Mittwoch, 29. Juni 2022
I will survive
Kaum ist die letzte Katastrophe abgeklungen, folgt die nächste auf dem Fuße. Ich meine, so ein Kofferverlust ist nicht wirklich katastrophal, wenn man mal bedenkt, dass ich mich in sommerlichen 24° mit Meeresbrise befinde. Ganz anders verhält es sich mit Frau Herzbruch. Die hat die Katastrophen ja quasi für sich gebucht - wir erinnern uns an den unfreiwilligen Einliegerpool mit Einlage nach Starkregen im Keller oder den Cluburlaub auf Kos, den sie als traumatisierendes Beispiel zu jeder Gelegenheit als Vergleich zitiert. Mit Trauma hatte ich heute ebenfalls zu kämpfen, dazu aber später.

Erst mal soll es darum gehen, dass ich immer noch weiß, wie ich das System für mich arbeiten lassen kann (work the syxtem), weil ich halt auch im Job Teil desselbigen bin. Und wenn Frau Herzbruch Cranberrysaft für ihre Blasenentzündung braucht, dann organisiere ich Cranberrysaft beim EInkaufsleiter des Clubs kurz vor halb zwölf abends. Zunächst sah das aber gar nicht gut aus, denn die kleine Yasemine-Isabellina schüttelte heftig ihren zu hoch gesteckten blonden Pferdeschwanz hin und her als ich danach fragte. Ihre Aufgabe - so OTon - sei es auch nicht, für uns einkaufen zui gehen, wobei ich mit solchen Statements sehr vorsichtig wäre, hätte ich Tomatensaft als Cranberry auszugeben versucht. Frau Herzbruch wollte beschwichtigen, da sei ich ja quasi berufsbedingt vorbelastet und würde den Unterschied durch überdurchschnittlich häufige Berührungspunkte sofort erkennen und Yasemine-Isabellina mit fehlender Erfahrung und Ferienjob als Kinderbetreuerin im Club sei da in Customer Relationship nicht so dolle geübt. Ich wiederum war der Meinung, da müsse Jasemine-Isabellina eben auf die harte Tour lernen, ließ mir Namen und Durchwahl der Clubchefin geben, vereinbarte einen Gesprächstermin an der Rezeption, mit dem zufälligen, dortigen Treffens mit dem Einkaufschef, der sein Handy zückte, den Küchenchef mit Beschaffung beauftragte - vorausgesetzt sowas sei überhaupt auf der Insel zu bekommen - und dem Ergebnis von persönlich in's Zimmer gelieferten zwei Litern Cranberrysaft für Frau Herzbruch. Kurzum, wir konnten schlimmere Folgen der Blasenentzündung abwenden.

Nun weiß die mir geneigte Leserschaft, dass ich einst als Tauchlehrerin in heimischen Gewässern aktiv war. Als Frau Herzbruch mit Nachwuchs beschloss, den Atlantik von unten zu erkunden, war ich von dieser Möglichkeit für mich nicht besonders angetan. Was ich hier nie erwähnte, war der Grund, weshalb ich damals sehr abrupt nicht nur die Karriere als Tauchlehrerin beendete, sondern vor allem selbst nicht mehr tauchen wollte: ich hatte einen Unfall. Von diesem Unfall war ich traumatisiert. Bearbeitet habe ich das Trauma nie wirklich, war nur mal danach mit viel Überwindung unter Wasser, doch das Vertrauen blieb aus. Ich wechselte das Hobby und verkaufte meine Ausrüstung bis auf ein paar Einzelstücke, die seitdem im Keller darben. Gestern beobachtete ich die Verantwortliche, wie sie mit den völlig unerfahrenen Frischlingen eine erste Lektion im Pool absolvierte und fand, dass sich Frau Herzbruch mit Nachwuchs dieser Obhut nur unter einem aufmerksamen zusätzlichen Augenpaar - nämlich meinem - ausliefern sollte. So kam es, dass ich mich heute Morgen ohne Frau Herzbruch - da betthütend - dafür aber mit freudig aufgeregtem Nachwuchs nach einer nur dreistündig schlafend verbrachten Nacht auf der Tauchbasis einfand. Was dann passierte, möchte ich aus Gründen nicht en détail hier beschreiben, es war allerdings sehr unangenehm. Kurz gesagt stieg ich völlig retraumatisiert aus dem Wasser, legte meine Ausrüstung ordnungsgemäß ab, wechselte in trockene Kleidung und konzentrierte mich die folgenden dreissig Minuten sehr angestrengt darauf, meine Atmung von Hyperventilation auf normal und damit zeitgleich meinen erhöhten Puls zu regulieren - Tüte war keine zur Hand, ich kann aber ganz gut den Kopf zwischen meine Knie stecken. Im Anschluss weinte ich die nächsten 15 Minuten unkontrolliert, während alle anderen aus dem Wasser kamen, ihre Ausrüstung ablegten und einzeln fragten, ob mit mir alles okay sei. Diese Frage kann ich auch heute Abend noch nicht mit völliger Sicherheit positiv beantworten, ich habe aber vorsofglich schon ein paar Gläser Wein intus und werde mir gleich den dritten Cocktail bestellen. Denn im Club herrscht ausgelasse Stimmung und Ona braucht ab morgen Anschluss an Gleichaltrige. Da sollte ich als seine zweite lesbische Mutter - ja, dieses Spiel haben wir uns ausgedacht und es macht ihm Spaß, das vorzugeben - nicht durch irrationales Verhalten bei den beobachtenden Erziehungsberechtigten Zweifel am Kontakt aufkommen lassen. Das bin ich ihm schuldig.

