Montag, 5. Juni 2006
Die musikalische Reise - Teil 17
Seit gestern will sie nichts anderes, als stundenlang am Meer sitzen und die Eindrücke in sich aufzusaugen. Sita, die Zigeunerfrau hat ihr vergangene Nacht eine Tinktur gegeben, die sie in den Handflächen verrieb, bevor sie in einem kleinen Zelt neben dem Wohnwagen einschlief. Sie träumte von ihrem Professor. „Hab keine Angst“ sagte er „sie werden dich mögen“. Sie wusste nicht genau, wovon er sprach, sah ihn fragend an. „Es wird immer Menschen geben, die dich lieben.“ Vor ihr standen die Noten zum Präludium G-Dur BWV 884, das sie einst für die Aufnahmeprüfung zur Hochschule vorbereitete. Langsam begann sie zu begreifen, was er meinte. Ihr ganzes Leben rang sie um die Aufmerksamkeit und somit um die Liebe ihrer Eltern. Dieser Wunsch verselbständigte sich im Laufe der Jahre. Sie bildete sich ein, es wäre der Wunsch, Musik zu machen. Dabei vermengte ihr Kopf nur zwei voneinander unabhängige Bedürfnisse. Sein gütiger Blick ließ sie in Tränen ausbrechen. Als sie aufwacht, ist das Kissen nass vom Weinen. Es ist noch früh am Morgen. Von draußen dringt das Singen der Vögel herein, die den Morgen ankündigen. Sie schlüpft aus dem Nachtlager, zieht sich Pullover und Hose über und öffnet das Zelt, um ihr Gesicht der kühlen Morgenluft auszusetzen. Im Fenster des Wagens brennt nur die kleine Kerze, die Sita jeden Abend anzündet, um die Geister der Ahnen mild zu stimmen. Sie glaubt nicht an Geister und Rituale, die Tinktur scheint allerdings geholfen zu haben. Ihre Hände jucken nicht mehr so stark wie in den letzten Tagen. Sie schlüpft in die Schuhe vor dem Zelt und macht sich über einen Kiesweg auf in Richtung Küste. Das Rauschen der sich brechenden Wellen begrüßt sie wie eine alte Bekannte. „Meer, was hast Du mir heute zu erzählen?“ denkt sie beim Anblick der Wassermassen. Dann lässt sie sich auf einen flachen Stein nieder, der von manchen Wellen sanft liebkost wird. Es sind nur die kräftigen, die es bis hierher schaffen, die alles daran setzen zu scheinen, ihn, den stetigen Gefährten erreichen zu wollen. So muss wahre Freundschaft sein. Von Zeit zu Zeit berührt man sich gegenseitig. Das Wasser benetzt die Steinoberfläche, der Felsen gibt ein kleines Stück seiner Struktur den abfließenden Wellen mit. Sie bereichern sich gegenseitig und doch steht jeder für sich alleine. Dabei will das Meer den Stein nicht fließend und der Felsen das Nass nicht fest werden sehen. Wenn der Fels nicht wäre, gäbe es kein Hindernis, an dem sich die Wasseroberfläche kräuseln könnte. Der Fels wechselt an den nassen Stellen seine Farbe. Beide profitieren voneinander, ohne sich gegenseitig zu sehr anzupassen.

