Freitag, 16. Juni 2006
Die musikalische Reise - Teil 21
Sie steht vor dem Theatro de Rosalia in la Coruña. Die Zigeuner sind längst weitergezogen. Sie hat sich von Kolya, Laika und den anderen, nicht ohne einen aufsteigende Emotionen blockierenden Kloß im Hals verabschiedet. Neben guten Wünschen hält sie ein Amulett in Händen, das sie beschützen und an Kolya erinnern soll. Von Laika hat sie eine kleine Figur aus Holz bekommen. Es ähnelt einem Hund, doch genau kann sie es nicht identifizieren. In ihrem Kopf hämmern die ersten Takte des Scherzos aus Bruckners siebenter Sinfonie. Sie ist wieder alleine, so alleine, wie es Bruckner war, als er stundenlang auf der Orgel des Stiftes St. Florian nur einen einzigen Akkord anschlug. So ist es überliefert. Sie ahnt, was er dabei empfunden haben mag. Vielleicht wollte er dem Klang hinterher lauschen, sein Ende abwarten und ergründen. Vielleicht waren die Klänge sein geistiges Zuhause. Der Nebeneingang des Theaters lässt sich öffnen. Wahrscheinlich probt das ortsansässige Orchester gerade. Sie tritt in das Dunkel. Die kühle Luft schlägt ihr entgegen. Ein wenig unsicher tastet sie sich in den Gängen vor, bis ihre Augen sich an die Lichtverhältnisse gewöhnt haben. Vor einiger Zeit war sie bereits einmal hier für ein Rezital. Sie weiß, dass im Keller ein Flügel steht, auf dem sie sich damals für das Konzert eingespielt hat. Als sie die Treppen begleitet von Klängen einer Schuberstsinfonie des probenden Orchesters hinuntersteigt, erinnert sie sich an den zurückliegenden Auftritt. Sie spielte ein Klavierkonzert von Brahms mit dem mittelmäßigen Orchester unter einem noch mittelmäßigerem Dirigenten. Die Konzertagentur hatte ihr diesen Auftritt vermittelt, doch am Ende war sie froh, dass es vorbei war. Sie war und ist auf diese kleinen Auftritte angewiesen, wenn sie eine internationale Karriere aufbauen will. Dabei waren es meist die fernen Orte, die sie lockten, nicht die musikalischen Gelegenheiten.

Die ersten Akkorde, die sie anschlägt, klingen verstimmt. Der nahegelegene Atlantik fordert sein Attribut in Form von verstimmten Klaviersaiten. Die Partitur hat sie so oft gespielt, sie hat sie im Kopf. Erst der Anfang des ersten Satzes, dieses Öffnen eines ganzen Universums mittels Sprüngen über mehrere Oktaven. Mischas Celloklang läuft über ihre Finger in die Tasten des alten Flügels. Sie kann den überwältigenden Orgelklang aus den Noten förmlich spüren. Dann das zweite Thema, übergeben von einem zu Ende gelaufenen ersten Klangkonglomerat, so zart und zögerlich, als ob es keine Daseinsberechtigung hätte, und dennoch durch Umkehrung aus dem allumfassenden ersten entstanden, wie nach schwerer Geburt. Die Pizzicati der Streicher mögen auf dem Klavier nicht so recht zur Geltung kommen. Sie hadert ein wenig mit ihren Fingern, die im Laufe der Reise steif geworden zu sein scheinen. Die Themen vereinen sich im Laufe der Durchführung bis zu einem ersten Höhepunkt, den sie in die Tasten schmettert. Während der ganzen Zeit hat sie die Aufnahmen von Celibidache – dem einzigen Dirigenten, der Bruckners Höhepunkte adäquat zur Geltung bringt – vor ihrem inneren Ohr. Sie erinnert sich an eine Probe mit dem Stuttgarter Rundfunksinfonieorchester, in der sie als Zuhörer saß. Es wurde eine Aufführung der siebten von Schubert geprobt. Die ganze Zeit war sie fassungslos und mit offenem Mund Zeugin eines Entstehungsprozesses von Musik, die vor Jahrzehnten niedergeschrieben, nun in neuem Glanz erstrahlte. Es war nicht die Musik, die sie erstarren ließ, sondern der unvergleichliche Sog, der sie zu anderen Ufern fortzutragen schien. Celibidache verstand es wie kein anderer, die Musik zu dem Leben zu erwecken, die ihr angemessen war. Seine Musiker waren für ihn nicht Personen, sondern Instrumente, die er unter seiner Regie erklingen ließ. So manches verschnupfte Ego nahm er im Dienste des Ganzen geflissentlich in Kauf. Nur so konnte Einzigartiges im Moment des Erklingens entstehen.