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Dienstag, 11. Januar 2022
Going Home


In memoriam Stefan Öhlschläger

Man traf sie stets zusammen auf der Straße, in der Tram oder im Supermarkt an, häufig lautstark miteinander schimpfend. Passanten - meist Stadtunkundige - drehten sich mit ungläubigem Blick oder amüsiertem Lächeln nach ihnen um. Denn wenn die Öhlschläger Zwillinge eines nicht waren, dann unauffällig. Selbst im tiefen Winter sah man sie draussen in knalligen Hotpants und unter der Winterjacke bauchfrei bekleidet laufen. Nur das Schuhwerk wurde den Temperaturen angepasst. Und wer sie übersah, der hörte sie eben.

Was nicht in's Bild passt, wird belächelt, doch wer weiß schon, welche Geschichte hinter den beiden Erscheinungen steckte? Geschichten hatten die Beiden bestimmt zu erzählen. Von ihrer Zeit als Modelle - mir bekannt ist beispielsweise ein Buch über Haare von Herlinde Kölbl, in denen sie auftauchten - oder ganz allgemein von Erlebnissen im Zusammentreffen mit dem konservativen Münchner Volk. Bisweilen muss sich sogar der Durchschnittsmensch über konservative Verhaltensweisen und Ansichten in München wundern. Für Aufmerksamkeit benahmen sie sich eben ein wenig anders als andere, doch geschadet haben sie damit niemandem.

Kennengelernt habe ich die Beiden beim Tanzunterricht in einer bekannten Münchner Tanzschule. Einer von ihnen - ich vermute, es war Stefan - nahm Ballettunterricht, der andere - das muss dann Christian gewesen sein - wartete vor dem Saal und beobachtete seinen Bruder durch die Scheibe. Ich vermutete immer eine gewisse Genderfluidität bei einem der Zwillinge, wenn nicht gar bei beiden. Genaues wusste ich aber nie. Irgendwann sind sie aus der Schule geflogen, weil sie der Aufforderung nach "züchtiger Kleidung" nicht nachgekommen waren. Besorgte Eltern hatten sich bei der Schulleitung beschwert, nachdem Stefan gerne durchsichtige Netzhemdchen im Unterricht trug. In meinen Augen war das übertrieben, denn sie hätten keiner Seele etwas zuleide getan.

Dann sah ich sie längere Zeit nicht mehr, erfuhr aber über die Presse, dass sie aus ihrer Wohnung ausziehen mussten. Ihr weiteres Schicksal verfolgte ich nicht mehr, bis ich gestern die Todesnachricht las. Für den Überlebenden wird nun eine sehr harte Zeit anbrechen, denn ich bin mir sicher, mit seinem Bruder ist auch ein Teil seiner eigenen Identität verstorben. Ich wünsche ihm die Kraft und den Mut, einen neuen Weg einzuschlagen.

