Montag, 5. Juni 2006
Die musikalische Reise - Teil 17
Seit gestern will sie nichts anderes, als stundenlang am Meer sitzen und die Eindrücke in sich aufzusaugen. Sita, die Zigeunerfrau hat ihr vergangene Nacht eine Tinktur gegeben, die sie in den Handflächen verrieb, bevor sie in einem kleinen Zelt neben dem Wohnwagen einschlief. Sie träumte von ihrem Professor. „Hab keine Angst“ sagte er „sie werden dich mögen“. Sie wusste nicht genau, wovon er sprach, sah ihn fragend an. „Es wird immer Menschen geben, die dich lieben.“ Vor ihr standen die Noten zum Präludium G-Dur BWV 884, das sie einst für die Aufnahmeprüfung zur Hochschule vorbereitete. Langsam begann sie zu begreifen, was er meinte. Ihr ganzes Leben rang sie um die Aufmerksamkeit und somit um die Liebe ihrer Eltern. Dieser Wunsch verselbständigte sich im Laufe der Jahre. Sie bildete sich ein, es wäre der Wunsch, Musik zu machen. Dabei vermengte ihr Kopf nur zwei voneinander unabhängige Bedürfnisse. Sein gütiger Blick ließ sie in Tränen ausbrechen. Als sie aufwacht, ist das Kissen nass vom Weinen. Es ist noch früh am Morgen. Von draußen dringt das Singen der Vögel herein, die den Morgen ankündigen. Sie schlüpft aus dem Nachtlager, zieht sich Pullover und Hose über und öffnet das Zelt, um ihr Gesicht der kühlen Morgenluft auszusetzen. Im Fenster des Wagens brennt nur die kleine Kerze, die Sita jeden Abend anzündet, um die Geister der Ahnen mild zu stimmen. Sie glaubt nicht an Geister und Rituale, die Tinktur scheint allerdings geholfen zu haben. Ihre Hände jucken nicht mehr so stark wie in den letzten Tagen. Sie schlüpft in die Schuhe vor dem Zelt und macht sich über einen Kiesweg auf in Richtung Küste. Das Rauschen der sich brechenden Wellen begrüßt sie wie eine alte Bekannte. „Meer, was hast Du mir heute zu erzählen?“ denkt sie beim Anblick der Wassermassen. Dann lässt sie sich auf einen flachen Stein nieder, der von manchen Wellen sanft liebkost wird. Es sind nur die kräftigen, die es bis hierher schaffen, die alles daran setzen zu scheinen, ihn, den stetigen Gefährten erreichen zu wollen. So muss wahre Freundschaft sein. Von Zeit zu Zeit berührt man sich gegenseitig. Das Wasser benetzt die Steinoberfläche, der Felsen gibt ein kleines Stück seiner Struktur den abfließenden Wellen mit. Sie bereichern sich gegenseitig und doch steht jeder für sich alleine. Dabei will das Meer den Stein nicht fließend und der Felsen das Nass nicht fest werden sehen. Wenn der Fels nicht wäre, gäbe es kein Hindernis, an dem sich die Wasseroberfläche kräuseln könnte. Der Fels wechselt an den nassen Stellen seine Farbe. Beide profitieren voneinander, ohne sich gegenseitig zu sehr anzupassen.