Die ersten Bassisten betreten den Kellerraum, in dem sie gedankenversunken Bruckners Tönen am Flügel folgt. Man spricht sie an, doch versteht sie die spanischen Worte nicht. Sie entschuldigt sich auf englisch für ihre Anwesenheit, greift nach ihren Habseligkeiten und flüchtet von diesem Ort. Draußen lässt sie sich in der Sonne nieder, die den Asphalt des Hafens erhitzt. Sie weiß nicht, wie es weitergehen soll, mit ihr, mit der Musik, mit dem Klavier. Morgen wird sie sich ein Ticket nach Deutschland holen und von dort Kontakt zur Agentur aufnehmen. Ihr Leben hat sie wieder. Es lässt nicht los, solange sie nicht im Stande ist loszulassen.

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Freitag, 16. Juni 2006
Running gag


Als ehemaliger Testbeifahrer eines alten Kifferbusses muss ich gestehen, dass die Ablagefläche - zumindest was Füße betrifft - sehr geräumig war.

Danke Herr Kid37. Ich habe herzlich gelacht.

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Mittwoch, 14. Juni 2006
Sätze, die man sofort bloggen muss (3)
"Und wenn dir nix mehr einfällt, lässt du einfach die Protagonisten ficken."

O-Ton Robin Ätsch!

Das mit den römischen Zahlen konnt ich noch nie.

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Sätze, die man sofort bloggen muss (2)
"Als ich gestern zufällig in so einen schwulen Flickraccount mit lauter Bildchen von nackten Männerkörpern geraten bin, wusste ich auf einmal, ich bin durch und durch schwul."

weiblicher O-Ton

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Le Nu perdu
De même qu' il y a plusieurs nuits différentes dans l'espace, il y a plusieurs dieux sur les plages du jour. Mais ils sont si étalés qu'entre souffle et ressaut une vie s'est passée.

Les dieux ne déclinent ni ne meurent, mais par un mouvoir impérieux et cyclique, comme l'océan, se retirent. On ne les approche, parmi les trous d'eau, qu'ensevelis.

Meilleur fils du vieux disque solaire et au plus près de sa céleste lenteur. Cette envie substantielle se répéta, puis sa tache se perdit.

Nuit à loisir recerclée, qui nous joue ?

René Char

***
Mets-toi à la place des dieux et regarde-toi. Une seule fois en naissant échangé, corps sarclé où l'usure échoue, tu es plus invisible qu´eux. Et tu te répètes moins.

La terre a des mains, la lune n'en a pas. La terre est meurtrière, la lune désolée.