Liebe Lesende, sollten Sie ein besonders auffälliges Individuum im öffentlichen Bereich antreffen, dann bitte verurteilen Sie diesen Menschen nicht gleich aufgrund seines Aussehens oder seines Benehmens. Niemand kann wissen, was sich dahinter verbirgt. Letztlich erleben wir alle Schmerz oder Freude und suchen das Glück auf die uns ganz eigene Weise - etwas das uns alle eint.

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Sonntag, 2. Mai 2021
Nothing more than Feelings
Da habe ich doch glatt mal wieder was geschrieben aber (noch) nicht veröffentlicht und zack sind schon wieder zwei Wochen rum und nichts ist mehr aktuell oder originär. Passiert mir in letzter Zeit öfters, dass ich so eine Idee habe und dann hatte die jemand anders auch aber ungefähr eine Millisekunde vor mir. Zumindest weiß ich dann, dass ich nichts mehr drüber schreiben brauch, weil das schon besser erledigt wurde als ich es jemals hinbekommen hätte. Beispielsweise ging mir das letztens so mit dem NYT Artikel über dieses Gefühl des Dahindümpelns (languishing).

Ich hab' mir nämlich lange darüber Gedanken gemacht, wieso ich mich so fühle. So ausgelutscht. Dabei bezweifle ich, dass sich bei mir die Umstände mit Abebben der Pandemie ändern, denn die waren schon vorher durch die körperlichen Einschränkungen und werden auch noch lange danach sein. Aber dann kommt mir wieder in den Sinn, wie ich mich in schwierigen Situationen immer neu orientiert habe und angepasst. Was ich jüngst darüber lernte, ist, dass man das Resilienz nennt und die auch nach hinten losgehen kann, wenn man sich, wie ich, ganz krampfhaft dran festhält. Ich frage mich, wieso in keinem sogenannten Selbsthilfebuch steht, dass man bitteschön ohne schlechtes Gewissen auch mal ganz unten ankommen darf. Das ist weder verwerflich noch unvernünftig. Alles andere schon, denn alles andere bedeutet Kampf gegen irgendwas, das - weil unvermeidlich - am Ende doch gewinnt.

Im Grunde geht die (Gefühls-)Kiste nämlich von ganz alleine rauf und runter. Aber auch damit erzähle ich Ihnen nichts Neues. Wie ich schon schrieb, andere sind halt schneller und besser. Immerhin weiß ich dann, dass ich nicht völlig verquert bin.

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Mittwoch, 27. November 2019
Carousel
Meine Tage sind - dem Gangbild gleich - eher unrund. Wegen der ständigen Schmerzen bin ich leicht gereizt, was sich gelegentlich in Patzigkeit meinen Mitmenschen gegenüber äussert. Viel zu lange bin ich schon so bewegungsunfähig und an das Haus gebunden. Ich suche mir Aufgaben, wie beispielsweise Heizkörperstreichen oder Blattentstauben, was mich allerdings nicht zufriedener macht. Manchmal muss ich mich ein wenig einbremsen, weil ich gerne mal Aufgaben übernehme, die nicht in meinen Zuständigkeitsbereich fallen. Für andere mitdenken ist per se nicht schlecht; es bedeutet auch Rücksicht auf andere, wo andere nur an sich denken.

Wohin die sogenannte Individualität, die eigentlich nur maskierte Bequemlichkeit - man könnte es auch Faulheit nennen - des einzelnen Mitglieds einer sozialen Gemeinschaft führt, sehen wir heute überall im großen Stil. Ich glaube nicht, dass ich das Beispiel Klimakrise wirklich erwähnen muss. Mich erschreckt, wie sehr Nutznießer der Gesellschaft gleichzeitig deren Zerstörung durch ihre Egozentrik vorantreiben. Dabei wäre es so einfach, man braucht nur den Blick ein wenig nach rechts und links wenden. Es geht um Wahrnehmung, des Umfeldes, der Mitmenschen, des eigenen inneren Sumpflandes.