Laika springt plötzlich um sie herum und reißt sie aus ihrem Gedankenfluss. Das kleine Mädchen möchte ihre Aufmerksamkeit, greift ihre Hand und zerrt an ihr. Sie weiß nicht, wie lange sie dort gesessen hat. Die Sonne ist bereits aufgegangen und wärmt den Boden unter den nackten Füßen. Zeit für ein Frühstück bei den anderen. Als sie sich auf den Rückweg macht, läuft Leika immer ein kleines Stück vor ihr her, sich ungeduldig nach einigen Schritten zu ihr wendend, als wolle sie sie zum schnelleren Gehen auffordern. Vor dem Wohnwagen sieht sie einige Klappstühle und einen mit Plastiktellern und –tassen gedeckten Campingtisch. Der Duft von Kaffee dringt durch die salzige Luft bis in ihre Nase. Genau das braucht sie jetzt, eine heiße Tasse starken Kaffee. Sita steht in der offenen Türe. Sie winkt, als die beiden näher kommen. Während Laika im Wohnwagen verschwindet, tritt Sita neben den Stuhl, in den sie sich setzt, um den Kaffee vorsichtig aus der Kanne zu gießen. Der Satz darf dabei nicht in die Tasse. Wie sie geschlafen habe, fragt Sita und ob die Hände schon besser sind. Sie lächelt die Frau an. Beide verstehen sich wortlos. Man wolle sich heute Abend mit einigen anderen aus der Sippe treffen und morgen Richtung Spanien aufbrechen, ob sie mitkommen wolle. Ihr Ziel sei Galizien. Seit Jahrzehnten pilgere man von hier nach Santiago de Compostela. Natürlich wolle man die Strecke nicht auf einmal zurücklegen, sondern zwischendurch campieren. Natürlich will sie mit. Unwillkürlich fällt ihr die Agentur ein, ihre Konzerte und die anderen Kleinigkeiten. Sie wird heute telefonieren müssen. Was danach kommt, ist das, wonach sie sich so lange sehnte. Ein kleines Stück Freiheit, Zeit ohne Verpflichtung. Abgesehen von den Ferienreisen mit den Eltern war sie nie längere Zeit ohne Instrument unterwegs. Sie fragt, ob sie sich in irgendeiner Weise erkenntlich zeigen könne. Es gäbe genügend Aufgaben sagt Sita. Momentan fällt ihr nicht mehr ein, als sich um den Abwasch oder die Wäsche zu kümmern. Darum hat sie sich bisher immer erfolgreich gedrückt. Das sei nichts für ihre Hände, meinte ihre Mutter. Zu oft hatte sie Gläser zerbrochen und sich beinahe an den Scherben geschnitten. Da halfen auch keine Gummihandschuhe. Doch Sitas Blick fällt auf Laika, die inzwischen vor dem Wagen aus kleinen Kieseln Figuren auf dem Boden formt. Mit Kindern hatte sie bisher nicht allzu viel zu tun. Nicht ohne das Medium Musik. Sie konnte Kindern Klavierspielen beibringen, wusste darüber hinaus aber nichts mit ihnen anzufangen. Diese Familie ist so hilfsbereit zu ihr, dafür muss sie wohl ein größeres Opfer bringen. Sie kauert zu Laika auf den Boden und legt einen weiteren Stein in die bereits geformte Linie. Laika sieht kurz auf, dann fährt sie fort, die Steinchen in ihrer kindlichen Logik anzuordnen.

Am Nachmittag begleitet sie Aram und zwei weitere Männer ins Dorf. Auf dem Platz vor der Kirche wolle man für die Touristen singen. Das bringt immer ein wenig Geld und lässt sie nicht aus der Übung kommen. Sie läuft neben ihnen durch die verwinkelten Gassen zwischen alten Häusern. Anwohner sehen verstohlen aus den Fenstern, ziehen sich jedoch zurück, als sie zu ihnen hochschaut. Einige schließen gar die Fensterläden. Merkwürdig, wie die Leute reagieren, obwohl sie die Anwesenheit von Zigeunern gewöhnt sind. Einige Meter weiter sieht sie ein Postschild. Dort kann sie mit Sicherheit telefonieren. Sie betritt den kühlen abgedunkelten Raum. Ein Angestellter schaut sie abweisend an, als sie nach einem Telefon fragt. Man verweist sie auf eine freie Zelle. Die Glastüre schließt automatisch hinter ihr. Davor stecken die Angestellten die Köpfe zusammen und beginnen zu tuscheln. Sie kramt in ihrer Tasche nach der Nummer der Agentur. Nach kurzem Läuten meldet sich eine Stimme. Sie nennt ihren Namen. Nein, sie wolle nicht durchgestellt werden, nur Bescheid geben, dass sie krank sei. Ob sie die Verpflichtungen der nächsten Wochen wahrnehmen könne, wisse sie noch nicht. Dann legt sie schnell auf, bevor sie von weiteren Fragen zu lügen genötigt wird. An der Kasse bezahlt sie das Gespräch mit ein paar Münzen und verlässt schnell diesen ungastlichen Ort. Auf dem Weg zum Kirchplatz spürt sie plötzlich Laika neben sich, die ihre Hand greift. Sie weiß nicht, ob das Mädchen von ihrer Mutter bereits vermisst wird, ob sie sie zurückbringen oder einfach weitergehen soll. Wahrscheinlich macht sie sich viel zu viele Gedanken. Sita wird wissen, dass das Kind bei ihr ist. Schließlich ist das ihre neue Aufgabe. Die kleine staubige Hand fügt sich in ihre raue Innenfläche wie der Stein, den sie morgens gedankenverloren aus dem Wasser fischte. Sie holt ihn aus der Hosentasche und gibt ihn dem Mädchen. Die kleine Hand schließt sich um ihn wie die große um die kleine Hand. Langsam beginnt sie zu begreifen. Es geht nicht darum, ob sie glaubt, etwas zu können. Es geht einzig darum, zu vertrauen, dem Mädchen, der Mutter, sich. Solange etwas in guter Absicht geschieht, existieren Fehler nicht. Es ist nicht wie auf einem Notenblatt, wo falsche Töne zerstören, keine Entscheidung zwischen schwarzen oder weißen Tasten. Es ist die Musik, die im Augenblick des Erklingens erst erschaffen wird. Sie drückt die kleine Hand ein wenig. Laika schaut aus dunklen Augen fragend zu ihr auf. Sie kann es nicht erklären. In diesem Moment spürt sie, wie sich die Wärme um ihr Herz legt und es umspült wie die Wellen den Stein.

