Sonntag, 17. Dezember 2006
We wish you a merry christmas (3)


Diesmal ein ganz ehrlicher Geschenketipp:
Santaland diaries von David Sedaris
(fast identischer Inhalt wie Holidays on ice vom selben Autor, das Cover ist aber eindeutig besser).

Wie gutmütige Gesellen und herzallerliebste Kinder in der Weihnachtszeit zu bösartigen Bestien mutieren. Ich hab mich jedenfalls gut amüsiert.

Kleine Kostprobe für Sedarisfans und die, die es noch werden wollen:
6 to 8 black men gelesen vom Autor.

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Gute Reise
Auch heute steht sie vor dem kleinen Laden und betrachtet die Bilder in der Auslage. Es sind Bilder vom Meer, von Palmen und Sonne. Immer wenn sie zum Bäcker geht, um sich ein halbes Brot für die nächste Woche zu holen, kommt sie an dem kleinen Reiseladen vorbei. Mit dem aufgeschnittenen Brot in der Tasche bleibt sie dann vor der Scheibe stehen. Was sie auf den Bildern sieht, ist so ganz anders, als das, was sie kennt. Vor vielen Jahren ist sie mit ihrem Mann verreist. Sie waren gemeinsam in den Alpen und am Mondsee. Einmal sind sie mit dem Zug bis zur Küste gefahren. Dort hat sie das Meer gesehen. Es sah aber nicht aus wie auf den bunten Bildern in der Auslage. Als der Mann gestorben war, wollte sie nicht mehr wegfahren. Der Sohn hat sie an Weihnachten immer eingeladen. Und auch die Schwester lag ihr in den Ohren. Es sei doch mit dem Zug nicht weit. Dabei lag zwischen ihnen sogar eine Landesgrenze. Sie hatte vergessen, wo sie ihren Pass hingeräumt hat. Den brauchte sie nicht mehr, seit der Mann gestorben war. So antwortete sie nur, sie würde lieber daheim bleiben.

Am Muttertag oder an Ostern kommt meist der Sohn zu Besuch. Sie weiß, dass er schnell ungeduldig wird. Deswegen hängt sie schon am Vortag den Mantel und den Hut an die Garderobe und stellt die Schuhe dazu. Wenn sie den Schlüssel nicht gleich findet, schimpft er mit ihr. Darum legt sie den Schlüssel neben die Handtasche. Er schimpft auch wegen der Krümel auf dem Teppich. Wenn sie die Wohnung nicht sauber halten könne, brauche sie eben eine Putzfrau. Als ob sie nicht putzen könnte. Damals als sie mit ihm schwanger war, hat sie bei fremden Herrschaften geputzt. Der Mann hat nicht genug für drei verdient und sie brauchten jede Mark. Dem Sohn sagt sie das nicht. Auch nicht, dass die Augen immer schwächer werden. Sie schämt sich, dass sie die Krümel übersehen hat. Dabei will sie ihm doch zeigen, dass sie gut alleine zurecht kommt. Er hat eine eigene Familie, um die er sich kümmern muss und eine anstrengende Arbeit. Da will sie ihm keine zusätzlichen Sorgen machen.

Viel braucht sie nicht zum Leben. Die kleine Rente reicht für die Wohnung und das Nötigste. Sonntags zieht sie ein schönes Kleid an, setzt den Hut auf und geht in den Park. So haben sie es immer gemacht, als der Mann noch lebte. Danach geht sie, wie jeden Tag, zum Grab und zupft das Gras zwischen den Sträuchern. Im Herbst stellt sie ein kleines Licht vor den Grabstein. Damit er es ein wenig heller hat. Ist dunkel genug da drunten. Einmal in der Woche hat sie frische Blumen dabei. Die tauscht sie gegen die verwelkten in der grünen Vase aus und schüttet frisches Wasser aus einer Friedhofskanne hinein. Eine Weile spricht sie mit ihm, erzählt ihm vom Sohn. Wie stolz er wäre, wenn er ihn sehen könnte. Wie er sie mit dem großen neuen Auto abgeholt hat und sie in einem feinen Restaurant gegessen haben. Der Sohn verdient gutes Geld. Sie will sich nicht beklagen, nur er, der Mann, fehle ihr halt ein wenig. Dann streicht sie energisch die Träne von der Wange, sagt schnell auf Wiedersehen und macht sich auf den Weg. Von dem Reiseladen erzählt sie nichts. Am Ende hält er sie noch für undankbar.

Sorgfältig hat sie die Angebote studiert und sich schließlich entschieden. Die Dame im Laden war sehr freundlich. Natürlich bräuchte sie einen gültigen Reisepass. Ihre Wangen glühen, als sie daran denkt, wie sie ihn zwischen all den alten Briefen fand, ihn in die Handtasche steckte und damit zu dem kleinen Laden marschiert ist. Dem Sohn wird sie nichts davon erzählen und auch nicht dem Mann. Am Ende halten die sie noch für verrückt. Ein wenig verrückt ist es schon, was sie plant. Wenn sie sich vorstellt, wie sie zwischen den großen Palmen herumspaziert, fühlt sie sich fast wieder wie ein junges Mädchen. Sie wird endlich einmal den Ort sehen, den sie nur von den Bildern in der Auslage kennt. Manchmal schickt der Sohn Postkarten mit ähnlichen Bildern. Auf der Rückseite steht, dass es sehr warm sei, dort wo er gerade sei, und dass die Sonne jeden Tag scheine. Sie hat in den Jahren ein wenig Geld gespart. Ihre Hände zitterten, als sie es vor sich auf den Tisch legte, um die Reise zu bezahlen. Der Koffer war über die Jahre auf dem Schrank eingestaubt. Jetzt steht er sauber und gepackt im Flur. Die Schlüssel liegen neben der Handtasche. Sie schlüpft in den Mantel, setzt den Hut auf und geht zum Sessel. Das Taxi wird bald da sein.

Sie hat die Nachbarin gebeten, die Blumen zu gießen und nach dem Rechten zu sehen. Die Nachbarin dreht den Schlüssel im Schloss. Die Türe öffnet sich. Im Flur steht ein Koffer. Als sie das Zimmer betritt, sitzt die alte Dame mit Mantel und Hut im Sessel, den Kopf auf die Brust gesunken, als ob sie nur kurz eingenickt sei. Die Hand im Schoß hält ein Flugticket nach Mexiko.

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