Mittwoch, 7. Juni 2006
Die musikalische Reise - Teil 19
Prades liegt bereits hinter ihnen. Eine bergige Landschaft zieht an ihnen vorbei. Sie sind früh aufgebrochen, um die zweite Teilstrecke bis kurz vor Tarbes hinter sich zu bringen. Kleine Ortschaften liegen links und rechts neben der Landstraße. Gelegentlich hält der Konvoi in seitlichen Parkbuchten, um Toiletten aufzusuchen. Die Hunde springen wild um die Wägen, schnuppern an Abfalleimern und achtlos Weggeworfenem. Wenn ein anderes Auto vor ihrer Ankunft dort stand, steigen Reisende alsbald ein, um den Ort schnell zu verlassen. Man will nichts mit ihnen zu tun haben, obwohl man sie nicht kennt. Die Wenigen, die bleiben, beäugen die Truppe misstrauisch. Türen werden verriegelt, Fenster hochgekurbelt und Taschen in Sicherheit gebracht. Sie schaut zu Sita, ihre Blicke treffen sich. Sita zuckt kurz mit den Schultern und lächelt. So ist das eben. Man ist deswegen nicht nachtragend, nur ein wenig bedauernd. Sie bewundert diesen Gleichmut. Wenn sie ständig von Fremden gemieden würde, verlöre sie sicherlich bald den Mut, sich zwischen Fremden zu bewegen. Langsam dämmert die Erkenntnis in ihr, weshalb viele Randgruppen solch einer Behandlung mit Aggression begegnen. Jeder hat das Recht, sich frei zu bewegen, ohne dafür strafende Blicke zu ernten. Kein Mensch ist wie der andere und doch sind sie alle gleich in ihren Sorgen, Wünschen und Sehnsüchten.

Laika ist inzwischen fast ununterbrochen an ihrer Seite. Sie hat kaum eine Minute für sich alleine. Das Kind greift ihre Hand, zerrt an ihr, um ihr etwas zu zeigen. Sie weiß nicht, wie lange ihre Geduld noch anhält, ist sie doch das Alleinsein gewöhnt. Andererseits beginnt sie, die Welt aus kindlichen Augen zu sehen, wenn sie mit Laika zusammen ist. Hier eine Blume, dort ein Schmetterling, Fragen, die sie sich zu beantworten bemüht, selbst wenn sie die korrekte Antwort nicht kennt. So unmittelbar möchte sie in ihrem Leben noch einmal sein, so grenzenlos und doch die Erfahrung ihrer Jahre nicht missen. Kindliche Naivität gegen Erfahrungen – und seien sie noch so schmerzhaft – eintauschen zu wollen, zeugt von Dummheit. Mutig kann nur der sein, der die Angst kennt. Wenn Parsifal der gefeierte reine Tor alleine durch seine Anwesenheit keine Erlösung für die angeschlagene Tafelrunde bringen kann, dann nur deswegen, weil er nicht weiß, worum es geht. Kundrys Kuss wird ihn aus der Torheit wecken, doch gleichzeitig für die Zwecke der Gralsritter unbrauchbar machen. Das Dilemma ist erst zu lösen, wenn Torheit über den Weg des Leides und der Erfahrung mit neuen Erkenntnissen verschmilzt. Erlöst ist nur der, der beide Pole in Einklang bringt. Dann mag auch das ewige Streben nach dem, was nicht ist, aufhören. Sie wünscht sich ein anderes Leben, eines ohne Musik, dafür mit Familie. Jetzt, wo sie leihweise eine Familie hat, will sie nichts anderes als alleine sein. Die Zeit ohne Instrument erscheint ihr inzwischen unendlich lange. Nicht dass sie das Üben vermisste, sie vermisst nur die Klänge unter ihren Händen. Ach ja, ihre Hände, die jeden Tag etwas mehr heilen, genau wie ihre Seele. Seit ihrer überstürzten Abreise von Stuttgart hat sie nur selten an den Professor gedacht. Jetzt liegt er unter der Erde. Diese Tatsache kann sie nicht leugnen, so gerne sie es würde. Von Sita hat sie gehört, dass es möglich sein soll, mit den Geistern der Toten in Kontakt zu treten. Sie mag diesen Humbug nicht glauben, ihre Neugier ist in diesem einen Fall jedoch stärker. Ein letztes Mal würde sie gerne von ihm hören, ihm sagen dürfen, wie viel er ihr bedeutete. Vielleicht würde Sita am nächsten Nachtlager etwas für sie tun können.