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It's not wise to upset a Wookiee
Meine Oma sagte immer, ich darf Kaugummis nicht schlucken, sonst würde der Magen verkleben. Sehr schnell fand ich heraus, dass das nicht stimmte. Die Kaugummis kamen nämlich als Ganzes hinten wieder raus. Nicht dass ich danach gesucht hätte, ich hab das einfach gesehen, weil meine Oma mir auch beibrachte, dass man nach dem Spülen in die Toilettenschüssel schaut, um sicherzugehen, dass auch alles verschwunden ist. Genauso verhält es sich übrigens mit Mais oder anderen Speisen. Im Biologieunterricht lernte ich zudem, dass Urin bei Diabetes nach „Mäusen“ rieche. Wie die kleinen Nager riechen, wusste ich nicht, war aber der festen Überzeugung, zuckerkrank zu sein, nachdem ich Spargel gegessen hatte. Übrigens riecht nicht jeder Urin typisch nach Verzehr von Spargel. Bei manchen Menschen bleibt das Wässerchen geruchsneutral. Das aber nur am Rande.

Ich schluckte auch weiterhin Kaugummis. Meistens brauchte ich durchschnittlich so zehn Minuten, um ein ganzes Päckchen Kaugummis zu essen. Meine Lieblingssorte war Hubba Bubba. Nach etwa zwei Minuten schmeckten die aber nicht mehr nach Erdbeere oder Zitrone, also schob ich einen zweiten nach. Beim dritten schmerzte bereits die Kiefermuskulatur. Ich schluckte den Bollen und steckte mir einen neuen hinterher und so fort. Blöd war nur, dass ich trotzdem nach kurzer Zeit schon wieder Hunger hatte. Wenn man Kaugummis mit Minzgeschmack kaut, hat alles, was man hinterher isst oder trinkt einen Minzegeschmack, selbst wenn der Kaugummi schon lange im Verdauungstrakt gelandet ist. Deswegen mag ich keine Kaugummis mit Minze. Die Zuckerfreien sind auch nicht besser, denn mit denen kann man keine großen Blasen machen. Während man andere bis zu einem Durchmesser des eigenen Kopfes aufblasen kann (liebe Kinder, bitte nicht nachmachen), bringt man mit zuckerfreien Sorten maximal eine Blase mit dem Durchmesser eines Maiskornes zustande und das auch nur mit viel Übung. Unklar ist mir bis heute auch, wie man Kaugummi mit geschlossenem Mund kauen kann. Früher dachte ich immer, Kaugummis kaue man hauptsächlich, um damit Schmatzgeräusche zu erzeugen. Später war ich der Meinung, man kaue Kaugummis, um unliebsame Speisereste aus den Zahnzwischenräumen zu entfernen. Der Siegeszug der Zahnseide über den Globus war erst am Anfang. Wenn sich solch ein Partikel in den Kaugummi einmal eingearbeitet hatte, musste man den unweigerlich schlucken, da das Speiseüberbleibsel eine ordentliche Blasenbildung verhinderte. Blasenbildung ist für eine gesunde Entwicklung in der Sozialisation sehr wichtig. Die primären (oder auch sekundären) Geschlechtsorgane sind noch ziemlich unterentwickelt, folglich vergleichen Schüler, wer die größeren Blasen machen kann. Nach dem Platzen zieht man dann die Reste vom Gesicht und hofft, dass die Haare verschont blieben. Wer einmal Kaugummi im langen Haar hatte, weiß was ich meine. Kürzlich sah ich ein Bild von Giulia Siegel (nein, die muss man nicht kennen), deren Gesicht vollständig von den Fetzen einer Kaugummiblase verklebt war. Schon blöd so was, zumal auch Kosmetika die Qualität des Kaugummis nicht unbedingt verbessern. Wahrscheinlich hat sie ihn hinterher schlucken müssen. Ob so ein Kaugummi die Peelingmaske ersetzen kann?

