Freitag, 2. Juni 2006
Die musikalische Reise - Teil 15
Am nächsten Morgen wacht sie früh auf. In der Küche klappert Geschirr. Stimmen sind gedämpft hörbar. Sie wartet, bis Ruhe eingekehrt ist, bevor sie aus dem Bett schlüpft und sich auf den Weg ins Badezimmer macht. Außer ihr ist niemand mehr da. Das heiße Wasser der Dusche läuft ihren nackten Körper hinab. Sie weiß nicht, wie lange sie so unter dem Strahl steht. Als sie sich abtrocknet, ist die Luft mit Wasserdampf verdichtet, der sich auf Kacheln und Spiegel niederschlägt. Eilig schlüpft sie in die bereitgelegte Kleidung, rubbelt ihr kurzes Haar trocken und begibt sich zurück in das Übernachtungszimmer, wo sie ihre Sachen packt. Dann nimmt sie die Schultertasche, steckt Geldbörse und einige Habseligkeiten hinein und macht sich auf den Weg nach draußen. Sie weiß nicht, was sie bis zur Beerdigung am Nachmittag anstellen soll. Im Schlossgarten dürfte um diese Tageszeit wenig los sein, ebenso auf der Königsstrasse – der Einkaufsmeile. Nachdem sie den Weg in die Stadtmitte zu Fuß zurücklegte, überquert sie die Königsstrasse in Richtung Rathausplatz. Die wenigen Fußgänger eilen zur U-Bahn oder in naheliegende Büros. Im Schwabenzentrum gibt es ein kleines Café namens Osho´s, ein Relikt aus der Zeit der Hippies und Bhagwanjünger. Tagsüber Kaffeehaus für Laufkundschaft, verwandelt es sich jeden Abend ab neun in eine Cocktailbar der gehobenen Klasse. Durch das große Fassadenfenster hat man einen guten Blick in den Innenraum, der lange in blau-orange gehalten war. Irgendwann kam einer auf die Idee, türkis für die Regalwände hinzuzufügen. Seitdem ähnelt die Bar eher einem Aquarium als einem Refugium für gestresste Manager und Tagesmütter. Früher war sie öfter hier. Einige Zeit hat sie dort während ihres Studiums gekellnert. Sie bediente nachts, um am Tag üben zu können. Geld hatte sie in dieser Zeit genug, es ging mehr um Spaß und den Umgang mit Menschen, der ihr durch die einsame Arbeit am Klavier fehlte. Und was für merkwürdige Gestalten sie dort traf. Gegen drei, wenn sich durchschnittliche Nachtschwärmer bereits auf dem Heimweg befanden – schließlich müsse man am nächsten Tag arbeiten – trudelten vereinzelt Taxifahrer ein, tranken einen schnellen Kaffee und machten den Zuhältern mit ihren Damen Platz, die im gegenüberliegenden Bohnenviertel ihre Wirkungsstätte hatten. Auch sie blieben nie lange, bestellten ein Getränk und bezahlten unter Zugabe eines stattlichen Trinkgeldes. So mancher Einsame suchte hier Zuflucht vor Verzweiflung und Dunkelheit. Man erzählte ihr Geschichten, sie hörte zu. Manches Mal stand sie mit der Kollegin in der kleinen Küche und kicherte gemeinsam über jene Erzählungen, während der Erzähler am Tresen sein Bierglas leerte. Oft trudelte um diese Uhrzeit auch die Belegschaft benachbarter Gaststätten ein. Man kannte sich untereinander. Viele suchen in der Gastronomie zunächst eine Nebenbeschäftigung, bis diese langsam die Hauptaufgabe verdrängt. So mancher Studienabbrecher bleibt für immer in der Gastronomie hängen. Sie empfand das Leben dieser Gestrandeten trauriger als die Anzugträger, die ihr mit leerem Gesichtsausdruck in öffentlichen Verkehrsmitteln gegenüber saßen. Das Ende der Schulzeit war gleichzeitig der Beginn eines neuen Lebens, oftmals innerhalb einer Universität. Im Bauch ungeduldig zitternd, das Herz überquellend vor Hoffnung, so gingen sie dem entgegen, woran ihre Eltern gescheitert waren. Sie wollten es besser machen, wollten anders sein. Dabei waren sie denen, die sie kritisierten, ähnlicher als sie es sich einzugestehen wagten.