Ich drehe mich hier im Kreis, denn die Menschheit werde ich nicht ändern, geschweige denn die Welt retten. Aber ein bisschen netter sein könnte ich gelegentlich auch. Und ein bisschen Verständnis für die aufbringen, die das nicht können, weil sie in ihrer Entwicklung irgendwo steckengeblieben sind. Schließlich stand ich selbst vor langer Zeit am Anfang des Weges. Nur nicht aufgeben, nicht resignieren und zurückfallen in meinem Bestreben. Mehr kann ich nicht tun. Wenn ich mal wieder arg ungeduldig innerlich über die schlimmen Mitmenschen schimpfe, drehe ich so lange am Gedankenkarussell bis ich auf den wahren Grund für den Ärger stoße. Das ist mühsam, hilft mir aber. Soviel sei verraten: ich finde meistens ein weinendes inneres Kind, das sich ungerecht behandelt, zurückgesetzt oder ungeliebt fühlt. Kinder lieben übrigens Karussellfahren, weil es so schön schwindelig macht. Überhaupt sollten alle viel öfter Karussell fahren.

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Freitag, 22. November 2019
Teenage Years


Seit einiger Zeit beschäftigen mich meine Teenagerjahre zwischen 12 und 17, vor allem im Hinblick auf die Beziehung zu meiner Mutter So bin ich über den obigen Tweet nicht nur gestolpert, es hat mich buchstäblich langgelegt. Da es bei mir nicht anders war, es von mir aber anders wahrgenommen wurde verfolgen mit heute noch Schuldgefühle. Das macht mich traurig und wütend zugleich; nicht in Bezug auf andere, eher auf verpasste Gelegenheiten und unbewusste, falsche Schlussfolgerungen. Aber erst mal der Reihe nach.

Aufgewachsen bin ich wegen schwieriger familiärer Umstände bei der Oma. Als sozusagen Einzelkind ist das ziemlich schön, wenn man bedenkt, dass Omas so gut wie alles für die Enkelkinder tun, jedoch wenig von sogenannten Erziehungsmethoden halten. Die Mutter versuchte das während langer Krankheit und nach dem Tod der Oma nachzuholen. Natürlich war ich ein verzogener Fratz, hatte aber auch meine positiven Seiten. Zum Beispiel war ich sehr gut in der Schule, obwohl ich regelmäßig meine Hausaufgaben vergaß, erledigte kleine Aufgaben im Haushalt nur minimal zeitverzögert, kam nie zu spät und morgens auch von alleine aus dem Bett. Ich aß alles was mir vorgekocht wurde, konnte gut mit Geld haushalten und war auch in anderen Dingen stets verantwortungsbewusst. Na schön, das Auto fuhr ich eine Woche nach Führerscheinaushändigung an einen Pfosten und in einer Nacht und Nebelaktion war ich bei abgeschlossener Zimmertüre aus dem Fenster geklettert, weswegen meine Mutter mit der Leiter von der Straße in die eigene Wohnung einsteigen musste. Da war ich aber schon 18. Die Lehrer brachte ich als Klassenclown manchmal auf die Palme und geübt habe ich oft erst am Tag vor der Klavierstunde. Mein Schrank war nie ordentlich und das Bücherregal verstaubt, das Bett nicht gemacht und der Fernseher lief länger als erlaubt. Abgesehen davon - vor allem im Vergleich zu Berichten von Teenagermüttern - glaube ich aber, ein unter erschwerten Umständen verhältnismäßig gut funktionierender Teenager gewesen zu sein.

Nach dem Tod der Großmutter - ich war gerade mal 13 Jahre alt - kam ich in die Obhut der Mutter, die damals Mitte Dreissig und voll berufstätig war. Dieses einschneidende Erlebnis ließ mich für einige Monate völlig verstummen, was meine Mutter auf ihre Person bezog und sich deswegen von mir abgelehnt fühlte. Ich wiederum bezog die Verweigerung jeglicher sozialer Interaktion immer auf die Trauer, konnte halt einfach nicht mehr reden, mich nicht für Gespräche oder Freizeitgestaltung interessieren und die Schulnoten rasten rapide in den Keller. Heute weiß ich, dass Jugendliche kein traumatisches Erlebnis brauchen, um nicht mit den Eltern zu kommunizieren. Sie tun es nicht wegen des Alters. Damals führte diese Verweigerung zum Bruch zwischen meiner Mutter und mir. Mir wurde jahrelang vorgehalten, nicht zugänglich gewesen zu sein, was mich wiederum bei jedem späteren Annäherungsversuch verzweifelt und hilflos zurückließ. Wir sind quasi einmal falsch abgebogen und haben uns immer mehr verfahren, statt einen Blick auf den Plan zu werfen - Navis gab's ja damals keine.