Gerne erinnere ich mich auch noch an die Kaugummiautomaten, die man mit fünf Pfennig Stücken fütterte und die farbige Kaugummikugeln ausspuckten. Die wurden später von Zigarettenautomaten an den Straßenecken abgelöst. Die Kugeln konnten mit dem Bügeleisen sehr schön in Kleidertaschen eingearbeitet werden. Die Farbe war noch von außen zu erkennen. Nicht unbedingt ein Quell der Freude für unkreative Mütter. Nach einigen Versuchen wurde kurzerhand das Taschengeld gestrichen. Inzwischen esse ich kaum noch Kaugummis. Beim Versuch mit einer Nicotinelle wurde ich den Geschmack einen ganzen Tag nicht mehr los. Wenn es wenigstens ein angenehmer Geschmack wäre, hätte ich dagegen auch nichts einzuwenden. Tatsächlich kratzt dieser Inhaltsstoff aber im Hals und bedeckt die Geschmacksknospen mit einem dauerhaften Schleier. Möglicherweise werden dadurch auch Synapsen blockiert. Nicotinellen als geschmackliche Beta-Blocker, das käme den Menschen zugute, die gezwungen sind, sich in Ländern mit gewöhnungsbedürftiger regionaler Küche für längere Zeit aufzuhalten. Man könnte beispielsweise die Dinger bei der Einreise nach Großbritannien gewinnbringend verkaufen. Oder man füttert damit Kinder, bei denen – wie bei mir – Brechreiz beim Verzehr von Grießbrei ausgelöst wird. Manche Eltern tauchen Schnuller ja auch in Bier, damit die Kleinen besser schlafen.

Übrigens habe ich mir vor nicht allzu langer Zeit ein Schweizer Worldadapter gekauft. Das ist so ein zylinderförmiges Ding, wo die einzelnen Steckkombinationen durch einen Schiebemechanismus gewählt und ausgefahren werden können. Ein hochmodernes Teil also. Das Epiliergerät passt auch ganz hervorragend in die Ausgangsbuchse, nicht aber das Netzteil meines Laptopakkus. Der Rückschluss, Schweizer fänden demnach wichtiger, haarbefreit zu sein, als mit dem Rest der Welt in Verbindung zu treten, liegt nahe. Na ja, die Schweizer haben schon immer ihr eigenes Ding gemacht. Gibt es in der Schweiz eigentlich Kaugummi mit Schokigeschmack? Oder behelfen die sich mit Tobleroneresten? Diese Honigrudimente in Toblerone lassen sich nämlich ganz hervorragend zu Kaubonbons verarbeiten. Man nehme eine Tafel Toblerone und lutsche jedes einzelne Dreieck so lange, bis die einzelnen Honigteilchen übrig bleiben. Dann sammle man die und kaut sie zu einem großen Batzen zusammen. Blasen kann man damit allerdings nicht machen, es scheint jedoch ebenfalls verdauungsresistent zu sein. Will man nun Kaugummis wie Pflanzen klassifizieren, ist diese Eigenschaft sicherlich von großer Bedeutung, ebenso wie die Eignung zur Blasenbildung. Kaugummis und –bonbons gehören demnach derselben Gattung an. Nur in der Unterkategorie unterscheiden sie sich ein wenig. Kaugummis wachsen nicht auf Bäumen, sie wachsen auch nicht unterirdisch und werden nicht von Sträuchern geerntet. Meine Schlussfolgerung, dass Kaugummis dann wohl gelegt oder geboren werden, wurde leider zu Schulzeiten widerlegt. Die Erkenntnis dämmerte bei mir in etwa zeitgleich mit der Entdeckung des Christkind- und Osterhasenschwindels. Die einzigen Pflanzen, die ich danach noch züchtete, waren Orangen- und Zitronenbäumchen. Wenn man nämlich Orangenkerne schluckte, waren die ebenfalls verdauungsresistent. Die Kerne, die ich anpflanzte, entfernte ich jedoch schon vor dem Verzehr. Meine Fensterbankplantagen trugen leider nie Früchte. Deshalb setzte ich sie irgendwann enttäuscht auf einer Autobahnraststätte aus. Orangenbäumchenklappen gab es nämlich nicht und auch keine Orangenbäumchenheime. Hoffentlich hat sich eine gutherzige Familie ihrer angenommen.