Laika springt plötzlich um sie herum und reißt sie aus ihrem Gedankenfluss. Das kleine Mädchen möchte ihre Aufmerksamkeit, greift ihre Hand und zerrt an ihr. Sie weiß nicht, wie lange sie dort gesessen hat. Die Sonne ist bereits aufgegangen und wärmt den Boden unter den nackten Füßen. Zeit für ein Frühstück bei den anderen. Als sie sich auf den Rückweg macht, läuft Leika immer ein kleines Stück vor ihr her, sich ungeduldig nach einigen Schritten zu ihr wendend, als wolle sie sie zum schnelleren Gehen auffordern. Vor dem Wohnwagen sieht sie einige Klappstühle und einen mit Plastiktellern und –tassen gedeckten Campingtisch. Der Duft von Kaffee dringt durch die salzige Luft bis in ihre Nase. Genau das braucht sie jetzt, eine heiße Tasse starken Kaffee. Sita steht in der offenen Türe. Sie winkt, als die beiden näher kommen. Während Laika im Wohnwagen verschwindet, tritt Sita neben den Stuhl, in den sie sich setzt, um den Kaffee vorsichtig aus der Kanne zu gießen. Der Satz darf dabei nicht in die Tasse. Wie sie geschlafen habe, fragt Sita und ob die Hände schon besser sind. Sie lächelt die Frau an. Beide verstehen sich wortlos. Man wolle sich heute Abend mit einigen anderen aus der Sippe treffen und morgen Richtung Spanien aufbrechen, ob sie mitkommen wolle. Ihr Ziel sei Galizien. Seit Jahrzehnten pilgere man von hier nach Santiago de Compostela. Natürlich wolle man die Strecke nicht auf einmal zurücklegen, sondern zwischendurch campieren. Natürlich will sie mit. Unwillkürlich fällt ihr die Agentur ein, ihre Konzerte und die anderen Kleinigkeiten. Sie wird heute telefonieren müssen. Was danach kommt, ist das, wonach sie sich so lange sehnte. Ein kleines Stück Freiheit, Zeit ohne Verpflichtung. Abgesehen von den Ferienreisen mit den Eltern war sie nie längere Zeit ohne Instrument unterwegs. Sie fragt, ob sie sich in irgendeiner Weise erkenntlich zeigen könne. Es gäbe genügend Aufgaben sagt Sita. Momentan fällt ihr nicht mehr ein, als sich um den Abwasch oder die Wäsche zu kümmern. Darum hat sie sich bisher immer erfolgreich gedrückt. Das sei nichts für ihre Hände, meinte ihre Mutter. Zu oft hatte sie Gläser zerbrochen und sich beinahe an den Scherben geschnitten. Da halfen auch keine Gummihandschuhe. Doch Sitas Blick fällt auf Laika, die inzwischen vor dem Wagen aus kleinen Kieseln Figuren auf dem Boden formt. Mit Kindern hatte sie bisher nicht allzu viel zu tun. Nicht ohne das Medium Musik. Sie konnte Kindern Klavierspielen beibringen, wusste darüber hinaus aber nichts mit ihnen anzufangen. Diese Familie ist so hilfsbereit zu ihr, dafür muss sie wohl ein größeres Opfer bringen. Sie kauert zu Laika auf den Boden und legt einen weiteren Stein in die bereits geformte Linie. Laika sieht kurz auf, dann fährt sie fort, die Steinchen in ihrer kindlichen Logik anzuordnen.

Am Nachmittag begleitet sie Aram und zwei weitere Männer ins Dorf. Auf dem Platz vor der Kirche wolle man für die Touristen singen. Das bringt immer ein wenig Geld und lässt sie nicht aus der Übung kommen. Sie läuft neben ihnen durch die verwinkelten Gassen zwischen alten Häusern. Anwohner sehen verstohlen aus den Fenstern, ziehen sich jedoch zurück, als sie zu ihnen hochschaut. Einige schließen gar die Fensterläden. Merkwürdig, wie die Leute reagieren, obwohl sie die Anwesenheit von Zigeunern gewöhnt sind. Einige Meter weiter sieht sie ein Postschild. Dort kann sie mit Sicherheit telefonieren. Sie betritt den kühlen abgedunkelten Raum. Ein Angestellter schaut sie abweisend an, als sie nach einem Telefon fragt. Man verweist sie auf eine freie Zelle. Die Glastüre schließt automatisch hinter ihr. Davor stecken die Angestellten die Köpfe zusammen und beginnen zu tuscheln. Sie kramt in ihrer Tasche nach der Nummer der Agentur. Nach kurzem Läuten meldet sich eine Stimme. Sie nennt ihren Namen. Nein, sie wolle nicht durchgestellt werden, nur Bescheid geben, dass sie krank sei. Ob sie die Verpflichtungen der nächsten Wochen wahrnehmen könne, wisse sie noch nicht. Dann legt sie schnell auf, bevor sie von weiteren Fragen zu lügen genötigt wird. An der Kasse bezahlt sie das Gespräch mit ein paar Münzen und verlässt schnell diesen ungastlichen Ort. Auf dem Weg zum Kirchplatz spürt sie plötzlich Laika neben sich, die ihre Hand greift. Sie weiß nicht, ob das Mädchen von ihrer Mutter bereits vermisst wird, ob sie sie zurückbringen oder einfach weitergehen soll. Wahrscheinlich macht sie sich viel zu viele Gedanken. Sita wird wissen, dass das Kind bei ihr ist. Schließlich ist das ihre neue Aufgabe. Die kleine staubige Hand fügt sich in ihre raue Innenfläche wie der Stein, den sie morgens gedankenverloren aus dem Wasser fischte. Sie holt ihn aus der Hosentasche und gibt ihn dem Mädchen. Die kleine Hand schließt sich um ihn wie die große um die kleine Hand. Langsam beginnt sie zu begreifen. Es geht nicht darum, ob sie glaubt, etwas zu können. Es geht einzig darum, zu vertrauen, dem Mädchen, der Mutter, sich. Solange etwas in guter Absicht geschieht, existieren Fehler nicht. Es ist nicht wie auf einem Notenblatt, wo falsche Töne zerstören, keine Entscheidung zwischen schwarzen oder weißen Tasten. Es ist die Musik, die im Augenblick des Erklingens erst erschaffen wird. Sie drückt die kleine Hand ein wenig. Laika schaut aus dunklen Augen fragend zu ihr auf. Sie kann es nicht erklären. In diesem Moment spürt sie, wie sich die Wärme um ihr Herz legt und es umspült wie die Wellen den Stein.

