Mittwoch, 27. November 2019
Carousel
Meine Tage sind - dem Gangbild gleich - eher unrund. Wegen der ständigen Schmerzen bin ich leicht gereizt, was sich gelegentlich in Patzigkeit meinen Mitmenschen gegenüber äussert. Viel zu lange bin ich schon so bewegungsunfähig und an das Haus gebunden. Ich suche mir Aufgaben, wie beispielsweise Heizkörperstreichen oder Blattentstauben, was mich allerdings nicht zufriedener macht. Manchmal muss ich mich ein wenig einbremsen, weil ich gerne mal Aufgaben übernehme, die nicht in meinen Zuständigkeitsbereich fallen. Für andere mitdenken ist per se nicht schlecht; es bedeutet auch Rücksicht auf andere, wo andere nur an sich denken.

Wohin die sogenannte Individualität, die eigentlich nur maskierte Bequemlichkeit - man könnte es auch Faulheit nennen - des einzelnen Mitglieds einer sozialen Gemeinschaft führt, sehen wir heute überall im großen Stil. Ich glaube nicht, dass ich das Beispiel Klimakrise wirklich erwähnen muss. Mich erschreckt, wie sehr Nutznießer der Gesellschaft gleichzeitig deren Zerstörung durch ihre Egozentrik vorantreiben. Dabei wäre es so einfach, man braucht nur den Blick ein wenig nach rechts und links wenden. Es geht um Wahrnehmung, des Umfeldes, der Mitmenschen, des eigenen inneren Sumpflandes.

Ich drehe mich hier im Kreis, denn die Menschheit werde ich nicht ändern, geschweige denn die Welt retten. Aber ein bisschen netter sein könnte ich gelegentlich auch. Und ein bisschen Verständnis für die aufbringen, die das nicht können, weil sie in ihrer Entwicklung irgendwo steckengeblieben sind. Schließlich stand ich selbst vor langer Zeit am Anfang des Weges. Nur nicht aufgeben, nicht resignieren und zurückfallen in meinem Bestreben. Mehr kann ich nicht tun. Wenn ich mal wieder arg ungeduldig innerlich über die schlimmen Mitmenschen schimpfe, drehe ich so lange am Gedankenkarussell bis ich auf den wahren Grund für den Ärger stoße. Das ist mühsam, hilft mir aber. Soviel sei verraten: ich finde meistens ein weinendes inneres Kind, das sich ungerecht behandelt, zurückgesetzt oder ungeliebt fühlt. Kinder lieben übrigens Karussellfahren, weil es so schön schwindelig macht. Überhaupt sollten alle viel öfter Karussell fahren.

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Samstag, 23. November 2019
Coming Home X


Fünftausend Tage geschrieben, gelesen, gelacht, geweint, gehofft, genossen, geliebt, gehasst, gesessen, gelinkt, gebildert, gezählt, gehört, gesungen, gebastelt, gelaufen, getanzt, getaucht, gedacht, geflogen, gearbeitet, gereist, gelernt, gefeiert, getrunken, gegessen, gesorgt, gemeckert, gefangen, gepasst, gelassen, gelöscht, geärgert, gefreut, gemenschelt.

Fünftausend Tage, das sind hundertvierundsechzig Monate und dreizehneinhalb Jahre. Auf dass die kommenden Tage, Monate und Jahre mit vielen neuen Gedanken, Geschichten und Erlebnissen gefüllt sein mögen, die Ihr hier lest und kommentiert.

Und jetzt Ihr:

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Freitag, 22. November 2019
Teenage Years


Seit einiger Zeit beschäftigen mich meine Teenagerjahre zwischen 12 und 17, vor allem im Hinblick auf die Beziehung zu meiner Mutter So bin ich über den obigen Tweet nicht nur gestolpert, es hat mich buchstäblich langgelegt. Da es bei mir nicht anders war, es von mir aber anders wahrgenommen wurde verfolgen mit heute noch Schuldgefühle. Das macht mich traurig und wütend zugleich; nicht in Bezug auf andere, eher auf verpasste Gelegenheiten und unbewusste, falsche Schlussfolgerungen. Aber erst mal der Reihe nach.