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Samstag, 3. Juni 2006
Die musikalische Reise - Teil 16
Der Zug fährt in die Nacht. Sie zieht die Beine an und rollt sich auf einem der Sitze zusammen. Ihre Schultertasche legt sie unter den Kopf. Dennoch schläft sie nicht, nickt nur ab und zu kurz ein. Immer wieder schreckt sie hoch, weil sie glaubt, jemand stünde vor ihr. In der kleinen Tasche sind all ihre persönlichen Habseligkeiten. Die große Tasche liegt oben auf der Gepäckablage. So vergehen Stunden im Echo des gleichmäßigen Schienengemurmels, das zwischendurch von Weichenrülpsern unterbrochen wird. Draußen beginnt allmählich der neue Tag. Das Morgenlicht gebiert Farben, die die Dunkelheit jeden Abend aufs Neue schluckt. Wiesen und Wälder ziehen im Eiltempo am Fenster vorbei, werden zum Band ohne Muster. Sie hat beschlossen, in Avignon umzusteigen, um anschließend direkt über Arles nach Stes-Marie-de-la-Mer zu fahren. Mit diesem Ort verbindet sie eine vage Kindheitserinnerung an eine Serie* über zwei Zigeunermädchen, die sich auf den Weg machen, ihre Eltern zu finden. In einer Folge findet Pimmi – die jüngere – einen alten Schlüssel, der zum Tor eines geheimnisvollen Gartens passt. Diesen Schlüssel sucht sie selbst heute noch. Als Kind hatte sie viel Phantasie, lebte in einer selbstkreierten Welt, die für Erwachsene unsichtbar war. Die Mutter unterbrach solche Episoden jäh, indem sie sie an ihre Pflichten erinnerte. Manchmal hasste sie ihre Mutter dafür. Dann wollte sie – wie alle Kinder – ausreißen, einfach wegrennen und ihre Freiheiten genießen. Sie konnte es kaum erwarten, endlich älter zu werden, damit ihr keiner mehr vorschreiben kann, was sie zu tun hat. Dass es anders kommen würde, wusste sie damals noch nicht. Sie träumte von dem verborgenen Zaubergarten und davon, unsichtbar zu sein. Die Zigeunermädchen finden sich für das Fest der schwarzen Madonna in Stes-Marie ein, um ihre Sippe zu treffen. Jedes Jahr treffen sich dort Zigeuner aus ganz Europa. Einst durften sie bleiben, weil sie behaupteten, sie befänden sich auf einer Pilgerfahrt nach Spanien und durften deswegen auch betteln. Ein Mythos besagt, dass an diesem Ort ein Schiff mit diversen Marias (u.a. Maria Magdalena), Lazarus, seiner Schwester Martha und der Dienerin Sarah gelandet sein soll. Zwei der heiligen Marien – Maria Jakoba, die Schwester der Jungfrau Maria und Maria Salome, die Mutter von Johannes –starben aufgrund körperlicher Schwäche. Fast zur selben Zeit folgte Sarah. Zuvor hatten sie einen Altar errichtet, der vermutlich Grundstein für die Kirche war, unter der man mehr als tausend Jahre später Gebeine fand. Die Zigeuner ernannten Sarah zu ihrer Schutzpatronin und tragen jedes Jahr Ende Mai ihre Statue durchs Dorf, um sie am Abend auf einem Floß ins Meer zu schicken.