Dieser Bruch zog sich so lange hin, bis ich schließlich den Rat befolgte, der am Ende des Tweets steht: *love them anyway Dazu musste ich aber meinen kindlichen Anspruch auf Geliebt-werden aufgeben, denn das hatte ich meinerseits der Mutter immer vorgeworfen. Das Vorenthalten jeglicher Zuwendung - körperlich wie emotional - in mir verständlicher Art führten wiederum bei mir zu falschen Schlussfolgerungen. Dass ich ein liebensunwürdiger Mensch sei und ich deshalb von meiner Mutter abgelehnt würde, lernte ich mit der Erkenntnis aufzulösen, dass meine Mutter eben auch nur wegen eigener, unbewusster Mechanismen so reagierte. Dabei übersah jahrelang ich die Dinge, die sie mir aus Liebe und Fürsorge gegeben hat. Sie hat meine Interessen in Tanz und Musik, so gut es finanziell eben ging, unterstützt, hat sich durchaus Gedanken und Sorgen um mich gemacht und war letztlich auch immer ganz pragmatisch da, wenn es mal schwierig wurde.

Heute ist sie viel weicher geworden, heute können die verpassten Gespräche und ersehnten Zuneigungsbekundungen zwischen meiner Mutter und mir geschehen. Darüber bin ich sehr froh. Doch manches Mal fühle ich hilflos die Wut über die Fehlinterpretation meines Verhaltens in mir aufsteigen. Ein normaler Teenager zu sein, hätte mir als Aussage schon so sehr geholfen. Stattdessen förderte die Therapeutin frühere Traumata gestalttherapeutisch zutage, während meine Mutter - von mir eingeladen - ratlos daneben saß und ihr eigenes mühevoll hinunterschluckte. Stattdessen bezeichnete die mutterseitige Verwandtschaft meine Unzugänglichkeit als Undankbarkeit, während sie mich zu ihren Zwecken emotional erpresste. Mein Verhalten war jahrelang der willkommene Anlass, mich als Sündenbock für unerfüllte Erwartungen zu institutionalisieren; die Rolle schien mir als "Tochter meines Vaters" buchstäblich auf den Leib geschneidert. Von der Scham darüber will ich gar nicht anfangen.

Zum Glück weiß ich heute, dass die Wut und die Traurigkeit sein dürfen. Ich muss sie empfinden und aushalten - ohne Scham oder Schuldgefühl. Nur so werde ich langsam aber beständig wieder ganz. In der Rückschau bin ich sogar ein bisschen stolz darauf, was ich bereits hinter mir gelassen habe. Nur manchmal, ganz selten, da legt es mich wie jetzt eben flach.

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Samstag, 21. September 2019
Hurt Feelings
Hatago Iwa - married rocks - Oku-Noto Peninsula, Japan

