Montag, 11. September 2006
She said “Hello, hey Jo, you wanna give it a go?”
Am Wochenende wird endlich mal wieder um die Häuser gezogen. Mal so richtig die Sau rauslassen. Oder das kleine Ferkel. Je nachdem. Soweit der Plan. Die Klamotten gebügelt, das Gesicht verspachtelt, aufs Radl geschwungen. Doch wohin des Weges? Das Durchschnittsalter der Clubs überschritten, das der gediegenen Tanztees noch nicht erreicht, für Ü30 Resteficken zu schade. In einer hohlen Gasse erleuchtete Scheiben. Drinnen großer Andrang hohler Hirnmasse. Wenigstens falle ich dort nicht auf. Könnte man meinen. 20jähriges Bestehen wird gefeiert. Die Musik ist deutlich älter. Das Publikum auch. An der Bar entsteht gerade eine kleine Lücke, in die ich mich hineindrücke. Hohes Aufkommen an schmalen blonden Wesen. Somit falle ich aus dem Raster und doch auf. Mein einziger Trost die Aussage meines Friseurs, ich sei dunkelblond. Hilft jetzt aber nicht wirklich, weil ich mehr als einen Gesichtsausdruck draufhabe. Die müssen - im Gegensatz zu mir - nur repräsentieren. Als Grüppchen lässig in der Ecke stehen genügt schon. Soviel Schönheit erträgt mein Selbstbewusstsein heute Abend nicht. Ich wende mich von den Püppchen ab und meinem Wodka Tonic zu. Hinter mir hat die Stimmung ihren ersten Höhepunkt erreicht. Es wird wild getanzt. Wie man halt wild auf einer Stelle tanzen kann. Ist alles Interpretationssache. Ich fühle es jedenfalls an meinem Rücken auf und ab rubbeln. Auf halbem Fuß wippe ich ein wenig mit. Der andere schwebt frei über dem Treppenabsatz. Mir wird langsam klar, warum dieser Platz an der Bar noch frei war. Zu irgendwas muss das ständige Tanztraining ja gut sein. Die Balance hält sich leichter als die Contenance.

Während ich mich auf die unglaublich interessante Musterung der Thekenoberfläche konzentriere, scheint einer der Gäste mit mir Kontakt aufnehmen zu wollen. Auf den Eiswürfel in meinem Ausschnitt reagiere ich nicht. Pubertäres Spielchen. Erst als ich mich unbeobachtet wähne, schüttle ich das kalte Nass aus dem BH. Es tropft in den freischwingenden Schuh. Mit soviel Selbstbeherrschung haben die Herrschaften hinter mir nicht gerechnet. Ein zweiter Versuch mittels Schultertippen wird gestartet, dann ein dritter. Keine Reaktion, nicht einmal ein leises Zucken. Gott, bin ich eine coole Sau. Und so fad. Nach angemessener Zeit drehe ich mich um. Gut, dass ich inzwischen unterhalb der Stufe stehe. So kann mich der Typ hinter mir auf Augenhöhe ansprechen. Der steht nämlich noch oben. Die verbale Kontaktaufnahme gestaltet sich im Gegensatz zur nonverbalen origineller. Deshalb verzeihe ich ihm auch die Frage, was ich so mache. Ich denke, antworte ich wahrheitsgemäß. Darauf fällt selbst einem Münchner Original nicht mehr viel ein. Kann er nicht wissen, dass meine Stärken auch Abwürgen leichter Konversation beinhalten. Viel mehr würde mich ja ein anderer aus der Gruppe seiner Bekannten interessieren. Der ist ein wenig zurückhaltend, ernsthafter als die anderen. Sowas weckt Mutterinstinkte. Es wird beschlossen, die Lokalität zu wechseln. Man integriert mich in die laufenden Verhandlungen. Sehr rücksichtsvoll.