Kurz nach St. Gaudens biegen sie in die Berge ab. Die Straßen schlängeln sich zwischen kargen Felsen hindurch, führen hoch und runter, fließen wie Wasser zwischen Hindernissen. Fast könnte man meinen, hier wurde jeder Baum umgangen. Ihr wird flau im Magen von den vielen Kurven. Sie bittet Aram anzuhalten. Dieser biegt widerwillig in eine seitliche Aussparung ein, die mehr zum Ausweichen als Parken gedacht ist. Man würde den Anschluss zu den anderen verpassen, wenn sie noch länger hier in die Ferne starrend stehen würde. Sie weiß nicht, was sie tun soll. Die Landschaft sieht aus wie Klingsors Zaubergarten entsprungen. Eine Weile starrt sie noch so vor sich hin. Da spürt sie, wie Sita ihre Hand nimmt. Sie drückt ihr einen flachen schwarzen Stein in die Innenfläche und umschließt ihn mit den Fingern. Der Stein fühlt sich bis auf ein Loch in der Mitte ganz glatt an. So etwas hat sie noch nie gesehen. Vermutlich wurde er ausgehöhlt, um ihn als Anhänger zu tragen. Einen Hühnerherren (Seigneur de poule) – zumindest ist es das, was sie versteht, als sie Sita nach dem Namen des Steines fragt - hält sie in der Hand. Während der Weiterfahrt konzentrieren sich ihre Finger auf die Struktur des Steines und lassen sie die Kurven vergessen. Der Gott der Hühner hat seine Schuldigkeit getan. Sita erklärt ihr, dass der Schutz des Gottes Weles ihr gewiss sei, so lange sie den Stein nur sichtbar bei sich trüge. Auch gegen den bösen Blick der anderen Leute könnte er sie schützen. Die Erlösung von aufkommender Übelkeit sei nur ein Nebeneffekt gewesen. Daran mag sie nun wirklich nicht glauben. Sie erinnert sich daran, wie ihr die Großmutter auf längeren Fahrten eine Kastanie oder ähnliches in die Hand gab, damit sie sich ablenken konnte. Unabhängig von einem bestimmten Glauben scheint das Wissen der Alten zu funktionieren.

Die Straße wird kurviger. Sie haben nach einigen Kilometern zu den anderen aufgeschlossen und hängen sich an die Rücklichter des letzten Wagens. In einer besonders starken Biegung beginnt der Wagen gefährlich zu schwanken, schert zur Seite aus und droht zu kippen. Aram bremst scharf ab. Hoffentlich kommt jetzt kein Gegenverkehr. Die Insassen des Wagens sind angespannt. Nach einigen Schlenkern hat sich das Gefährt vor ihnen wieder beruhigt. Fast könnte man meinen, die Wägen seien eingespannte eigenwillige Pferde. Man muss sie mit ruhiger Hand führen, nie zu stark abbremsen und unvorsichtige Bewegungen vermeiden. Sita sitzt kerzengerade. Mit weit aufgerissenen Augen verfolgte sie das Geschehen vor ihnen. Der Wagen ihres Vaters stürzte einst über eine Straßenabgrenzung. Er wollte einer streunenden Katze ausweichen. Als die Männer ihn aus dem Fahrzeug befreien konnten, war er schwer verletzt und starb kurz darauf im nahegelegenen Krankenhaus. Der Leichnam wurde bald freigegeben und man hielt Totenwache. In dieser Nacht seien merkwürdige Dinge geschehen, so berichtet Sita. Sie möchte mehr erfahren, doch Sitas Blick lässt sie verstummen. Zum Glück haben sie Loudenvielle bereits erreicht. Von dort führt ein steiler Weg nach Germ, der mit Wohnwägen nicht zu bewältigen ist. Die Gruppe stellt ihre Wägen auf freiem Feld ab. Einige packen Rucksäcke und Zelte ein, um nach Germ weiterzufahren. Der Rest der Gruppe bleibt am Ort. Was genau die Zigeuner hier suchen, weiß sie nicht. Vermutlich hat Germ irgendeine mystische Bedeutung in ihrer Geschichte. Wenn nicht, sollen hier zumindest nette Verwandte wohnen.

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