René Char

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Die musikalische Reise - Teil 20
Das Holz knistert in den Flammen. Sie sitzt am Rand des Lagers mit Blick auf den Atlantik. Kolya hat ihr eine Decke um ihre Schultern gelegt. Während der Aufenthalte in San Sébastien und Oviedo hat sie ihn beobachtet. Umhüllt von geheimnisvollem Schweigen hält er sich stets ein wenig abseits vom Rest der Gruppe. An diesem Abend siegte die Neugier, sie sprach ihn an. Erst wortkarg, später etwas mitteilsamer beginnen sie eine Unterhaltung. Sie sitzen schon eine ganze Weile so nebeneinander, nur er und sie. Die Anderen haben sich längst in ihre Träume zurückgezogen. Der Himmel erhellt sich langsam gen Osten. Erste Vogelstimmen werden hörbar. Es dauert nicht mehr lange, bis die Grillen ihren täglichen Balzgesang anstimmen werden. Die Luft ist angenehm kühl und klar. Wer ist dieser Mensch, der sich so sehr in sich zurückgezogen hat? Was hat ihn dazu veranlasst? Sie weiß es nicht. Offenbar scheint er ihre Anwesenheit zu genießen. Vielleicht muss sie es nicht wissen, es genügt, die innere Einsamkeit schweigend zu teilen. Ein leichtes Zittern überzieht die Oberfläche ihres Körpers. Die Müdigkeit lässt sie schaudern. Dennoch möchte sie diesen Augenblick noch ein wenig halten, noch ein wenig ausharren, in sich aufsaugen. Kolya legt einen Arm um sie, in den sie sich bereitwillig einschmiegt. Ihr Kopf liegt auf seiner Schulter. Gemeinsam lauschen sie den Wellen, die kontinuierlich gegen Felsen rollen. Mit der freien Hand streicht er über ihr Haar. Sie weiß, was jetzt kommen wird und doch ist alles anders. Er ist anders. Nicht so fordernd wie Mischa, sondern verhaltener, fast ängstlich. Morgen werden sie in La Coruña und damit am Ziel ihrer Reise sein. Dann werden sich ihre Wege trennen, jeder den seinen weitergehen. Morgen wird er nur noch eine Erinnerung sein. Trotzdem möchte sie sich einlassen. Sie betrachtet seine schwarzen Augen. Wenn Augen das Tor zur Seele sind, ist dieses Tor für sie verschlossen, der Schlüssel unerreichbar. Mit dem Finger streicht er über ihre Lippen, bevor sie sich mit den seinen treffen. Der Kuss, erst zögerlich, wird intensiver. Sie spürt seine Hände auf ihrem Körper. Ganz sachte verfolgen sie unsichtbare Linien, erst über ihren Rücken, nahe dem Grat bis zu seinem Ende, über die Schenkel an den Flanken entlang bis unter die Achseln, dann am Arm entlang, das Schlüsselbein nachzeichnend zum Hals, vom Kiefer zu den Wangenknochen und wieder hinab. Ihr Körper signalisiert sein Einverständnis. Sie lässt sich in die Berührungen fallen wie in eine weiche Matratze. Die Hände ziehen sich zurück, um sie mit kräftigem Griff aufzuheben und zum Zelt zu tragen, wo sie unter Decken und Matten ihren Weg weiter verfolgen werden. Stück für Stück öffnen sie Knöpfe und Verschlüsse, schieben Stoff beiseite, entblößen ihre Haut. Sie spürt den drahtigen Körper, seine Wärme, seine Haut ganz nah. Ihre Hände gehen auf Entdeckungsreise über seinen Rücken, seine Brust, seine Beine, gleiten über Unebenheiten und feste Muskeln, über die raue Oberfläche seiner Hände und die weichen Stellen in seiner Leiste. Seine Fingerspitzen entlang ihrer inneren Schenkel und den Pobacken jagen ihr einen Schauer der Lust durch den Körper. Es ist eine unendliche Steigerung, die sie an die langen Phrasen aus Bruckners Sinfonien erinnern. Nur einer konnte diesen Spannungsbogen halten, indem er immer wieder zurücknahm, von vorne begann und so die Illusion eines unendlichen Crescendos erschuf. Während Celibidache durch ihren Kopf spukt, bewegt sich Kolya mit ihr. Sie streckt sich seinen Händen und seinem Körper entgegen, wo er zurückweicht und zögert dort, wo er sich annähert. Die Bewegungen beginnen sich zu harmonisieren, finden den Weg miteinander zu einem Höhepunkt und sacken schließlich erschöpft ineinander. Ein Schluchzen durchzuckt ihre Kehle. Sie spürt die Tränen wie Wellen in sich aufsteigen und gegen den Damm der Beherrschung schlagen. Als sich die Schleusen öffnen, fließen sie ungehindert über ihre Wangen, seine Hände und seine Brust. Kolya hält sie ganz fest, flüstert leise Worte in einer Sprache, die sie nicht versteht und gibt ihren verdrängten Schmerzen einen Ort des Schutzes, der Geborgenheit. Er hält das Kind in seinem Arm, bis es erschöpft eingeschlafen ist.

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