Montag, 3. Juli 2006
She´s got it
Jahrelang gegrübelt, jahrelang rastlos gesucht nach Gründen, nach Erklärungen, nach einem Strohhalm, an den sich der Kopf klammern kann, wenn die Seele schreit, wenn das Messer der Ungerechtigkeit sich tief ins Fleisch schneidet und Teile des Herzens durchtrennt.

"Warum ist er so?"
"Er ist krank."
"Was fehlt ihm denn?"
"Das weiß ich nicht."
"Wenn ihm was fehlt, muss er zum Arzt."
"Nein, das ist nicht körperlich."
"Dann ist es psychisch?"
"Ja"
"Was fehlt ihm denn?"
"Ich weiß es nicht."
"Und warum müssen wir drunter leiden?"
"Das meint er nicht so."
"Aber es tut weh."
"Das müssen wir aushalten."
"Ich will nicht, dass er so ist."
"Ich auch nicht. Vielleicht bin ich schuld."
"Oder ich."
"Er kann das nicht kontrollieren."
"Ich will aber nicht so einen Vater."
"Ich schäme mich für diesen Sohn."
"Hat er mich denn nicht lieb?"
"Doch bestimmt."
"Warum tut er das dann?"

Jahrelang gegrübelt und Bücher gelesen, Bücher über Schizophrenie, über Borderline und Psychosen, solange bis die Augen vor Müdigkeit zufielen. Ergebnislos. Und dann kommt einer daher, der auf den ersten Blick völlig anders ist und der mein Herz gewinnt. Aber auch er hat ein Problem. Sein Problem lässt mich nicht los, lässt mich grübeln, nach Gründen suchen und Erklärungen. Ergebnislos, zunächst. Doch dann beginnen alte Gefühle aufzubrechen, die ich in ihrer Intensität von längst vergessenen Tagen nur kenne. Wiederholung von alten Geschichten. Ich bohre weiter, denn der Himmel ist nicht grün, er ist blau. Und plötzlich wird mir klar, was vor vielen Jahren gewesen ist. Für diese Erkenntnis bin ich ihm, der erst vor kurzem mein Leben streifte fast ein wenig dankbar. Durch sein Verhalten hat er Licht in mein Dunkel gebracht. Den Scheinwerfer justiert habe ich allerdings selbst. Endlich, endlich kann ich die Fragen loslassen.

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Soeben alte Festplatte vernichtet. Wenn das doch mit Gehirnen auch ginge.

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Ich Ich Ich
Der bislang schönste Nachruf im Bloggerland. Da geh ich doch mit:

Es ist Freitag nachmittag. Hamburg - sonnig - die Frisur hält. Wir besteigen den Crewbus. Der Fahrer hat das Radio auf volle Dröhnung. Der Copi bittet den Fahrer, das Radio leiser zu stellen. WM-Pläne werden geschmiedet. Die Herren vom Cockpit wollen gerne auf eine Schlägerei. Wer geht mit? Die Kollegin sagt, sie kann nicht, weil sie sich grade die Zähne neu hat machen lassen. Ich höre im Hintergrund die Nachricht von Gernhardts Tod. "Gernhardt ist tot!" rufe ich laut. Verständnislose Blicke. "Robert Gernhardt?" frage ich leise und rhetorisch nach. Das Thema wird schnell gewechselt.

Der Ligeti ist auch vor Kurzem gestorben, fällt mir ein. Die breite Öffentlichkeit kennt Lux Aeterna, Atmosphéres und das Kyrie aus dem Film 2001 - Odysee im Weltraum. Damals ist Kubrick mit einer Urheberrechtsklage billiger weggekommen, als wenn er sich die Rechte an dem Stück gekauft hätte. Bei Ligeti kann ich verstehen, dass den kaum einer kennt. Bei Gernhardt nicht. Das einzige Buch, das ich von ihm besitze, steht neben einem von Henscheid. Ist keine böse Absicht, nur derselbe Verlag. Dabei habe ich mehr als nur ein Werk von ihm gelesen. Ich habe Gernhardt für mich entdeckt, als Gleichaltrige sich noch bei Frisch, Hesse und Dürrenmatt, bei Golding und Salinger einen runterholten. Dafür wusste ich bis vor kurzem nicht, was gothic ist und auch die Musik dieser Epoche ist nahezu spurlos an mir vorrübergegangen. Ich mochte seinen scharfsinnigen Humor. Während andere noch die Gesellschaft anprangerten, schaute er nach innen. Ich glaube, von ihm habe ich gelernt, mit mir selbst nachsichtiger zu sein und über Fehler zu lachen. Wenn einer mit seinen Büchern das schafft, was oft nicht einmal durch langjährige Therapie erreicht wird, dann muss er ein ganz Großer gewesen sein.

