Freitag, 30. Juni 2006
Ein offener Brief
Liebe Nachbarin,

im Grunde hab ich wirklich nicht viel an Dir auszusetzen. Du bist ja auch den ganzen Tag nicht da, weil Du arbeiten musst und deswegen kriege ich kaum etwas von Dir mit. Am Wochenende bist Du meistens bei Deinem Typen, wofür ich Dir auch unheimlich dankbar bin. In Zeiten sexueller Abstinenz würde es mir nämlich unheimlich schwer fallen, ungewollt zum Auditivspanner zu werden. Ich meine, nicht dass ich mit dem Ohr an der Wand kleben würde. Es ist nur einfach ziemlich schwierig, lautmalerisch umschriebenen Ausdruck an Lebensfreude unterlegt mit rhythmischem Quietschen bewusst zu ignorieren.

Jetzt wo alle Dübel ihren vorbestimmten Platz in unserer gemeinsamen Wand gefunden haben und selbst die neue Einbauküche nicht mehr expandiert, ist es schon viel leiser geworden. Ich fand es auch nicht schlimm, als Du mit einer Horde Wilder morgens um 3.00 das gesamte Stockwerk mit Nirvana beschallt hast. Du hättest Dich echt nicht dafür entschuldigen müssen. Euer Gesang war exorbitant. Wahrgenommen habe ich ihn allerdings erst, als der wunderbare Teilzeitliebhaber und ich endlich auf dem Rücken zu liegen kamen. Im Grunde war ich sogar froh um diese Form des Akustikfilters, sonst hätte nämlich ich mich entschuldigen müssen.

Auch dass Du nachts schreiend aus dem Taxi gefallen bist, als Deine männliche Begleitung die hintere Türe öffnete, hat mich nicht im Geringsten gestört. Ehrlich, ich hätte auch nicht aus dem Küchenfenster gestarrt, wenn das, was sich, mitten auf der Straße liegend, als ungelenker Blasversuch enttarnte, nicht so sehr nach Wiederbelebung ausgesehen hätte. Das konnte ich natürlich nur aus dem Fenster gelehnt erkennen, denn der Typ stand ja direkt über Dir, während Du es Dir auf dem Asphalt bequem gemacht hattest. Und wäre ich nicht wirklich in Sorge gewesen, hätte ich auch nicht gewartet bis ihr endlich vor der Haustüre fertig seid. Ich ahnte bereits, dass keiner von euch Beiden mit dem Schlüssel das Schloss treffen würde. Ja, das war ich, die den Türöffner drückte. Das Echo eures Sturzes in den Hausflur konnte man bis in den dritten Stock hören. So bin ich eben, stets hilfsbereit. Als ihr endlich die lange Irrfahrt mit dem Aufzug hinter euch gebracht hattet – beim Drücken des Aufzugknopfes habe ich mich ganz bewusst zurückgehalten – wart ihr so erschöpft, dass ihr auch ziemlich bald eingeschlafen seid. Na ja, erst bist Du noch zweimal über diverse Einrichtungsgegenstände gestolpert, während der Typ zehn Minuten ohne Unterbrechung der Kanalisation körpereigenes Wasser zuführte. Aber das war alles nicht so schlimm, denn ich bin danach sofort eingeschlafen.

