Donnerstag, 19. März 2020
Wishful Thinking


Anfang März wünschte ich mir einen sanften Einstieg zurück in die Fliegerwelt. Die Entzündung machte mir noch zu schaffen und meine Chefin willigte ein, mit mir gemeinsam aus Urlaub und Schulungstagen einen machbaren Einsatzplan zu basteln. Seit heute ist der Flugbetrieb aus München eingestellt und ich bin noch kein einziges Mal geflogen. Ergo: be careful what you wish for oder der Unterschied zwischen Korrelation und Kausalität praktisch erklärt.

... link (0 Kommentare)   ... comment


Mittwoch, 18. März 2020
Tageblog 18.3.2020 - Reichweite
Diese Tage bin ich nicht mehr oder weniger aktiv als an anderen in der Vergangenheit. Nur manchmal denke ich, ach, lass mal schnell in die Innenstadt und was besorgen, bis mir wieder einfällt, ach nee, Corona und so. Meine Aktivität hat mit Menschen zu tun und online. Klar, wo man doch nicht nah oder so richtig daneben oder gegenüber soll. Andererseits möchte ich nicht darüber sprechen - weder über das Projekt noch über Viren. Macht aber nix, denn hier habe ich sowieso keine besonders große Reichweite. Anders ist das auf FB, da habe ich einen Haufen sogenannter Freunde, von denen ich aber heute einigen aufgrund Verlinkung diverser Verschwörungstheorien die Freundschaft kündigen musste. Getreu dem Motto 'ich habe keine Angst vor einem Virus, sondern vor der Reaktion der Menschen', um mich mal selber zu zitieren.

Mein erster echter Sozialkontakt war heute der Zählerableser, der den Wasserzähler austauschte. Den begrüßte ich sehr professionell mit Winken aus 1m Abstand an der Wohnungstüre. Das mit dem Abstand wurde dann aber bisschen schwierig im kleinen Badezimmer. Also bin ich raus und habe den Mann arbeiten lassen. Als er nochmal kam, um eine passende Abdeckung nachzuliefern, kannten wir uns schon und konnten das mit dem Abstand ignorieren. Kleiner Scherz, ich weiß natürlich, dass das Quatsch ist.

Weitere Sozialkontakte pflegte ich heute nur fernmündlich. Die fliegende Freundin berichtete von ihrem Mann, der heute erneut aus Wien anreisen musste, um irgendwelche Urlauber aus Hurghada zurückzubringen. Sie war übrigens selbst dienstlich erst letztens aus Italien zurückgekehrt. Im Hotel sperrte man nach Abreise der Crew die Türe zu und von Passagieren wurde sie als Heldin tituliert. "Muss man sich auch erst dran gewöhnen", meinte sie "nachdem man sonst immer nur wegen Verspätung und Handgepäcksregeln beschimpft wird". Ja, die Ausübung unseres Jobs hat gelegentlich masochistische Züge. Beim zweiten Telefonat wurde mir berichtet, ich bräuchte die Welt nicht zu retten, da mein Gesprächspartner das "nach acht" übernähme. Jetzt bin ich mir sicher, dass es weitergeht, weil er bisher bei allen Dingen sehr zuverlässig arbeitete.

Meine Recherche hat ergeben, dass nicht nur Apotheken und Lebensmittelläden geöffnet bleiben, sondern auch Akku- und Fahrradläden. Die arbeiten mit Sondergenehmigung zur Aufrechterhaltung des öffentlichen Lebens. Klar, der Pizzalieferdienst brauchen ja funktionierende Zweiräder und die Bevölkerung Energiequellen. Ob Eisdielen auch zur Aufrechterhaltung eines geregelten Ablaufes dienen, weiß ich nicht, es scheint aber für viele Stadtbewohner wichtig zu sein - jetzt wo die Temperaturen steigen. Warten wir mal ab, wann das erste Freibad öffnet.

Huch, schon wieder Abend. Ich habe den Eindruck, die Tage werden kürzer statt länger. Ob das wohl mit dem seltsamen Virus zu tun hat? Sicher ist nur Korelation, die aber in den Köpfen gerne zur Kausalität gemacht wird. Insofern sind Menschen halt doch die gefährlichere Spezies.

... link (0 Kommentare)   ... comment


Donnerstag, 12. März 2020
Vom Fliegen und Ratlosigkeit
Die Ereignisse überschlagen sich. Aufgrund der Corona-Pandemie dürfen Deutsche nicht mehr in die USA und Indien einreisen. Flüge nach China sind gestrichen, noch werden aber vereinzelte nach Hongkong durchgeführt. Jetzt gibt es nicht mehr viele Routen für uns Airlineangestellte, zumal mit weiteren Restriktionen zu rechnen ist.