Den Kaffee trinkt sie hastig. Danach bestellt sie ein Wasser. Sie wäre jetzt gerne weit weg, vielleicht am Meer, würde in die Wellen starren und Steine ins Wasser werfen. Stattdessen sitzt sie in diesem Moloch und wartet auf die Beisetzung ihres Mentors. Am liebsten würde sie sich davonstehlen. Wenn sie nicht hinginge, könnte sie so tun, als ob er noch am Leben wäre. Manchmal verstrichen einige Wochen, bis sie wieder mit ihm telefonierte, Monate bevor sie ihn traf. Das Ritual einer Beerdigung war der Abschluss des irdischen Lebens. Sie hat von Menschen gehört, die ihre Verwandten nicht beisetzen konnten, weil die Körper aus unterschiedlichen Gründen verschollen waren. Diese Menschen warteten angeblich ihr Leben lang auf die Rückkehr des Vermissten. Manchmal wurde dann das Begräbnis eines leeren Sarges arrangiert, nur um endlich Ruhe zu finden. Der Gedanke lässt sie schaudern. Dennoch möchte sie nicht auf diese Beerdigung. In ihrem Kopf formt sich diese Idee allmählich zu einem Entschluss. Eilig zahlt sie, verlässt das Café und läuft Richtung Hauptbahnhof. Für Ortsunkundige ist der Mercedesstern auf dem Turm des Bahnhofes Orientierungshilfe und Wegweiser zugleich. Am Schalter kauft sie ein Ticket für den Zug Richtung Frankreich. Sie will nach Avignon, dann vielleicht weiter nach St. Maries-de-la-mer oder Montpellier, später Perpignan oder gar über die spanische Grenze. Barcelona ist nicht mehr weit. Sie erinnert sich an eine Freundin, die in Toulouse wohnt. Dort könnte sie ebenfalls Halt machen. Im Grunde möchte sie einfach untertauchen, verschwinden, ohne jemandem Rechenschaft über ihr Tun ablegen zu müssen. Mit diesen Händen ist sowieso nicht an Konzertieren zu denken. Die Fahrkarte in ihrer Tasche erlaubt ihr eine kleine Flucht vor der Wirklichkeit. Als der Zug einfährt, schaut sie sich noch einmal um. Es ist nicht mehr ihr Stuttgart, das sie einst kannte. Sie fühlt sich fremd, hier und in ihrem Körper.

Puh, Halbzeit. Jetzt erst mal wieder unterwegs.

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Einen meiner Freunde haben wir auf See bestattet. Seine Berliner Mutter rief noch Jahre später im Reedereibüro an, wenn sie ihn gerade besonders vermißte.

Als Personalheini in London habe ich mit zwei seiner Kameraden einen Gilbertesen in Portugal begraben. Wir haben Fotos in die Südsee geschickt. Seine Leute haben dort eines dieser Fotos begraben.

Als mein Vater im Altersheim starb, mußte ich am nächsten Tag auf einem Dampfer einsteigen. Mein Sohn hat mich bei der Beerdigung vertreten.

Als dieser vor zwei Jahren starb, war ich zusammen mit seiner Frau und meiner Ex bei ihm und habe danach alleine bis zum anderen Morgen die Totenwache gehalten. Meine Schwiegertochter schlief vor Erschöpfung nach zwei Stunden auf dem Sofa neben dem Totenbett ein, das qualvolle Sterben hatte über eine Woche gedauert. Ich habe über beiden gewacht. Bei der Beerdigung war ich bereits wieder in Hamburg, das kann meine Ex besser. Mit meiner Schwiegertochter hatte ich das natürlich abgesprochen. Manchmal ist es wichtig, dabei zu sein, manchmal nicht so sehr.

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Neo-Bazi, vielen Dank für diesen Kommentar. Sie haben nicht mal frei bekommen, als Ihr Vater starb?

Ich glaube, Beerdigungen sind dann nicht mehr so wichtig, wenn man Totenwache gehalten hat. Leider ist dieses Ritual nahezu verschwunden in unserer Zeit.

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Ich hätte wohl freibekommen, dann wäre der Dampfer liegengeblieben, aber das hielt ich nicht für erfoderlich. Mein Sohn hat das sehr gut gemacht, ich wußte, daß er das kann.
Meinem Vater (83) war bekannt, daß ich wieder fort muß, vielleicht ist er sogar deshalb vorher noch friedlich eingeschlafen. Sein letzter Händedruck dauerte etwas länger als üblich und unsere Blicke sprachen von Verzeihen und Versöhnung.

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