Zwei Felsen in der Brandung verbunden mit einer Hängebrücke, eine kleine, rote Hütte auf dem größeren der beiden. Das Foto selbst unbearbeitet, schlecht belichtet, doch ein schönes Symbolbild für menschliche Verbindung. Ich hatte in den letzten zwei Wochen nicht nur schöne Erlebnisse, sondern auch eines, das mich die Reise nach drei Tagen fast hätte abbrechen lassen. Diese Radtour war von langer Hand geplant, das Ziel - Japan - war das Wunschziel meiner kleinen Schwester. Sie war immer schon etwas schwieriger, etwas anspruchsvoller und etwas unnahbarer als die anderen. Ich habe ihr Verhalten immer verteidigt, habe mich daran erinnert, was tiefe Verletzung und Trauma in einer Seele anrichten können und war verständnis- und liebevoll zu ihr. Ich war immer für sie da, vor allem in den schwierigen Zeiten, in den Nächten, in denen man um 5 Uhr Beistand braucht oder an Tagen, an denen man sich komplett alleine und unverstanden fühlt. Ich habe mich um ihre seelische Gesundheit gesorgt - manchmal auch um ihr Leben - und mich mit den anderen beraten, was man für sie tun könne. Ich habe ihr viele Kleidungsstücke vererbt, Jeans aus USA, eine Lederjacke aus Holland, ein paar alte Lederkoffer aus Familienbesitz, weil sie daran Freude hatte. Ich habe ihr Bücher geschenkt, weil sie die liebt und war auch in anderen Dingen stets großzügig. Die Reise sollte uns einander näher bringen. Das Ziel hatte sie sich ausgesucht, die finanzielle Seite habe ich für's Erste übernommen.

Tatsächlich funktionierte das Miteinander genau einen Tag. Dann begann sie sich mir gegenüber zu verschließen. Ich fragte erst mich und dann sie, was ich möglicherweise falsch gemacht hätte. Sie blieb mir eine Antwort schuldig. Am zweiten Tag lernten wir die Gruppe Mitreisender kennen. Sie gab sich keineswegs introvertiert, war gesellig und unterhaltsam im Umgang mit den anderen. Mit mir hat sie ab diesem Zeitpunkt selbst Blickkontakt gemieden. Gesprochen wurde nur das Nötigste. Kann ich Dein Deo benutzen? Ich brauche Bargeld. Kann ich als erstes in's Bad? Wann treffen wir uns morgen? Ich versuchte small talk, bemühte mich um Umgänglichkeit, prallte jedoch ab. Sie ging früher oder später frühstücken, saß dann meist am anderen Ende des Tisches und verweigerte jegliches Miteinander. Die nötige Aufmerksamkeit suchte sie bei denen, die selbst durch ihr Verhalten viel Aufmerksamkeit auf sich lenkten.

Am Abend des dritten Tages zwang ich sie zu einer Aussprache, drückte meine Verletztheit aufgrund ihres Verhaltens aus und gab ihr drei Lösungsmöglichkeiten. Erstens, ich würde abreisen, sie bliebe und kümmere sich dann selbst um ein Rückflugticket, denn mit einem Standby Ticket kann sie nur gemeinsam mit mir fliegen. Zweitens, sie reise gemeinsam mit mir ab und drittens, wir würden uns aussprechen und zusammenraufen, damit der weitere Trip für uns beide erträglich wäre. Sie hatte weder Kreditkarte noch das Geld, um ein Ticket zu kaufen - das hätte ich jedoch für sie übernommen - und wollte auch nicht abbrechen. Was blieb, war die letzte Möglichkeit. Das darauffolgende Gespräch war jedoch nicht sonderlich zufriedenstellend. Sie verhedderte sich in Rechtfertigungen und Ausflüchten, konnte mir keine konkreten Fehler meinerseits nennen und hatte keinerlei Erklärung für ihr offensichtlich ablehnendes Verhalten mir gegenüber. Ich beließ es dabei, beobachtete aber in den folgenden Tagen keine großartige Annäherung oder Veränderung in ihrem Verhalten. Die Hotelbuchung am Ende hatte ich inzwischen storniert, den Rückflug vorverlegt. Für sie entstanden dadurch keine weiteren Kosten.

Am letzten Tag suchte ich wieder das Gespräch, da ich so nicht auseinandergehen wollte. Ich wartete auf einen günstigen Moment und bat sie, mir über ihre Gefühle in den vergangenen Tagen zu berichten. Sie winkte ab und wurde aggressiv als ich meinte, ich würde gerne eine Sache dazu sagen. Was ich sagte, war ein ganz simples ich habe dich lieb. Dann ging ich bis zur Fahrt zum Flughafen meine eigenen Wege. Mir wurde - wie bereits ein paar Monate zuvor mit einem mir nahestehenden Menschen - klar, dass ich eine Person wegen eines Verhaltens nicht aufhöre zu lieben, dass ich mich aber selbst mehr liebe und deshalb Grenzen setzen muss. Wer mich nicht wertschätzt, nicht mit mir zusammen sein will, wer mich nicht respektiert und mich stattdessen geringschätzig behandelt - ganz gleich aus welchen Gründen - den kann ich zwar nicht ändern aber ich kann mich aus der Situation entfernen. Auch Familie bin ich nicht auf Gedeih und Verderb ausgesetzt. Ich bin ein erwachsener Mensch, ich kann wählen.

