Mittwoch, 7. Juni 2006
Die musikalische Reise - Teil 18
Die Gruppe bricht gegen Abend im Konvoi Richtung Perpignan auf. Zunächst nach Montpellier, dann immer an der Küste entlang. Man will Autobahngebühren sparen. Die Route ist zudem abwechslungsreicher. Sie sitzt am halb geöffneten Fenster und lässt den Wind durch ihr Haar greifen, die Augen zusammengekniffen. Durch den Augenspalt sieht sie Lichter vorbeiziehen, die durch die Wimpern wie kleine Sonnen aussehen. Jede Sonne erhellt mit ihren Strahlen ein begrenztes Stück Dunkelheit. Manche Sonnen sind Fixsterne, andere Trabanten. Sie kommen ihr entgegen, erst langsam, dann immer schneller, bis sie an ihr in Lichtgeschwindigkeit vorbeizurauschen scheinen. Der nächtliche Himmel ist mit Lichtpunkten übersät. Laikas Kopf liegt auf ihrem Schoß. Auch sie schaut in den Himmel. Das Mädchen deutet nach oben und fragt nach dem Namen eines Sterns. Bis auf wenige Ausnahmen weiß Sie die korrekten Namen nicht. Gemeinsam taufen Sie die Sterne. Isor, Laura, Phileos, Namen von Freunden, Hunden oder Märchenfiguren. Es dauert eine Weile, bis Laika dem Spiel überdrüssig wird. Die Truppe biegt nach links von der Straße ab auf einen Rastplatz. Hier wolle man zur Nacht bleiben. Am nächsten Morgen geht die Reise weiter ins Landesinnere. Ihre letzte Nacht am Meer möchte sie zelebrieren. Als die anderen um das Lagerfeuer sitzen, nimmt sie sich eine Decke und läuft Richtung Wasser. Es ist bereits dunkel. Schiffslichter werden in weiter Ferne wie von Geisterhand über die dunkle Oberfläche gezogen. Der Wind hat sich gelegt, das Meer ist erstaunlich ruhig. Nur vereinzelte Wellen, die den Strand hinaufspülen und sich gurgelnd zurückziehen, bezeugen den Atem des schlafenden Riesen. Ihre Augen folgen dem Wasser, das sich Wege zwischen Steinen sucht und beim Rückzug miniaturförmige Schneisen hinterlässt. Nach jeder Welle wandern verstreute Muschelgehäuse. Das Wasser oder kleine Einsiedlerkrebse geben ihnen Beine zur Fortbewegung. Sie saugt die salzige Luft tief in ihre Lungen. Als Kind hat sie einmal versucht, das Meer nach Hause zu holen. Sie füllte die Badewanne mit Wasser, schüttete alles Salz hinzu, das sie im Haus auftreiben konnte und begann mit einer Blumenschaufel Wellen zu erzeugen. Das Wasser bewegte sich jedoch nur im Kreis. Sie wollte eine richtige Brandung, wie sie es an der Steilküste Spaniens gesehen hatte, nicht so ein lasches Schwappen. Dazu brauchte Sie Felsen, die sie aus dem Garten holte. Der dritte Gang nach draußen - sie hatte gerade ein besonders großes Exemplar herbeigeschleppt – endete kurz vor der Türe zum Badezimmer. Ihre Mutter hatte das Wasser ausgelassen und schimpfte über ihre Torheit. Den Stein nahm sie mit in ihr Zimmer, wo er seinen Platz auf der Fensterbank bekam.