Auf dem Bahnhof hat die Hektik des Tages noch nicht begonnen. Sie nimmt ihre Tasche und sucht die Busstation. Von hier sind es nur noch 45 Kilometer bis zum Ort am Meer. Ungewaschen und zerknautscht fühlt sie sich fast ein wenig wie eine Zigeunerin. Sie weiß, dass dieses Völkchen bei Einheimischen nicht sehr beliebt ist, weil man fürchtet, bestohlen zu werden. Dabei sind Zigeuner stolze Menschen, in deren Tradition Ehre von zentraler Bedeutung ist. Der Begriff „Zigeuner“ ist politisch nicht korrekt, das weiß sie. Dennoch denkt sie ihn, selbst wenn sie „Sinti und Roma“ sagt. Die Menschen haben eine jahrtausendwährende Reise von Indien bis Europa hinter sich, damals in Kutschen oder zu Fuß, heute in großen Karosserien mit Wohnwägen. Sie wurden beschimpft, vertrieben oder getötet, man gab ihnen die Schuld an Krankheiten und Unglück, verfolgte sie und versuchte sie auszurotten. Ein Schicksal, das sie mit einigen anderen Randgruppen teilen. Aus unerfindlichen Gründen fühlt sie sich von diesen Menschen magisch angezogen. Der Bus wird erst in einer Stunde abfahren. Sie hat kaum mehr Bargeld, nur eine Scheckkarte in der Tasche und eine Geheimzahl im Gedächtnis. Am Rand des Platzes sitzen zwei dunkelhäutige Männer auf Gitarren zupfend zwischen Gepäcksstücken. Eine Frau summt leise die Melodie einer alten Weise. Zwischen ihnen springt ein Kind von einem zum anderen. Sie geht auf die Gruppe zu und spricht die Frau auf französisch an. Nein, sie wisse nicht, wo sich ein Bankautomat befinde. Man warte auf einen Verwandten, der alle abhole. Wenn sie wolle, könne sie bis Stes-Maries mitfahren. Man reicht ihr eine Flasche Wasser. Dankbar nimmt sie die Flasche und einen großen Schluck daraus. Eine Weile plaudert sie und lauscht der Musik, bis plötzlich ein alter Mercedes vor ihnen hält. Das Auto erscheint ihr zu klein für fünf Personen, zumal die Gepäcksstücke einen nicht unerheblichen Raum einnehmen. Der Fahrer bindet sie kurzerhand auf den Dachträger, sie rutscht mit der Frau, deren Mann und Kind auf die Hinterbank und schließt vorsichtig die Türe. Auf der Fahrt durch die Camargue bestaunt sie die wilde Landschaft, die sich vor ihr eröffnet. Man wolle noch einen kleinen Abstecher zur Verwandtschaft in Albaron machen. Sie nickt kurz, obwohl ihr das nicht besonders angenehm ist. Schließlich will sie die Freundlichkeit der Fremden nicht überstrapazieren. Der Wagen biegt kurzerhand in eine kleine Gasse des besagten Ortes ein und hält vor einem kleinen Häuschen. Man begrüßt sie genauso herzlich wie die Familienmitglieder. Langsam wird ihr klar, dass der Begriff Familie nicht im herkömmlichen Sinne, sondern vielmehr als Ausdruck von Stammeszugehörigkeit gebraucht wird. Der gereichte Kaffee schmeckt bitter. Gleichzeitig weckt er ihren von der langen Bahnfahrt zermürbten Körper auf und lässt sie in der Gegenwart ankommen. Sie könne in Stes-Maries bei der Familie bleiben, müsse sich kein Zimmer nehmen, man habe genügend Platz für Gäste. Sie fühlt sich beinahe überwältigt von so viel Gastfreundschaft und nimmt das Angebot dankend an. Dann machen sich alle wieder auf den Weg. Im Wagen sitzen die beiden Frauen nebeneinander. Plötzlich greift die Fremde nach ihrer Hand, dreht die Handflächen nach oben und betrachtet den Ausschlag. Erst will sie die Hand instinktiv wegziehen, doch erinnert sie sich an überliefertes Wissen, das in diesen Kreisen immer noch Anwendung findet. Vielleicht kennt die Frau eine Salbe, die ihr gegen das Jucken helfen kann. Sie nickt kurz. Am Abend könne sie zu ihr kommen. Dann hätte sie die Kräutertinktur vorbereitet.