Die Verbindung im obigen Foto ist jetzt zerschnitten, jeder steht für sich alleine. Mir macht das zu schaffen, weil ich es gerne nachvollziehen würde, was da in und mit ihr geschehen ist. Ich mag nicht einfach akzeptieren, dass etwas so ist, ich möchte es verstehen können. Verstehen hat mir immer geholfen. Die Zwillingsschwester meinte, selbst sie bemerke, dass räumliche Nähe die Verbindung der Schwestern schwieriger mache und auch sie beide nie wirklich miteinander reden könnten. Sowohl sie selbst als auch Freunde hätten in der Vergangenheit vergleichbare Erfahrungen mit meiner Schwester machen müssen. Bei der Mutter verhält sie sich wie in einem Hotel, nimmt Kost und Logie sowie Zuwendung mit, ohne je etwas dafür zurückzugeben. Es erinnert mich an pubertäres Verhalten, an Selbstverständlichkeiten, die keine sein sollten, wie man aber erst im Laufe der Jahre begreift. Es wundert mich nicht mehr, dass sie so viele Schwierigkeiten an diversen Arbeitsstellen hatte, auch nicht, dass ihr das Aufrechterhalten von Freundschaften schwer fällt. Ich frage mich nur, ob meine Abkehr nicht das Gegenteil dessen bewirkt, was für sie heilsam sein könnte. Verantwortlich bin ich aber dafür nicht, denn sie ist kein Kind mehr. Im Gegenteil, sie ist eine erwachsene Frau, die auf die 40 zugeht.

Meine Fragen werden unbeantwortet bleiben, mein Verhalten jedoch konsequent. Ich merke, wie viel Kraft es mich kostet, immer wieder derartigen Situationen ausgesetzt zu sein. Eine Frage, die mich schon lange begleitet, ist: was ist in mir, das es anderen erlaubt, mich respektlos und herabwürdigend anstatt liebevoll und wertschätzend zu behandeln? Die kleine rote Hütte auf dem größeren der beiden Felsen behütet eine Antwort - keine Erklärung aber eine Ahnung aus längst vergessenen Tagen. Sie beschützt das Herz, das dort oben in die Unendlichkeit hinaus sehnt.

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Donnerstag, 6. Juni 2019
Let's Get Physical
Sie erinnern sich vielleicht noch an diesen Song? Tiefe Achziger auf dem Höhepunkt der Aerobicbewegung. Wenn ich im Fitnessstudio (wow 3s) bin, sieht das momentan bei mir eher nach Reha als nach Krafttraining aus. Und auch der Vorturner hat mehr an als nur einen, ja wie nennt man das denn gleich, was Superman da über den blauen Leggings trägt? Dafür gibt es doch sicher einen trendigeren Namen als Slip.

Werde ich zur Zeit gefragt, wie es mir geht, frage ich physisch oder emotional? gegen. Da fällt die Antwort nämlich meist unterschiedlich aus. Ich behaupte, das läge am Alter. Stimmt aber bei mir nicht. Also nicht das Alter, sondern die unterschiedlichen Varianten. Heute geht es mir nämlich zum ersten Mal seit langer Zeit auf beiden Ebenen schlecht, und während mein Motto Durchhalten, nicht aufgeben lautet, möchte ich mich jetzt bitte gleich verkriechen und jammern. Morgen dann halte ich wieder durch. Morgen früh, gleich als allererstes.

