Samstag, 9. September 2006
God is a concept by which we can measure our pain
Dieses Land macht mir Angst. Genauer gesagt die Menschen, die sich hier aufhalten. Wahrscheinlich wäre meine Angst nicht auf ein Land beschränkt, würde ich mich länger andernorts aufhalten. So aber konzentriert sich meine individuelle Wahrnehmung auf meine alltägliche Umgebung. Da passiert etwas und kaum einer sieht hin. Ich meine nicht die Katastrophen durch Unwetter und Gewalteinwirkung, ich meine die kleinen Dinge, die täglich stattfinden. Das Große beginnt im Kleinen. In jedem von uns.

Gestern blieb im Haus der Fahrstuhl stecken. Die Eingeschlossene betätigte den Notfallknopf und das laute Fiepen war deutlich im gesamten Gebäude zu hören. Mir war sofort klar, was da vor sich ging, doch wartete ich eine kleine Weile, bevor ich aktiv wurde. Nicht weil ich die Person quälen wollte, sondern um zu sehen, wer ausser mir darauf reagiert. Im Haus hielten sich ausser mir noch mehr Mieter auf, doch keiner schien sich zu Handeln aufgefordert zu fühlen. Also rief ich der Dame zwischen viertem und fünften Stock zu, ich würde Hilfe holen.

Vor längerer Zeit fand ich auf der Straße eine bewußtlose Person. Es war Nacht und Winter zudem. Die Frau wäre erfroren, hätte sie noch länger dort gelegen. Sie atmete kaum noch. Als ich Passanten zurief, sie sollten einen Rettungswagen alarmieren, erntete ich nur Kopfschütteln. Die nächsten Fußgänger vergrößerten schlichtweg ihren Radius um mich und die Bewußtlose. Ich ging in die nächste Kneipe und orderte dort selbst einen Rettungswagen. Dann wartete ich neben dem leblosen Körper. Von den Sanitätern erfuhr ich, es handele sich um eine Fixerin, die sich den goldenen Schuß gesetzt hatte.

Als wir auf der Rückkehr von einem Nachttauchgang auf der dreispurigen Autobahn ein brennendes Fahrzeug passierten, waren wir nicht die Ersten, die hielten, jedoch die ersten, die handelten. Es ist nicht leicht, eine vielbefahrene dreispurige Straße im Dunkeln abzusichern, auf der gerade eine Benzinspur entflammt. Da ich Umstehende anwies, Rettungswagen und Feuerwehr zu alarmieren, schien ich plötzlich Ansprechpartner und Beschwerdestelle zugleich zu sein. Einer sei vorhin über lose Fahrzeugteile gefahren, wer denn die Kosten dafür übernehme, ein anderer wollte wissen, wer ihm seine Decke ersetze, auf die wir den Verletzten gelegt hatten. Ich drehte mich wortlos um und ging.

Selbst schuld höre ich sie sagen, was kann ich schon tun. Ich bin beileibe nicht altruistisch veranlagt aber wenn diese Einstellung der Allgemeinheit weiter zunimmt, wird man mir bald ein Helfersyndrom diagnostizieren. Denn statt selbst aktiv zu werden, schreit alle Welt nach höheren Institutionen. Die Regierung wird´s schon richten. Wenn die nicht hilft, wird nach Gott gesucht. Kindliches Verhalten, nach den Eltern zu rufen, wenn man selbst hilflos scheint. Wir leben in einer Gesellschaft von überalterten Kleinkindern. Man überlässt das Handeln den Mächtigeren und beschwert sich im Gegenzug über Reglementierungen, die die eigene Freiheit einschränken. Ich beobachte dieses Verhalten schon eine ganze Weile (unter anderem hier* zu lesen). Aber was sollen mehr Kameras, stärkere überwachung und verschärfte Sicherheitsmaßnahmen ausrichten, wenn der Einzelne es versäumt, für sich Verantwortung zu übernehmen? Ich höre die Stimmen der ach so Wehrlosen: Ich gehe wählen aber was kann ich damit schon ausrichten? Die Politiker tun doch sowieso, was sie wollen. Politik, Wirtschaft, Macht und Geld, das hängt doch alles zusammen. Die Chose ist mir eine Nummer zu groß. Vielleicht liegt es genau daran, sich eben nicht seiner Freiheit berauben zu lassen, indem Eigenverantwortung übernommen wird. Zugegeben, das ist erst mal unbequem, denn schließlich bin ich damit auch für meine Fehler selbst verantwortlich. Lieber springen wir wie die Lemminge in den Abgrund, als uns auf eigene Beine zu stellen. Als Einzelperson kann ich nicht die Welt revolutionieren. Was ich allerdings tun kann, ist, meine eigene Einstellung zu revidieren. Wenn ich den Mut finde, mich in Wort und Tat gegen den allgemeinen Tenor zu stellen, bin ich schon stärker als drei Mitläufer. Sicher findet sich bald einer, der ähnlich denkt, dann noch einer und noch einer. Nur so kann etwas Neues beginnen, nur so existiert überhaupt eine Chance auf Veränderung.

Eine Lebenseinstellung lässt sich trainieren, wie alles. Es erfordert ein wenig Disziplin. Dann ist nichts mehr mit Ausflüchten wie so bin ich eben oder in meinem Alter kann man sich nicht mehr ändern. Unbequem zu sein, fällt mit der Zeit immer leichter, ja es kann sogar Spaß machen. Dieses Wochenende habe ich genügend Gelegenheit, die Herdenkatholiken auf der Straße zu beobachten. Ja, betet ihr nur für eine bessere Welt. Betet zu höheren Mächten und betet für euren heiligen Vater, Ersatzfigur für eine verlorene Kindheit. Ich weiß, ich bin mein eigener Gott, wenn auch ein ganz kleiner. Und ich möchte nie mehr tauschen.

*wo ich ebenfalls schon Beiträge einstellen durfte

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