Der Wagen biegt in die Einfahrt eines Campingplatzes direkt am Meer ein. Sie kann bereits die salzige Luft durch das geöffnete Seitenfenster riechen. Jetzt möchte sie nur noch ihre Tasche abstellen und dann schnell zum Wasser laufen. Das Meer hat sie hierher gelockt. Sie will es an den nackten Füßen spüren, will mit den Zehen zwischen kleinen Kieseln graben und so lange in den Horizont starren, bis sie dessen Ende zu sehen glaubt. Zum ersten Mal seit langem hat sie das Gefühl, angekommen zu sein.

*Mond Mond Mond

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Freitag, 2. Juni 2006
Is anybody out there?
Bin am Sonntag in Düsseldorf. Gibt´s dort Blogger, die an diesem Tag Zeit für eine Tasse Kaffee/Tee/Bier und ein nettes Gespräch hätten? Andernfalls arbeite ich mich durch den Bücherberg, der seit Monaten wächst.


Einfach Mailbutton links drücken. Bitte aber nicht alle auf einmal...

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Die musikalische Reise - Teil 15
Am nächsten Morgen wacht sie früh auf. In der Küche klappert Geschirr. Stimmen sind gedämpft hörbar. Sie wartet, bis Ruhe eingekehrt ist, bevor sie aus dem Bett schlüpft und sich auf den Weg ins Badezimmer macht. Außer ihr ist niemand mehr da. Das heiße Wasser der Dusche läuft ihren nackten Körper hinab. Sie weiß nicht, wie lange sie so unter dem Strahl steht. Als sie sich abtrocknet, ist die Luft mit Wasserdampf verdichtet, der sich auf Kacheln und Spiegel niederschlägt. Eilig schlüpft sie in die bereitgelegte Kleidung, rubbelt ihr kurzes Haar trocken und begibt sich zurück in das Übernachtungszimmer, wo sie ihre Sachen packt. Dann nimmt sie die Schultertasche, steckt Geldbörse und einige Habseligkeiten hinein und macht sich auf den Weg nach draußen. Sie weiß nicht, was sie bis zur Beerdigung am Nachmittag anstellen soll. Im Schlossgarten dürfte um diese Tageszeit wenig los sein, ebenso auf der Königsstrasse – der Einkaufsmeile. Nachdem sie den Weg in die Stadtmitte zu Fuß zurücklegte, überquert sie die Königsstrasse in Richtung Rathausplatz. Die wenigen Fußgänger eilen zur U-Bahn oder in naheliegende Büros. Im Schwabenzentrum gibt es ein kleines Café namens Osho´s, ein Relikt aus der Zeit der Hippies und Bhagwanjünger. Tagsüber Kaffeehaus für Laufkundschaft, verwandelt es sich jeden Abend ab neun in eine Cocktailbar der gehobenen Klasse. Durch das große Fassadenfenster hat man einen guten Blick in den Innenraum, der lange in blau-orange gehalten war. Irgendwann kam einer auf die Idee, türkis für die Regalwände hinzuzufügen. Seitdem ähnelt die Bar eher einem Aquarium als einem Refugium für gestresste Manager und Tagesmütter. Früher war sie öfter hier. Einige Zeit hat sie dort während ihres Studiums gekellnert. Sie bediente nachts, um am Tag üben zu können. Geld hatte sie in dieser Zeit genug, es ging mehr um Spaß und den Umgang mit Menschen, der ihr durch die einsame Arbeit am Klavier fehlte. Und was für merkwürdige Gestalten sie dort traf. Gegen drei, wenn sich durchschnittliche Nachtschwärmer bereits auf dem Heimweg befanden – schließlich müsse man am nächsten Tag arbeiten – trudelten vereinzelt Taxifahrer ein, tranken einen schnellen Kaffee und machten den Zuhältern mit ihren Damen Platz, die im gegenüberliegenden Bohnenviertel ihre Wirkungsstätte hatten. Auch sie blieben nie lange, bestellten ein Getränk und bezahlten unter Zugabe eines stattlichen Trinkgeldes. So mancher Einsame suchte hier Zuflucht vor Verzweiflung und Dunkelheit. Man erzählte ihr Geschichten, sie hörte zu. Manches Mal stand sie mit der Kollegin in der kleinen Küche und kicherte gemeinsam über jene Erzählungen, während der Erzähler am Tresen sein Bierglas leerte. Oft trudelte um diese Uhrzeit auch die Belegschaft benachbarter Gaststätten ein. Man kannte sich untereinander. Viele suchen in der Gastronomie zunächst eine Nebenbeschäftigung, bis diese langsam die Hauptaufgabe verdrängt. So mancher Studienabbrecher bleibt für immer in der Gastronomie hängen. Sie empfand das Leben dieser Gestrandeten trauriger als die Anzugträger, die ihr mit leerem Gesichtsausdruck in öffentlichen Verkehrsmitteln gegenüber saßen. Das Ende der Schulzeit war gleichzeitig der Beginn eines neuen Lebens, oftmals innerhalb einer Universität. Im Bauch ungeduldig zitternd, das Herz überquellend vor Hoffnung, so gingen sie dem entgegen, woran ihre Eltern gescheitert waren. Sie wollten es besser machen, wollten anders sein. Dabei waren sie denen, die sie kritisierten, ähnlicher als sie es sich einzugestehen wagten.

