Sonntag, 25. November 2007
Giving it all away
Hotelzimmer sind überall gleich. Das Zimmer, in dem ich sitze, könnte auch irgendwo anders sein. Ein Bett, ein Tisch, ein Sessel, ein Fernseher. Einige Bilder an der Wand, kleine Fläschchen in der Minibar und im Bad. In einer der vielen Schubladen liegt mit Sicherheit eine Bibel. Ich schaue nicht mehr nach. Früher öffnete ich jede Schublade mit ein wenig Herzklopfen. Ich hoffte, etwas Vergessenes darin zu finden. Einen Ring, ein beschriebenes Blatt, ein Bild, ein Stück Menschlichkeit in einem unpersönlichen Raum. Kurz bevor ich eine Schublade öffnete, stellte ich mir vor, es läge darin ein abgehackter Finger, ein Auge oder ähnliches. Der Gedanke ließ die Spannung immens steigen. Gefunden habe ich immer nur die obligatorische Bibel, manchmal der Koran oder ein buddhistisches Äquivalent, Telefonbücher, eine Hotelbeschreibung und die Speisekarte für den Zimmerservice. Die einzigen menschlichen Überreste in Form von Zehennägeln oder Haaren lagen offen auf dem Boden. Seither schaue ich weder in Schubladen noch Mafiafilme.

Meine Sachen liegen auf dem zweiten, unbenutzten Bett oder im geöffneten Koffer. Niemals staue ich etwas in Schubladen oder den Schrank. Einzig die Uniform hängt dort, denn die will ich während meines Aufenthaltes bewußt vergessen. Würde ich sie dort lassen, müsste ich schon nackt zum Abfahrtstermin in der Lobby erscheinen. Höchstwahrscheinlich wird mir das nie passieren. Die Gefahr, andere Dinge zu vergessen, ist jedenfalls weitaus größer. Meine Sorge ist so groß, dass ich nach Verlassen des Raumes zwanghaft noch dreimal Zimmer und Bad inspiziere, bevor die Türe endgültig ins Schloß fällt. Ich stelle mir vor, wie das Zimmermädchen mein Schlafshirt, meine Haarspange oder das abgeschabte Mäppchen mit der Nagelschere findet und es mit spitzen Fingern in den Abfallsack packt. Mal abgesehen von einem alten Schlafshirt, einer Packung Tabletten, einigen Haaren und Fingernägeln habe ich aber noch nie etwas zurückgelassen. Schließlich sehe ich auch dreimal nach. Zwangsneurosen können durchaus nützlich sein.

So sitze ich also in diesem Hotelzimmer, das irgendwie überall sein könnte. Auf dem zweiten, unbenutzten Bett liegen meine Füße und alles, was ich im Laufe des Tages erworben habe. Eigenartig daran ist, dass all die auf der Decke ausgebreiteten Dinge, außer meinen Füßen, nicht mir gehören sollen. Es sind Geschenke für andere. Eigenartig ist auch dieses wohlig warme Gefühl, das beim Anblick der Sachen in meinem Bauch entsteht. Langsam lasse ich die Perlenkette abwechselnd durch meine Finger gleiten und vor den Augen baumeln, streichle über den Seidenstoff mit den eingestickten kleinen Drachen, halte das Stofftäschchen in der Hand und lege schließlich alles wieder zurecht, nur um fünf Minuten später erneut alles anzufassen. Dann stelle ich mir die Gesichter der Beschenkten vor. Ihre Freude beim Auspacken ist mindestens so spannend wie ein imaginärer abgetrennter Finger in einer nicht geöffneten Schublade, nur schöner.

Jetzt beginnt wieder die Zeit, in der Leute verzweifelt nach obligatorischen Geschenken suchen. Manche werden erst in letzter Minute fündig, wohl weil jede Pflicht lästig ist und gerne verdrängt wird. Die Schönheit und das Glück des Schenkens wird dabei ebenfalls verdrängt. Es mag egoistisch sein, wenn ich gerne schenke, vielleicht ist es auch das Ergebnis einer erfolgreichen Konditionierung. Trotzdem möchte ich nicht auf das Gefühl verzichten. Wie schön es ist, sich einen bestimmten Menschen vorzustellen, seine Vorlieben, seine Eigenarten, sein Äusseres, während man etwas Passendes auswählt, wie befriedigend wenn man fündig wird. Drei Paar Schuhe für mich selbst könnten meine empfundene Zufriedenheit beim Betrachten der heutigen Ausbeute für andere nicht überbieten.

Irgenwann hatte ich die Idee, Menschen aus meinem Bekanntenkreis zu beschenken, die aus den Ländern stammen, in die ich fliege. Das Projekt mit dem internen Arbeitstitel 'Fernweh-/Heimwehexpress' - so eine Art Import-Export für Gefühle - begann vielversprechend. Dier japanischen Ballettlehrerin brachte ich aus Tokio einen Glücksbringer und Seetang für Sushi mit. Obwohl wir uns nicht lange kannten, fiel sie mir freudig um den Hals. Ich ging um etliche Glückshormone und Erkältungsviren reicher heim. Während der dreiwöchigen Grippe beschloß ich, das Projekt zu modifizieren. Nicht wegen der Ansteckungsgefahr, sondern weil sich schlichtweg zu wenige Japaner, Chinesen und Brasilianer in meinem Bekanntenkreis befinden, und die japanische Ballettlehrerin - sie war im Anschluß sechs Wochen abwesend - möchte ich auch nicht zu sehr strapazieren. Jetzt beschränke ich mich eben auf die Menschen, die ich kenne.

Mit den Gaben sind plötzlich alle zukünftigen Besitzer da. Es wird ein wenig eng auf dem Bett, außerdem bin ich müde. Also packe ich alles endgültig weg. Das warme Gefühl aber bleibt und die Gewißheit, nicht alleine zu sein. Neben Zwangsneurosen ist auch eine ordentliche Wahnvorstellung manchmal ganz nützlich, vor allem, wenn man viel unterwegs und das Fernsehprogramm meistens schlecht ist. Angenehmer als fremde Fußnägel und Haare sind Perlen und Seidenstoff im Bett allemal.

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