Samstag, 9. Juli 2022
A room with a view (43)


Vancouver

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Freitag, 1. Juli 2022
I will survive (2)
Jetzt ist alles wieder gut. Nein, nicht alles, denn morgen ist Rückreisetag. Da kann - und wird erfahrungsgemäß - noch viel passieren. Die Schmerzen bei Frau Herzbruch sind in ihrem Blog nachzulesen, meine begrenzen sich auf Muskelkater im Oberschenkelbereich vom Fahrradtag und Bizeps, den ich für gewöhnlich nicht spüre, weil ich kaum welchen habe aber gestern war Langhanteltraining und man muss auch mal was Neues ausprobieren. Das sagt Frau Herzbruch täglich dem Nachwuchs, der mich aus Gründen seit gestern auch offiziell Mama ruft. Heute sehe ich mich also nicht im Gruppensport, was sicher gut ist, denn dort werden meist Bekanntschaften zu Alleinreisenden geknüpft, die dann am Strand oder Pool vertieft werden - so gestern zu meinem Leidwesen geschehen. Da hat Ona mich einfach Mama gerufen und Schlimmeres, namentlich eine Neubesetzung unseres letzten offenen Sitzplatzes am Tisch verhindert. Zuvor saß da des Öfteren Thilo der Tauchlehrer, der von Onas Unterwasserfähigkeiten so begeistert war, dass er ihn gerne in einem Kurs gesehen hätte. Ona wiederum sah sich die letzten Tage meist chillend auf Bett oder Liege. Wachsen ist übrigens anstrengend und sticht Frühsport. Jedenfalls haben wir herausgefunden, dass es einen mitarbeiterbefreiten Sitzbereich auf der Terrasse gibt und den wir die letzten Tage bevorzugten. Mein rechter Platz ist seither wieder leer, da wünsche ich mir aber keinen Friedrich Merz Verschnitt her - der Alleinreisende sieht dem nämlich zum Verwechseln ähnlich, wobei ich seine politische Einstellung noch nicht erfragte. Ich möchte am liebsten überhaupt nichts von ihm wissen, das bewahrt mich vor grober Enttäuschung und Fluchtreflex.

Was wollte ich eigentlich erzählen? Ach ja, ich bin eine schlechte Leihmutter, denn während Frau Herzbruch beim Nachwuchsentertainment ausfiel, habe ich zwar alles gegeben aber immer nur in dem mir möglichen Rahmen. Da es hier einen Gleichaltrigen gibt, der aber etwas größer als Ona ist und in der ersten Liga Handball spielt, wollte ich unter keinen Umständen mit Ona Bälle zu gut werfen und fortan die Chance für eine beginnende wunderbare Freundschaft zwischen den Beiden vertun. Das Lob, ich sei aber gar nicht soo schlecht und er hätte selbst Gleichaltrige - was auch immer das in den Augen eines Dreizehnjährigen bedeuten mag - schon schlechter werfen sehen, beantwortete ich mit einem Wurf in die Hecke, worauf Ona sich für die Teilnahme am Clubrätsel entschied - er wollte mich nicht hängenlassen, war aber vom Bällewerfen dann doch gelangweilt - während ich den Ball rettete. Zuvor hatten wir am Strand Bodyboards ausgeliehen, ich dem Verleihenden schöne Augen gemacht und Ona selbige stark verdreht. Nach nur einer Stunde - geliehen wird jeweils zwei - war auch das durch, ich brachte beide Bretter zurück und musste feststellen, dass der herzbruch'sche Nachwuchs keine Zimmerkarte dabeihatte. Also wieder an den Strand, leise an Friedrich Nerz vorbeigeschlichen, Ona aus den Wellen gepfiffen und dann unter aller alleinreisender Augen sowie derer des nackten Mannes, dessen bestes Stück so lang ist, dass der sich nie hinsetzen oder -legen kann und immer in Richtung Weiblichkeit drehen muss, mit Ona zum Duschen abgezogen. Raten Sie, wie lange es dauerte, bis sich alle am Pool einfanden - der Nackte natürlich bekleidet, wobei ich den in Badehose selbständig überhaupt nicht wiedererkenne. Dafür habe ich den Leihsohn, dem das alles sehr peinlich ist.

Am Abend war Gala und meine Abwesenheit nicht sonderlich auffallend. Das Unterhaltungsprogramm ist clubniveaumäßig gut, das Feuerwerk ordentlich, doch Ona und ich waren da mehr um die Tiere besorgt als die Gäste, die den Lärm mit pappsüßen Cocktails betäubten. Heute Morgen waren die wohl immer noch betäubt, denn beim Frühstück war ich fast alleine anwesend. Auch kein Personal für Kaffee, und während uns sonst nach dem letzten Krümel der Teller quasi unter der zurückgeführten Gabel weggezogen wird, erschrak ich heute als er sich wie von Geisterhand nach eineinhalb Stunden am Tisch sitzend neben meiner Tastatur weg bewegte. Nein auch kein Friedrich Merz war da, denn der fand gestern Anschluss zu zwei netten Damen weit unter seinem Alter. Vermutlich ist er heute Abend aber wieder frei. Und so findet alles Gute sein Ende, damit Neues kommen kann. Ich bin gespannt, denn es wird sicherlich nicht die letzte Reise mit Frau Herzbruch nebst Nachwuchs sein. Vielleicht aber die letzte, die er mein Leihsohn sein möchte. Das macht mich ein bisschen traurig.