Ich Ich Ich von Robert Gernhardt. Das einzige Buch von ihm in meinem Regal, gleich neben Henscheidts "Wie man eine Dame verräumt".

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Montag, 3. Juli 2006
ALK
Ein Buch von Simon Borowiak für alle Säufer, die sich in lichten Momenten schon mal Gedanken über ihr Trinkverhalten gemacht haben, denen aber die Fachbücher zu fachlich und Betroffenenberichte zu betroffen sind (Zitat aus dem Vorwort). Ein Buch für Betroffene, die Intelligenz und Humor noch nicht ganz versoffen haben. Ein Buch für Angehörige, denen mal die Betroffenheitskeule zum Zwecke der Ernüchterung über den Schädel gezogen wird. Kurz: ein durchaus amüsantes Buch mit Informationsgehalt, das in keinem Haushalt fehlen sollte (sind wir nicht alle ein bisschen blau?)

Soeben gelesen und restlos begeistert. Mehr dazu hier.

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Samstag, 1. Juli 2006
Du bist elf
Wenn mir das einer erzählt hätte, ich hätte es nicht geglaubt. Ich trau mich kaum, das hier zu schreiben, ohne Angst zu haben, gleich wieder eine Glaubwürdigkeitsdebatte loszutreten. Weil mir aber scheißegal ist, wer mich mag und wer nicht (neudeutsche Definition von Authentizität), mach ich es trotzdem. Gestern haben mich elf Kerle glücklich gemacht. Genau genommen waren es sogar zwölf und eine Frau aber das tut nichts zur Sache. Zum ersten Mal seit meiner Fußballdesensibilisierungstherapie habe ich gestern in Hamburg das Viertelfinale partiell verfolgt, wobei verfolgt nicht ganz den Tatsachen entspricht. Bei jedem Aufschrei der Menge musste ich schnell in die Nähe eines Übertragungsgerätes, um einen Beobachter nach dem Spielstand zu fragen. Und dann ist es passiert: Deutschland gewinnt beim Elfmeterschießen gegen Argentinien und ich ertappte mich dabei, die Arme jubelnd gen Himmel zu strecken. Gejubelt habe ich nicht alleine, denn hier kommen der zwölfte Mann und die Frau mit ins Spiel, die mir hilfreich zur Seite standen. Noch nie in meinem Leben habe ich Menschen auf der Straße so glücklich gesehen. Eine sagenhafte Stimmung. Ausserdem bin ich sehr gespannt auf die ersten Statistiken über die Geburtenrate im nächsten Jahr. Ein sprunghafter Anstieg würde mich nach der gestrigen Ausgelassenheit nicht wundern. Für den Genpool ist die WM ein wahrer Glücksfall, denn endlich pfeift mal frischer Wind durch rezessive und dominante Merkmale.

Eine halbe Stunde nach Ende des Spieles trat der Argentinische Nationaltrainer zurück. Selbst wenn die Entscheidung an sich merkwürdig ist, frage ich mich, warum der dazu eine halbe Stunde brauchte. Der japanische Nationaltrainer hätte schon auf dem Spielfeld Harakiri begangen. Die Japaner können froh sein, dass sie schon so früh ausgeschieden sind. Ab Dienstag ist Schluss mit lustig. Da heißt es dann Farbe bekennen. Während gestern noch undifferenziert gejubelt wurde, trennt sich im Halbfinale die Spreu vom Weizen. Hey Italien, zieht Euch warm an. Ab Dienstag seid Ihr nicht mehr zu Gast bei Freunden, da machen wir Euch fertig. Ihr habt die Mafia aber wir haben elf starke Jungs. Da hilft auch kein Heulen und Zähneklappern. Im Land der Betonschuhe wird ab Mittwoch Staatstrauer ausgerufen werden und die Pizzerias und Eisdielen hierzulande machen für eine Woche dicht. Falls nicht, verlieren sie zumindest ihre einheimische Kundschaft. So oder so werdet Ihr verlieren, denn man muss sich im Leben entscheiden: entweder Geld oder Idealismus. Das nennt man psychologische Kriegsführung.

Zur Unterstützung unserer Jungs fand ich den Text für das Spiel gegen Schweden mit dem Möbellieferanten nicht schlecht. Deswegen für Dienstag ein exklusiver Text zum Mitgrölen. Ich hab da schon mal was vorbereitet:

Eine Reise in den Norden ist für andre schick und fein,
doch elf kleine Italiener werden bald zuhause sein.

Elf kleine Italiener, die sehnten sich nach Berlin
nach Toren und Pokalen, die lockten von Anbeginn
Elf kleine Italiener, manch Foul mit Fuß und Bein
Eine Reise in den Norden ist für andre schick und fein,
doch elf kleine Italiener werden bald zuhause sein.

Marcello, oh Marcello, wir werden uns bald wiedersehn
Marcello, oh Marcello, das wird für Dich nicht schön

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