Aufgewachsen bin ich wegen schwieriger familiärer Umstände bei der Oma. Als sozusagen Einzelkind ist das ziemlich schön, wenn man bedenkt, dass Omas so gut wie alles für die Enkelkinder tun, jedoch wenig von sogenannten Erziehungsmethoden halten. Die Mutter versuchte das während langer Krankheit und nach dem Tod der Oma nachzuholen. Natürlich war ich ein verzogener Fratz, hatte aber auch meine positiven Seiten. Zum Beispiel war ich sehr gut in der Schule, obwohl ich regelmäßig meine Hausaufgaben vergaß, erledigte kleine Aufgaben im Haushalt nur minimal zeitverzögert, kam nie zu spät und morgens auch von alleine aus dem Bett. Ich aß alles was mir vorgekocht wurde, konnte gut mit Geld haushalten und war auch in anderen Dingen stets verantwortungsbewusst. Na schön, das Auto fuhr ich eine Woche nach Führerscheinaushändigung an einen Pfosten und in einer Nacht und Nebelaktion war ich bei abgeschlossener Zimmertüre aus dem Fenster geklettert, weswegen meine Mutter mit der Leiter von der Straße in die eigene Wohnung einsteigen musste. Da war ich aber schon 18. Die Lehrer brachte ich als Klassenclown manchmal auf die Palme und geübt habe ich oft erst am Tag vor der Klavierstunde. Mein Schrank war nie ordentlich und das Bücherregal verstaubt, das Bett nicht gemacht und der Fernseher lief länger als erlaubt. Abgesehen davon - vor allem im Vergleich zu Berichten von Teenagermüttern - glaube ich aber, ein unter erschwerten Umständen verhältnismäßig gut funktionierender Teenager gewesen zu sein.

Nach dem Tod der Großmutter - ich war gerade mal 13 Jahre alt - kam ich in die Obhut der Mutter, die damals Mitte Dreissig und voll berufstätig war. Dieses einschneidende Erlebnis ließ mich für einige Monate völlig verstummen, was meine Mutter auf ihre Person bezog und sich deswegen von mir abgelehnt fühlte. Ich wiederum bezog die Verweigerung jeglicher sozialer Interaktion immer auf die Trauer, konnte halt einfach nicht mehr reden, mich nicht für Gespräche oder Freizeitgestaltung interessieren und die Schulnoten rasten rapide in den Keller. Heute weiß ich, dass Jugendliche kein traumatisches Erlebnis brauchen, um nicht mit den Eltern zu kommunizieren. Sie tun es nicht wegen des Alters. Damals führte diese Verweigerung zum Bruch zwischen meiner Mutter und mir. Mir wurde jahrelang vorgehalten, nicht zugänglich gewesen zu sein, was mich wiederum bei jedem späteren Annäherungsversuch verzweifelt und hilflos zurückließ. Wir sind quasi einmal falsch abgebogen und haben uns immer mehr verfahren, statt einen Blick auf den Plan zu werfen - Navis gab's ja damals keine.

Dieser Bruch zog sich so lange hin, bis ich schließlich den Rat befolgte, der am Ende des Tweets steht: *love them anyway Dazu musste ich aber meinen kindlichen Anspruch auf Geliebt-werden aufgeben, denn das hatte ich meinerseits der Mutter immer vorgeworfen. Das Vorenthalten jeglicher Zuwendung - körperlich wie emotional - in mir verständlicher Art führten wiederum bei mir zu falschen Schlussfolgerungen. Dass ich ein liebensunwürdiger Mensch sei und ich deshalb von meiner Mutter abgelehnt würde, lernte ich mit der Erkenntnis aufzulösen, dass meine Mutter eben auch nur wegen eigener, unbewusster Mechanismen so reagierte. Dabei übersah jahrelang ich die Dinge, die sie mir aus Liebe und Fürsorge gegeben hat. Sie hat meine Interessen in Tanz und Musik, so gut es finanziell eben ging, unterstützt, hat sich durchaus Gedanken und Sorgen um mich gemacht und war letztlich auch immer ganz pragmatisch da, wenn es mal schwierig wurde.

Heute ist sie viel weicher geworden, heute können die verpassten Gespräche und ersehnten Zuneigungsbekundungen zwischen meiner Mutter und mir geschehen. Darüber bin ich sehr froh. Doch manches Mal fühle ich hilflos die Wut über die Fehlinterpretation meines Verhaltens in mir aufsteigen. Ein normaler Teenager zu sein, hätte mir als Aussage schon so sehr geholfen. Stattdessen förderte die Therapeutin frühere Traumata gestalttherapeutisch zutage, während meine Mutter - von mir eingeladen - ratlos daneben saß und ihr eigenes mühevoll hinunterschluckte. Stattdessen bezeichnete die mutterseitige Verwandtschaft meine Unzugänglichkeit als Undankbarkeit, während sie mich zu ihren Zwecken emotional erpresste. Mein Verhalten war jahrelang der willkommene Anlass, mich als Sündenbock für unerfüllte Erwartungen zu institutionalisieren; die Rolle schien mir als "Tochter meines Vaters" buchstäblich auf den Leib geschneidert. Von der Scham darüber will ich gar nicht anfangen.

Zum Glück weiß ich heute, dass die Wut und die Traurigkeit sein dürfen. Ich muss sie empfinden und aushalten - ohne Scham oder Schuldgefühl. Nur so werde ich langsam aber beständig wieder ganz. In der Rückschau bin ich sogar ein bisschen stolz darauf, was ich bereits hinter mir gelassen habe. Nur manchmal, ganz selten, da legt es mich wie jetzt eben flach.

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