Auf dem Weg zur Maximilianstraße fragt Moni, ob die Herren mehr als zwei Sätze mit mir gewechselt hätten, bevor sie mich mitschleppten. Sie könnte aber auch Marion heissen oder Maria. Halt irgendwas mit M. Natürlich ist sie blond. Ich wittere weibliche Missgunst. Was sie nicht weiß, dass einer der Herren sich ihres verwaisten Handys angenommen hat. Ich weiß es, sage aber nichts. Das Münchner Original und der ernsthafte Typ radeln neben mir, Moria vor uns her. Vielleicht war ihr Repertoire nach dem zweiten Satz erschöpft. Vielleicht wollen die Herren aber auch nur von meiner Radlfunzel profitieren. Unwahrscheinlich, denn der volle Mond knallt sein Licht auf die Münchner Schickeria. An der nächsten Lokalität angekommen taut der ernsthafte Typ so richtig auf. Es entwickelt sich zwischen uns ein Gespräch über die Wichtigkeit, ernsthaft zu sein. Sätze gefolgt von langen Pausen. Zum Nachdenken. Drei werden es insgesamt schon gewesen sein. Ganz beachtlich für diese Uhrzeit. Jemand drückt mir ein Glas in die Hand. Gläser sind auf der Nobelmeile immer zu klein. Oder zu wenig drin. Oder ich zu schnell. Es dauert nicht lange, da hänge ich dem ernsthaften Typ am Hals. Oder er an meinem. Vermutlich hat mich nur jemand gestoßen. So genau weiß ich das nicht mehr. Sowohl die Balance als auch meine Contenance haben sich soeben verabschiedet. Spätestens als der ernsthafte Typ mit der Zunge sehr sorgfältig meine Mundhöhle inspiziert, ist das mit der Moral auch gegessen. Wären wir zwanzig Jahre jünger, hätten sich mit Sicherheit unsere Zahnspangen verhakt. So aber brauche ich mir keine Gedanken um die neuen Inlays zu machen. Die sitzen bombenfest. Nein, ganz so schlecht küsst er nicht. Im Gegenteil. Eine gewisse Ernsthaftigkeit lässt sich nicht leugnen.

Ich bestelle neu. Reden macht durstig. Knutschen auch. Die Halbwertszeit meines Getränkes sinkt drastisch zu fortgeschrittener Stunde. Dabei habe ich noch nicht einmal getrunken. Vom Tisch gefallen ist es. Einfach so. Wie von Geisterhand. Könnte aber auch mein Absatz gewesen sein. Ein rechter Scheißdreck ist das mit den niedrigen Tischen in diesen neumodischen Läden. Die Tatsache, dass die Ledersohlen meiner sündhaft teuren neuen Schuhe jetzt Alkohol saugen, wird verdrängt. Man muss Prioritäten setzen. Der Austausch von Körperflüssigkeit hat eindeutig Priorität. Das stärkt das Immunsystem. Was ich zudem verdränge ist eine Ansage des ernsthaften Typen, er müsse am nächsten Tag früh aufstehen und deswegen jetzt heim. Er wiederholt sich dreimal. Jedesmal unterbricht er seinen Satz, um mich zu küssen. Red du nur, denke ich. Solange du deine Zunge unter meinem Tisch.... Als er meine Hand auf seinem Oberschenkel spürt, springt er wie von der Tarantel gestochen auf und geht. Jetzt übertreibt er aber. Ich bin ja selber überrascht, wie die da hingekommen ist. Aber wir sind auch keine Zwanzig mehr. Die Chose war sowas von klar. Sonnenklar sozusagen.

Wir hinterlassen einen recht desolaten Eindruck, die Designersitzgruppe und ich. Ich grinse debil vor mich hin. Was soll ich auch anderes tun. Das Münchner Original sitzt noch neben mir. Er hat ja versprochen, auf mich aufzupassen. Wahrscheinlicher ist allerdings, dass er seine große Chance jetzt gekommen sieht. Ich hingegen sehe da überhaupt nichts. Ganz unterschiedliche Blickwinkel. Sogar im Sitzen. Eine Weile scheint er zwischen Gentleman und Resteficken hin und hergerissen. Dann entlasse ich ihn aus seiner Verantwortung. Wir sind schließlich keine Zwanzig mehr. Ich bin schon groß. Naja, zumindest breit. Im wahrsten Sinne des Wortes. Darüber komme ich spätestens am nächsten Tag weg. Man hat ja Disziplin. Nicht aber über das Verhalten des ernsthaften Typen. Und heute ist schon Dienstag. Fast. Und ich wieder Zwanzig. Fast. So doof halt.

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Who cares (3)
Morgen vor fünf Jahren sollte ich nach NYC fliegen. Mein erster Gedanke bei den Bildern vom einstürzenden WTC: Mist, da oben bist Du nie gewesen! (Letzte Chance Ende August sprichwörtlich verschlafen). Der zweite: Da hab ich morgen also frei?

Abstumpfungsfolgen durch Informationsoverkill. Wer noch nie zu Bildern von Krieg und Zerstörung Chips gegessen hat, werfe den ersten Stein.

Nachtrag: natürlich haben mich die Geschehnisse betroffen gemacht. Aber sind wir mal ganz ehrlich, ist es nicht so, dass vieles, was wir an Bildinformation aufnehmen, weit weg scheint? Nach geraumer Zeit ist alles nur noch lauwarm, was vorher überkochte. Wer erinnert sich denn noch an den Tag als die Tsunamiwelle über einige Teile der Welt rollte? Und wer weiß noch, was er tat, als der Krieg im Kosovo ausbrach? Betroffenheit wird heutzutage in Hollywoodmanier zelebriert. Schön bunt müssen die Bilder sein und möglichst viele Tränen rühren, damit der Rubel rollt. Der Propagandawolf im Informationspelz. Keine Absolution nötig.

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