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Mittwoch, 29. Juni 2022
I will survive
Kaum ist die letzte Katastrophe abgeklungen, folgt die nächste auf dem Fuße. Ich meine, so ein Kofferverlust ist nicht wirklich katastrophal, wenn man mal bedenkt, dass ich mich in sommerlichen 24° mit Meeresbrise befinde. Ganz anders verhält es sich mit Frau Herzbruch. Die hat die Katastrophen ja quasi für sich gebucht - wir erinnern uns an den unfreiwilligen Einliegerpool mit Einlage nach Starkregen im Keller oder den Cluburlaub auf Kos, den sie als traumatisierendes Beispiel zu jeder Gelegenheit als Vergleich zitiert. Mit Trauma hatte ich heute ebenfalls zu kämpfen, dazu aber später.

Erst mal soll es darum gehen, dass ich immer noch weiß, wie ich das System für mich arbeiten lassen kann (work the syxtem), weil ich halt auch im Job Teil desselbigen bin. Und wenn Frau Herzbruch Cranberrysaft für ihre Blasenentzündung braucht, dann organisiere ich Cranberrysaft beim EInkaufsleiter des Clubs kurz vor halb zwölf abends. Zunächst sah das aber gar nicht gut aus, denn die kleine Yasemine-Isabellina schüttelte heftig ihren zu hoch gesteckten blonden Pferdeschwanz hin und her als ich danach fragte. Ihre Aufgabe - so OTon - sei es auch nicht, für uns einkaufen zui gehen, wobei ich mit solchen Statements sehr vorsichtig wäre, hätte ich Tomatensaft als Cranberry auszugeben versucht. Frau Herzbruch wollte beschwichtigen, da sei ich ja quasi berufsbedingt vorbelastet und würde den Unterschied durch überdurchschnittlich häufige Berührungspunkte sofort erkennen und Yasemine-Isabellina mit fehlender Erfahrung und Ferienjob als Kinderbetreuerin im Club sei da in Customer Relationship nicht so dolle geübt. Ich wiederum war der Meinung, da müsse Jasemine-Isabellina eben auf die harte Tour lernen, ließ mir Namen und Durchwahl der Clubchefin geben, vereinbarte einen Gesprächstermin an der Rezeption, mit dem zufälligen, dortigen Treffens mit dem Einkaufschef, der sein Handy zückte, den Küchenchef mit Beschaffung beauftragte - vorausgesetzt sowas sei überhaupt auf der Insel zu bekommen - und dem Ergebnis von persönlich in's Zimmer gelieferten zwei Litern Cranberrysaft für Frau Herzbruch. Kurzum, wir konnten schlimmere Folgen der Blasenentzündung abwenden.

Nun weiß die mir geneigte Leserschaft, dass ich einst als Tauchlehrerin in heimischen Gewässern aktiv war. Als Frau Herzbruch mit Nachwuchs beschloss, den Atlantik von unten zu erkunden, war ich von dieser Möglichkeit für mich nicht besonders angetan. Was ich hier nie erwähnte, war der Grund, weshalb ich damals sehr abrupt nicht nur die Karriere als Tauchlehrerin beendete, sondern vor allem selbst nicht mehr tauchen wollte: ich hatte einen Unfall. Von diesem Unfall war ich traumatisiert. Bearbeitet habe ich das Trauma nie wirklich, war nur mal danach mit viel Überwindung unter Wasser, doch das Vertrauen blieb aus. Ich wechselte das Hobby und verkaufte meine Ausrüstung bis auf ein paar Einzelstücke, die seitdem im Keller darben. Gestern beobachtete ich die Verantwortliche, wie sie mit den völlig unerfahrenen Frischlingen eine erste Lektion im Pool absolvierte und fand, dass sich Frau Herzbruch mit Nachwuchs dieser Obhut nur unter einem aufmerksamen zusätzlichen Augenpaar - nämlich meinem - ausliefern sollte. So kam es, dass ich mich heute Morgen ohne Frau Herzbruch - da betthütend - dafür aber mit freudig aufgeregtem Nachwuchs nach einer nur dreistündig schlafend verbrachten Nacht auf der Tauchbasis einfand. Was dann passierte, möchte ich aus Gründen nicht en détail hier beschreiben, es war allerdings sehr unangenehm. Kurz gesagt stieg ich völlig retraumatisiert aus dem Wasser, legte meine Ausrüstung ordnungsgemäß ab, wechselte in trockene Kleidung und konzentrierte mich die folgenden dreissig Minuten sehr angestrengt darauf, meine Atmung von Hyperventilation auf normal und damit zeitgleich meinen erhöhten Puls zu regulieren - Tüte war keine zur Hand, ich kann aber ganz gut den Kopf zwischen meine Knie stecken. Im Anschluss weinte ich die nächsten 15 Minuten unkontrolliert, während alle anderen aus dem Wasser kamen, ihre Ausrüstung ablegten und einzeln fragten, ob mit mir alles okay sei. Diese Frage kann ich auch heute Abend noch nicht mit völliger Sicherheit positiv beantworten, ich habe aber vorsofglich schon ein paar Gläser Wein intus und werde mir gleich den dritten Cocktail bestellen. Denn im Club herrscht ausgelasse Stimmung und Ona braucht ab morgen Anschluss an Gleichaltrige. Da sollte ich als seine zweite lesbische Mutter - ja, dieses Spiel haben wir uns ausgedacht und es macht ihm Spaß, das vorzugeben - nicht durch irrationales Verhalten bei den beobachtenden Erziehungsberechtigten Zweifel am Kontakt aufkommen lassen. Das bin ich ihm schuldig.

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