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Montag, 9. April 2012
Lunatic
Hier passiert nur noch wenig, weil ich anderweitig sehr beschäftigt bin. So verbringe ich derzeit beispielsweise meinen gesamten Jahresurlaub in der Psychiatrie. Dieser Satz beschreibt die Realität zwar nur ansatzweise, sorgt aber immer wieder für Lacher gemischt mit ungläubigen Blicken. Keine Sorge, ich bin nicht Patient, ich besitze einen Schlüssel. In der Psychiatrie existiert nämlich eine Zweiklassengesellschaft. Das sind die mit und die ohne Schlüssel. Anteilsmäßig gehören beiden Gruppen etwa ähnlich viele Personen an. Der Schlüssel verschafft dem Halter Zutritt zu allen Räumen, während den Schlüssellosen nur zu den Räumen Zutritt gewährt wird, die der Schlüsselhalter öffnet. Somit begrenzt sich deren Bewegungsradius auf kilometerweite Gänge und einige wenige Zimmer. Während man nach Kollegen schon mal eine halbe Stunde sucht - denn die halten sich nur selten in den Räumen auf, die auf dem Schild an der Türe ihren Namen tragen - sind Patienten sehr schnell aufgespürt. Das hat auch seine Vorteile, denn meistens sind die Patienten nicht dort, wo sie laut Plan sein sollen, sondern woanders, von wo man sie dann abholt und dorthin bringt, wo sie laut Plan vor zehn Minuten sein sollten. Das ist aber eine andere Geschichte.

Eigentlich will ich mich nämlich weder über die Institution noch seine Nutznießer lustig machen. Im Grunde kann ich überhaupt nicht viel darüber erzählen, ohne meine Schweigepflicht zu verletzen. Nun ist es aber so, dass mich letzthin ein bestimmter Umstand so sehr beschäftigte, dass ich ihn doch hier beschreiben möchte. Die Sache ist nämlich die, dass ich in besagter Institution eine Gruppe leite. Um bestimmte Sachverhalte zu verdeutlichen, ziehe ich gerne spontan gewählte Beispiele heran. Sie müssen wissen, dass ich meist sehr spontan bin, was Wortwahl und auch Beispiel betrifft. So spontan, dass mir selbst oft kaum Zeit bleibt, über das gewählte Beispiel genauer nachzudenken. Deshalb passiert es gelegentlich, dass meine Beispiele hinken oder so abstrakt sind, dass sie von keinem mehr nachvollzogen werden können.

Und dann geschah letztens folgendes:

Frau KS: Bitte seien Sie sich bewußt, dass dieses Verhalten sehr viel Übung erfordert. Wenn Sie eine Kampfkunst erlernen, werden Sie sich nicht sofort in einen Kampf stürzen, sondern erst einmal einen Schlag üben oder einen Tritt.

Patient1: ja, das ist sowieso gefährlich, wenn man auf der Straße in eine Rauferei gerät, da sollte man einen großen Bogen drum machen.

Patient2:... und zudem ist Schlagen auch keine Lösung.

Patient3: ... da stand ja letzthin wieder was in der Zeitung.

Patient4: ...ja, das ist wirklich schlimm, dass da soviel passiert.

Frau KS: Nun, wichtig ist, dass man klein beginnt. Wenn Sie Klavier spielen lernen, werden Sie auch nicht sofort in einer Konzerthalle auftreten.

Patient3: Meine Tochter spielt Klavier, das klingt ganz schön, aber üben will sie nicht.

Patient5: ich sag's ja immer, die Jugend hat keine Disziplin.

Patient1: Also ich mag Musik. In der Musiktherapie kann man immer so toll Krach machen.

Frau KS [leicht verzweifelt]: Ich meine ja nur, dass Sie sicher nicht gleich ein Vier Gänge Menü kochen werden, wenn Sie Kochen lernen wollen.

Patient2: Was gibt's eigentlich zu Mittag?

Patient4: Keine Ahnung, hoffentlich ist es nicht so schlecht wie gestern.

Und jetzt urteilen Sie bitte, ob die Gruppenteilnehmer meine Beispiele nicht verstehen wollen oder ob sie es nicht können.

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Montag, 5. September 2011
Sätze, die man sofort bloggen muss (58)
Liebeskummer und Kinderkriegen sind sich ziemlich ähnlich. Wenn die Endorphine einsetzen, hast Du den Schmerz vergessen.


von le love

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Samstag, 23. Juli 2011
Sätze, die man sofort bloggen muss (57)
wenn das nicht bald besser wird, werde ich noch zum liedtexter.

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