Nur heute, heute bin ich echt ausgerastet, als Du wie jeden Abend heimkamst. Nicht dass etwas anders als sonst gewesen wäre. Nein, ich bin nur heute etwas empfindlicher. Genau genommen fiel mir das gestern schon auf und vorgestern und alle Tage davor, aber heute ist das Maß endgültig voll. Das ist so ähnlich als ob man an der Autobahn wohnt oder an einer Bahnstrecke oder unter der Einflugschneise, nur umgekehrt. Während man sich an diesen Geräuschpegel langsam gewöhnt, bis man ihn nicht mehr wahrnimmt, ist das Geräusch Deiner Heimkehr etwas, das ich von Tag zu Tag deutlicher wahrnehme. Im Grunde ist es auch nur ein einziges Geräusch, nämlich das lautstarke Türenschlagen, das mich aus meiner Versunkenheit gewaltsam hochschrecken lässt. Liebe Nachbarin, ich habe keine Ahnung, wo Du herkommst und ob es dort so was wie Türen gibt oder ob ihr euch durch vorgehängte Pfannenkuchen fressen müsst, wie man in Bayern so schön sagt. Jedenfalls verrate ich Dir jetzt ein Geheimnis: jede Türe hat so ein Ding, an dem sie sich festhalten lässt. Falls es Dir irgend möglich ist, wäre ich sehr dankbar, wenn auch Du dieses Ritual in Deine Gewohnheiten einfließen lässt. Auf unserem Stock wohnen außer uns noch zwei Parteien - abgesehen von der alten Nachbarin, aus deren Wohnung schon seit Wochen kein Laut mehr dringt und ich mich beim Vorbeigehen an ihrer Türe meist beim Schnuppern ertappe. Außer Dir schaffen es alle, die Türen nahezu geräuschlos zu schließen. Vielleicht stellt das noch keinen Anreiz zur Verhaltensänderung dar, ganz bestimmt aber mein Vorhaben, Dir die Hausmeisterin auf den Hals zu schicken, sobald ich die Türe wieder ins Schloss fallen höre. Diese reizende Dame beherrscht nämlich die Kunst des stundenlangen Plauderns über Nichtigkeiten ganz hervorragend. Und dann wollen wir doch mal sehen, ob Du nicht in Zukunft nach der Arbeit lieber ganz leise in Deinen vier Wänden verschwindest.

Aber mal abgesehen davon bist Du eine super Nachbarin. Echt jetzt. Sollte ich jemals Salz ausleihen müssen, würde ich ohne zu zögern bei Dir klingeln, genauso wenn ich morgens um 4.00 meine Schlüssel nicht finde, ich aber sehr dringend pinkeln muss. Glaub mir, Du wärst auf jeden Fall meine erste Adresse, sollte ich mal Hilfe brauchen. Und ich find´s einfach riesig, dass Dir meine Musikauswahl so gut gefällt. Zumindest habe ich noch nichts Gegenteiliges von Dir gehört. Du erträgst meinen musikalischen Powerpush zur Frühtour am Wochenende ebenso gelassen wie meine Lieblingsmelodien abends live auf dem Saxophon, womit Dein guter Geschmack bewiesen wäre. Wir werden sicherlich noch ganz dicke Freunde.

Bis dahin beste Grüße,

Deine fürsorgliche Nachbarin

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Ha, das mit dem Türenschlagen ist tatsächlich eine (meist südliche) Kulturkreisprägung, wie ich durch diverse Bekanntschaften herausfinden durfte. Da ist nix zu machen. (OT: Ich habe übrigens nicht vergessen, worum du mich gebeten hast, ich komm bloß nicht dazu. Und ja, auch der Fußball hat Schuld, ich gestehe es.)

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Ist das nicht vielmehr selektive Wahrnehmung als Kulturkreiszugehörigkeit?

Dein eigenes Blog verwaist ja zunehmend. Da vermutete ich, du wärst jetzt unter die echten Künstler gegangen ;-)

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Künstler? Ich dachte, die malen zur Zeit nur Schwarz-Rot-Gold.

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Ich hatte mal Nachbar über mir, die habe immer in Zimmerlautstärke gehört, wenn sie durch die Wohnung gegangen sind. Ich habe keine Ahnung, wie sie das angestellt haben.

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Eindeutig Klabautermann.

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dieses türengerummse höre ich an guten tagen 20 mal, an schlechten 40 - immer, wenn kollegen durch mein durchgangsbüro poltern und gekonnt den türgriff ignorieren. da spürt man killertalente erwachen.

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Ich bin manchmal richtig dankbar dafür, dass ich mein Liebesleben in den letzten Jahren recht selten in meinen eigenen vier Wänden ausgelebt habe. Dieses Haus ist nämlich so hellhörig, dass ich von meinen Nachbarn alles höre, von den Türglocken über die Anrufbeantworter bis hin zu Husten und Schnarchen. Ich schätze, an enthemmten Liebesnächten können nicht nur die Nachbarn in meinem Haus, sondern auch noch die im Haus nebenan bis hinauf in den vierten Stock teilhaben.
Und dieses Türenknallen...puh, eine ganz üble Angewohnheit, die aber durchaus auch Angehörige meines eigenen Kulturkreises in Vollendung beherrschen, wie ich aus leidvoller Erfahrung weiß.

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