Es ist kühl geworden. Sie zieht die Decke über die Schultern. Morgen werden sie nach Prades fahren, den Ort, den der Cellist Pablo Casals durch das jährliche Musikfestival berühmt gemacht hat. Das erste, was sie von ihm hörte, waren die wiederentdeckten Aufnahmen von Bachs Solosuiten. Aus heutiger Sicht durch zahlreiche Rubati stark romantisiert, kann man die Faszination seines dominierenden Klanges erahnen. Wie bereits Artur Schnabel sagte: „Der falsche Fingersatz aber das richtige Gefühl“, genau diese Kunst beherrschte Casals wie kaum einer. Es existiert ein Probenmitschnitt des Streichquintetts von Schubert, in dem Casals eine ganze Viertel hinterher hängt. Und dennoch gilt diese Aufnahme zusammen mit der endgültigen in Fachkreisen als eine der exorbitantesten, die von besagtem Stück existieren. Der Ton dieses Instrumentes fasziniert sie. Als sie Mischa sah, war das erste, was ihre Aufmerksamkeit erregte, nicht seine große Statur oder die schwarzen welligen Haare, sondern der Kasten, den er bei sich trug. Bereits damals galt er als Frauenschwarm und Filou. Nachdem sie ihn in einem Konzert zum ersten Mal hörte, war sie fasziniert. Der Klang seines Cellos durchdrang ihr Mark, ließ sie frieren und schwitzen zugleich. Diesen Mann musste sie kennen lernen. Ähnliches erfuhr sie erst wieder bei einer Aufnahme des ersten Cellokonzertes von Schostakowitsch gespielt von der koreanischen Cellistin Han-Na Chang. Bis heute beneidet sie diese Unmittelbarkeit der Tonerzeugung. Sie kann zwar den Klavierhammer nuanciert auf die Saiten klopfen, jedoch nie diese klangliche Vielfalt von Streichern, Bläsern oder gar Sängern hervorbringen. Sie nimmt einen Stein, um ihn der dunklen Masse entgegenzuschleudern. Jeder Stein, den sie ins Meer wirft, ein nicht zu Ende gedachte Gedanke und jeder Stern am Himmel ein unerfüllter Wunsch. Die Natur scheint ihr inneres Spiegelbild in dieser klaren Nacht zu sein. Manch einer hätte Sterne herunterholen können. Nun muss es der alte Brunnen für ihn tun. Sie, die Zuschauende, weiß, was Nelly Sachs meinte.

Leise kehrt sie zurück zum Wagen, in dem die anderen bereits ihr Nachtlager bezogen haben. Sie schlüpft in das Zelt daneben, zieht sich aus und will unter die Decke schlüpfen. Beim Zurückschlagen entdeckt sie eine winzige aus Papier gefaltete Figur, die gemeinsam mit einem Keeblatt auf ihrem Kissen liegt. Wahrscheinlich ein kleines Präsent von Laika, die sich auf ihre Art für den Stein bedankte. Die Zuneigung des Kindes ist so unverschämt grenzenlos und so voller Vertrauen, dass es sie fast ein wenig erschrecken lässt.
Morgen wird die große Strecke entlang der Pyrenäen zurückgelegt. Sie ist gespannt auf neue Orte und Eindrücke. Es ist ein Abstecher vor Tarbes in die Berge geplant, sowie ein Besuch in Lourdes. Dann geht die Reise weiter über die spanische Grenze nach San Sébastien, Bilbao, Santander, Oviedo und schließlich La Coruña, die Hauptstadt Galiziens. Von dort sind es nur noch wenige Kilometer nach Santiago de Compostela. Einige Tage wird es aber noch dauern, bis das Ziel erreicht ist. Tage, die sie in angenehmer Gesellschaft genießt und die – wie sie hofft – nicht zu schnell vorübergehen werden. In der Ferne hört sie Hundegebell, aufgeschrecktes Vogelgezwitscher und eine Glocke. Die Klänge tragen sie sanft über die Klippe des Bewusstseins, bis sie vom Sog einer Traumwelle ergriffen und fortgezogen wird.

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Count the lashes
Gestern hat es angefangen zu jucken. Erst nur leicht, dann immer stärker. Wenn es an Hand oder Fuß gewesen wäre, kein Problem. Dann hätte ich einfach gekratzt, notfalls bis sich die Haut rot färbt. Am Auge kann man sich aber schlecht kratzen. Meine Vermutung, da lägen mal wieder Wimpern gegenseitig im Clinch, bestätigte sich nach einem Blick in den Spiegel. Die werden bei mir so lang, dass sie oft am Brillenglas anstoßen. Deswegen bevorzuge ich konvexe Gläser. Kurzerhand gerieben und gezupft, was das Zeug hält. Keine Chance. Irgendwann bin ich eingeschlafen. Der Juckteufel stand schon am Bett, als ich heute Morgen meine Lider öffnete. Also weitergerieben, weitergezupft. Und wie ich vorhin so in den Spiegel schaue, trifft mich fast der Schlag. Das Augenlid dick, am äußeren Augenrand keine Wimpern mehr. Ist dem Juckteufel aber schnurz. Der macht lustig weiter. Wenn das so weitergeht, gebe ich heute Abend die Ödipusnummer mit der Gabel. Verdammter Mist!

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