Den Kaffee trinkt sie hastig. Danach bestellt sie ein Wasser. Sie wäre jetzt gerne weit weg, vielleicht am Meer, würde in die Wellen starren und Steine ins Wasser werfen. Stattdessen sitzt sie in diesem Moloch und wartet auf die Beisetzung ihres Mentors. Am liebsten würde sie sich davonstehlen. Wenn sie nicht hinginge, könnte sie so tun, als ob er noch am Leben wäre. Manchmal verstrichen einige Wochen, bis sie wieder mit ihm telefonierte, Monate bevor sie ihn traf. Das Ritual einer Beerdigung war der Abschluss des irdischen Lebens. Sie hat von Menschen gehört, die ihre Verwandten nicht beisetzen konnten, weil die Körper aus unterschiedlichen Gründen verschollen waren. Diese Menschen warteten angeblich ihr Leben lang auf die Rückkehr des Vermissten. Manchmal wurde dann das Begräbnis eines leeren Sarges arrangiert, nur um endlich Ruhe zu finden. Der Gedanke lässt sie schaudern. Dennoch möchte sie nicht auf diese Beerdigung. In ihrem Kopf formt sich diese Idee allmählich zu einem Entschluss. Eilig zahlt sie, verlässt das Café und läuft Richtung Hauptbahnhof. Für Ortsunkundige ist der Mercedesstern auf dem Turm des Bahnhofes Orientierungshilfe und Wegweiser zugleich. Am Schalter kauft sie ein Ticket für den Zug Richtung Frankreich. Sie will nach Avignon, dann vielleicht weiter nach St. Maries-de-la-mer oder Montpellier, später Perpignan oder gar über die spanische Grenze. Barcelona ist nicht mehr weit. Sie erinnert sich an eine Freundin, die in Toulouse wohnt. Dort könnte sie ebenfalls Halt machen. Im Grunde möchte sie einfach untertauchen, verschwinden, ohne jemandem Rechenschaft über ihr Tun ablegen zu müssen. Mit diesen Händen ist sowieso nicht an Konzertieren zu denken. Die Fahrkarte in ihrer Tasche erlaubt ihr eine kleine Flucht vor der Wirklichkeit. Als der Zug einfährt, schaut sie sich noch einmal um. Es ist nicht mehr ihr Stuttgart, das sie einst kannte. Sie fühlt sich fremd, hier und in ihrem Körper.

Puh, Halbzeit. Jetzt erst mal wieder unterwegs.

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