Sonntag, 24. April 2022
The Twenty First Night of September


Am Denkmal für die Verstorbenen des Oktoberfestattentats von 1980 bin ich heute vorbeigelaufen. Obwohl ich damals noch ein Kind war, erinnere ich mich sehr genau. Ich wusste, dass mein Vater an diesem Tag ebenfalls auf dem Oktoberfest war. Ich hörte von der Bombe. Ich hörte im Radio, dass da ein paar Menschen tot waren. Und ich hoffte so sehr, dass mein Vater einer davon sei. Drei Jahre später hatte ich zwei Schwestern mehr. Es ist nicht alles schlecht.

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Montag, 4. April 2022
Nightrain
Was man so alles erlebt, wenn man mal zu anderen Zeiten rausgeht als den üblichen. Das sind die, wo die Läden geschlossen sind und die in meinem Alter daheim vor dem Fernseher oder dem Internet sitzen. Ich wollte schon immer mal nachts in's Fitnessstudio, einfach um zu sehen, was sich dann für Leute da versammeln. Ein bisschen auch, weil ich vermutete, da seien weniger da und ich trotz Kontaktreduzierung auch ein bisschen trainieren wollte. Dann fiel mir ein, dass es vielleicht nachts da nicht so schön ist, wenn man zum Beispiel dem Typen begegnet, der immer im gleichen geruchsintensiven Shirt trainiert und einen schon tagsüber mit Blicken dermaßen verfolgt, dass es einen innerlich schüttelt.Dann war geschlossen, weil man nicht ungeboostert oder ungetestet rein durfte. Dann hat sich mein Schlafrhythmus verschoben und ich war froh, wenn ich schon vor mittags schaffte, dort zu sein.

Am Schlafrhythmus war übrigens auch die Fahrt mit dem Nachtbus schuld. Also nicht ursächlich, weil ich ja nicht die ganze Nacht nur Bus gefahren bin. Ich war etwas länger bei einer Veranstaltung, und als ich heim wollte, fuhren die normalen Öffies nicht mehr. Also bin ich zum ersten Mal mit dem Nachtbus heim. Das Klientel ist im Schnitt sehr jung, was nicht weiter erstaunlich ist, denn die anderen leisten sich Taxis oder Uber. Ich mit meiner schwäbischen Sozialisation leiste mir erst ein Taxi oder Uber, wenn wirklich garnix mehr geht. Auch kein Radfahren, was sich entweder wegen Witterung oder meiner Garderobe verbietet.

Was mich an diesem jungen Publikum erstaunte, ist die Kommunikationsfreudigkeit. Wenn ich bei Twitter oder in sonstigen Medien lese, dass sich die Jugend von heute nur noch via Bildschirm austauscht und spontane Kontakte nicht mehr gewohnt ist, dann sind die Verfasser noch nie Nachtbus gefahren. Innerhalb von zwanzig Minuten beantwortete ich interessierte Fragen zu meinem Abend- meinem Musikprogramm (Kopfhörer), meiner Garderobe und dem Ausstiegsziel. Und auch untereinander tauschten sich zusammengehörige Grüppchen mit anderen aus. Noch nie - und ich schreibe das aus langjähriger Münchenerfahrung, die von Nordrheinwestfalenheimischen mit Sicherheit nicht nachvollzogen werden kann, es hat sich jedoch sehr oft in unterschiedlichen Lokalitäten so zugetragen - hatte ich irgendwo mehr soziale Kontakte als in einem Bus, der nachts die Heimkehrenden aufsammelt. Nicht in Kneipen, nicht im Biergarten und nicht bei anderen öffentlichen Veranstaltungen, wobei ich aber auch kein Mensch bin, der an politischen oder Trinkfestigkeitsdemonstrationen - beispielsweise in Oktoberfestzelten - teilnimmt.

Sollte ich mich demnächst sehr einsam fühlen, fahre ich einfach wieder eine Runde mit dem Nachtbus. Reibungsloser Transport, gute Kommunikation, gerne wieder.

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Freitag, 1. April 2022
Ennobled
Am Wochenendabend sind die Lockerungen der Coronamaßnahmen in der Stadt deutlich zu spüren. Viele Gruppen junger Menschen zieht es zum Feiern nach draussen oder in die Clubs. So genau weiß ich nicht um ihr Ziel, vermutete aber die jungen Männer in der Straßenbahn wollten zu einer stadtbekannten Partylocation. Sie fielen mir bereits an der Haltestelle auf. Vier Jugendliche, die sich laut unterhielten und abwechselnd große Schlücke aus einer Whiskeyflasche tranken. Einer beschrieb dann deutlich hörbar die Wirkung dieses Getränks als zunächst nicht spürbar, dann aber plötzlich reinhauend, was er persönlich sehr an Whiskey schätze.

Ich war irritiert bis angewidert mit deutlichem Fluchtreflex als die vier mit mir in die Trambahn stiegen und sich nur unweit auf die Plätze über den Gang verteilten. Einer zog sein Handy aus der Tasche. Es setzte ein deutlich hörbarer Beat ein, auf den ein anderer zu rappen begann. Es wurde abwechselnd vorgetragen, teils improvisiert, teils aus dem Handy abgelesen. Alle trugen übrigens sehr vorbildlich dabei ihre Masken. Ich lauschte fasziniert, denn diese Lyrik so zu improvisieren, ist hohe Kunst. Irgendwann schauten sie auf, ob sie wohl die genannte Haltestelle, die auch meine war, bereits verpasst hätten. Statt auf die Anzeige zu schauen, stellte einer im Handyfahrplan fest, dass die erwartete Ankunftszeit noch ein paar Minuten entfernt sei und alle wandten sich wieder ihrer Beschäftigung zu.

Als ich mich zum Aussteigen bereit machte, sah ich bei den Vieren kein Anzeichen von Vorbereitung. Im Gegenteil, sie waren völlig in ihre Rapperei vertieft. Da spürte ich ein bisschen Mutti in mir und rief ihnen zu: "Jungs, ihr müsst aussteigen, hier ist Lokschuppen!" Sie sprangen auf, verließen schnell hintereinander die Tram und bedankten sich draussen bei mir. Ich erklärte, ich hätte zugehört und wollte wissen, ob sie das alles improvisiert hätten. Einer bejahte meine Frage und alle bedankten sich wieder artig für mein Lob. Schließlich meinte einer, er fände es echt groß, dass ich sie auf die Haltestelle aufmerksam gemacht hätte und ein anderer sagte sowas wie "Voll die Ehrenfrau!"
Und so kam es, dass ich an einem Wochenende von vier Jugendlichen von Mutti zur Ehrenfrau erhoben und geadelt wurde.

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