Selbst bin ich lange nicht geflogen. Mein Wiedereinstieg gestaltet sich langsam, da ich zunächst einmal neu durchgeschult werden muss, Lizenzen und Wissen erneuern, Tests absolvieren, das ganze Brimborium halt, das normalerweise sukzessiv über das laufende Jahr verteilt absolviert wird. Zwei Hürden habe ich bereits, darunter auch die größte, die Flugtauglichkeit. Die ist Grundvoraussetzung für meine Tätigkeit an Bord, denn ich soll bei allen auftretenden Eventualitäten körperlich adäquat reagieren können. Auch nach vielen Stunden Stehen und Gehen muss ich möglicherweise noch rennen, über Hindernisse steigen oder kriechen und hocken können. Das testet der Flugarzt aber nicht, vielmehr muss ich es selbst einschätzen.

Das lange Stehen macht mir keine Sorgen, wohl aber die nicht mehr passende Uniform und die fehlenden Flüge. Wie soll ich arbeiten, wenn es kaum mehr Menschen gibt, die transportiert werden wollen? Das Szenario ist nicht ganz neu und in dieser Form bereits 2001 während der Ereignisse vom 11. September, sowie 2003 bei der SARS Krise erlebt. Mitarbeiter in der Probezeit und solche in Ausbildung werden nicht übernommen, andere werden in den Urlaub geschickt oder nehmen freiwillig die unbezahlte Variante. Die Krisenpläne liegen längst nicht mehr in der Schublade, denn der Cashflow muss unter diesen Umständen unterbrochen und das Geld im Unternehmen gehalten werden. Wir alle kennen die Auswirkungen aus den Nachrichten. Was wir dort nicht sehen, ist die menschliche Seite.

Ich sehe die jungen und nicht mehr ganz so jungen Lehrgangsabsolvierenden, wie sie adrett in ihren Uniformen über das Schulungsgelände laufen. Es wird gelächelt, weil man gewohnt ist zu lächeln, weil man deshalb ausgewählt wurde. Doch was in den Köpfen vorgeht, kann nicht weggelächelt werden. Da ist der junge Mann, der eine andere Arbeitsstelle kündigte, eine teure Wohnung in München angemietet hat und nun mit der Aussage leben muss, er würde bis auf Weiteres keinen Arbeitsvertrag bekommen. Da ist die Gruppe Chinesinnen, die ihre Heimat hinter sich ließen, nicht aber die Sorge um ihre zurückgebliebenen Familien und die dennoch jeden Tag für ein paar Stunden eine neue Sprache erlernen, die sie möglicherweise genauso schnell wieder verlernen werden. Da ist der Kapitän, der wegen staatlicher Auflagen vielleicht nicht mehr vom Dienst nach Wien heimkehren darf und die Copilotin, die wegen stündlicher Dienstplanänderungen nicht mehr weiß, wie sie eine lückenlose Kinderbetreuung organisieren soll - die Großeltern dürfen nicht mehr einspringen.

Einige resignieren, andere tun etwas, das wir immer wieder trainieren. Wir setzen uns nicht mit den Ängsten, sondern mit den Möglichkeiten auseinander. Wir sammeln Fakten, wägen ab, planen neu, entscheiden und überprüfen die Ergebnisse. Im Fachkreis heißt das Modell FORDEC - facts, options, risks, decision, execution, check. Die Alten und die, die aus Ländern mit weniger Stabilität kommen, kennen das, die Jüngeren sind davon zunächst überfordert. Panik entsteht durch fehlende Handlungsoptionen - egal ob sie tatsächlich fehlen oder nur als fehlend wahrgenommen werden. Ein kleiner Ausflug in die Psychologie untermauert meine These. Zum Stichwort Resilienz finden sich viele Untersuchungen, wie Menschen aus wesentlich auswegsloseren Situationen relativ unbeschadet hervorgingen. Wer aber zum ersten Mal mit derartigen Einschränkungen zu tun hat, der hyperventiliert erst mal eine Runde.

Letztlich wissen wir, dass es immer irgendwie weitergeht und nichts bleibt, wie es war. Kann ich auch leicht schreiben, weil ich ja schon ein bisschen Erfahrung gesammelt habe. Weil ich weiß, dass ich schon schwierigere Hürden genommen und Situationen gemeistert habe. Die jungen Kolleginnen und Kollegen wissen das aber nicht. Umso mehr würde ich sie gerade jetzt gerne an die Hand nehmen und ihnen das Schöne zeigen, das trotz aller Gefahr existiert. Die Beschleunigung beim Start, die Sonne über den Wolken und den Zusammenhalt, der durch die tadellosen Uniformen entsteht, die sie noch so stolz tragen. Ich hoffe sehr, dass ich in ein paar Monaten dem ein oder anderen auf der Strecke begegne. Und dann werde auch ich nach so vielen Jahren Fliegen wieder stolz sein.

... link (5 Kommentare)   ... comment