wir erneut auf die Endplatte. Er lässt meine Hand los und sucht seine Mutter. Die Frau mit dem Säugling wartet auf mich. Schließlich sammeln sich alle in einer großen Gruppe mittig vor den Gleisen. Es sind viele. Sie fahren wieder zurück in die Ukraine. Eine Frau bedankt sich bei mir für meine Hilfe. Ich greife in meine Tasche und hole das Plüschtier heraus, das für meine Nichte gedacht war, gebe sie meinem kleinen Rolltreppengefährten und winke zum Abschied. Dann muss ich weinen.


In einem Bericht aus Polen hörte ich von der Beobachtung, dass die ukrainischen Kinder jetzt nicht mehr weinen und es allgemein sehr still sei, weil sie auch bei den traumatisierten Eltern keinen Schutz mehr finden. Sie sind mit ihren Ängsten völlig auf sich gestellt. Ich kenne diese Reaktion als Einzelfall bei der Betreuung traumatisierter Kinder, nicht aber in dieser großen Masse.

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