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zu 16 und 17
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Hallo Frau Klugscheisser.
Für neo-bazi kann ich nicht sprechen, für mich jedoch war es zu keiner Zeit auf der persönlichen Ebene. Also kein Problem deswegen.
Unser Austausch fand zwar auf öffentlicher Bühne statt, halt ich aber für harmlos, schön erfrischend.
Neo-Bazis Verteidigung ihrer Geschichte entzog sich mir. Wurde die Geschichte doch zu keiner Zeit angegriffen.
Ich verspürte absolut keinen Bruch in der Geschichte, lediglich ein Nachlassen in der sprachlichen Kraft, das hat mich gewundert und das sprach ich an. Daher empfand ich es auch nicht als Kritik, sondern de facto als Frage nach dem "Weshalb".
Klar werde ich auch weiter gerne meinen "Senf" dazu geben, aber ich werde sie nicht im klassischen Sinne kritisieren. Sie arbeiten hier sehr kreativ, das ist per se schon mal von Kritik befreit.
Wo die Geschichte hingehen soll? Es ist die Erzählung einer Reise ..... die möglicherweise immer noch andauert. Ohne nun das angegraute "Der Weg ist das Ziel" bemühen zu wollen, geht es ein wenig in die Richtung.
Drum gings mir auch um die sprachliche Kraft. Wenn sie den Moment schildern, ohne Hinarbeiten auf ein konkretes Ziel, können sie schlecht einen wie auch immer gestalteten Spannungsbogen aufbauen. Also sollten sie den Moment so authentisch wie möglich gestalten und das schien mir eben in Teil 16 nicht ganz gegeben.

17 sieht ganz anders aus. Wenn sie erlauben:
Zu Beginn welche Eindrücke? Licht, Tosen, Duft des Meeeres, der kleine Seestern.....
Mag an mir Banausen liegen, mir ist Präludium G-Dur.... zu sehr Detail. Traumsequenz deutet es schon an und die Schilderung der "Freundschaft" von Meer und Land ist einfach großartig.
Dann passiert bis auf Schilderungen nicht so viel um zum Ende noch mal aufzudrehen. Aber korrekte Noten? Muss man noten die ohnehin streng definiert sind nicht eher korrekt treffen? Sorry, das war Punktzerbeisserei. Im Augenblick des Erklingen erst erschaffen ist wunderbar. Freu mich auf 18.

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Die Passage mit den "korrekten Noten" habe ich modifiziert, den Seestern haben aber Sie hinzugedichtet ;o)

In der Schilderung passiert nicht viel und trotzdem geht es weiter. Ich muss einige Rahmenbedingungen schaffen, um später darauf aufbauen zu können.

Was haben Sie nur gegen das G-Dur Präludium? ;o)
Ich möchte bewußt immer wieder bestimmte Stücke einfügen, weil Sie für mich eine gewisse Stimmung transportieren. Wer die Stücke kennt, weiß, was ich meine. Bach ist nicht nur aber vor allem im WTK sehr strukturiert und klar, genau wie die Protagonistin ihr Leben bisher verfolgte. Die Prüfung ist ein Einschnitt in ihrem Leben. Sie wird dieses Stück ihr Leben lang nicht vergessen und damit verbunden bleiben. Schade nur, dass sie sich so selten aus dieser vorstrukturierten Ordnung wagt. Aber sie ist ja auf einem guten Weg....

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bekenne mich überführt. Ja mir hätte ein kleiner (zunächst) unscheinbarer Seestern gefallen. Als ein Hauch von "get in touch with nature".
Kann und muss auch nicht immer was passieren. Der Rahmen ist schon ok.
Ich hab überhaupt nichts gegen das G-Dur Präludium. Ich kenn es nur überhaupt nicht, daher der Banause. Kenne Bach als Spielart mathematischer Logik, quasi als Denksport. Als Musik hingegen nahezu unbekannt. Klingt etwas eigenartig zugegeben, aber für den Moment ist es halt so.
Sie kann immer noch aus der vorstrukturierten Ordnung raus. Sowas geht zu jeder Zeit. Wenn auch manchmal nicht ganz ohne Blessuren. Aber das kann ja sportlich gesehen werden :-)) Autsch!
Und... gute Besserung mit dem Auge!

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