Dienstag, 23. Mai 2006
Die musikalische Reise - Teil 7
Eigentlich hätte sie beim Blick aus dem Fenster den Baum im Innenhof sehen sollen. Stattdessen sieht sie auf eine weiße Wolkendecke. In weniger als einer halben Stunde wird sie an der Westküste landen. Der Gedanke an die vergangene Nacht durchfährt ihren Bauch. Er hinterlässt ein warmes Schwingen in ihrer Körpermitte, das sich wie Wellenkreise im Wasser langsam nach allen Seiten ausbreitet. Auf dem Weg von der Probe zum Hotel spürte sie seine Hand auf ihrer Schulter. Sie drehte sich um. Seine Worte hallten in jeder einzelnen ihrer Körperhöhlen nach. Sie hörte seine Stimme während des Konzertes, spielte nur für ihn, wollte ihm in Tönen so vieles erzählen, was über die Jahre geschehen war. Später lag er wie sein Cello zwischen ihren Beinen. Doch nicht sie spielte ihn, sondern er sie. Seine Hände glitten über ihren Körper, brachten ihn in Schwingung, zupften, strichen und stimmten eine längst vergessene Melodie in ihrem Innersten an. Sie spürte ihn vibrieren, als er in ihr kam. Als sie wieder erwachte, war sie allein. Was ihr blieb, war ein klebriges Gefühl zwischen ihren Schenkeln und ein Zettel auf dem Nachttisch. Seine Kontaktadresse stand da in klaren Lettern neben der Anweisung, wo sie das Ticket für den Flug nach San Francisco abholen sollte. Dort würde sie für den ausgefallenen Kammermusikpartner einspringen. Musikalisch kannten sie sich lange genug, sodass sich Proben erübrigten. Einstweilen würde er vorreisen und alles arrangieren. Ein kurzer Anruf bei ihrer Agentur bestätigte, dass er sie bereits gesucht hatte. Die Lücke zwischen ihren Konzerten in New York und Rom stimmte mit seinen Plänen überein. Man hatte über ihren Kopf entschieden, ohne sie vorher zu fragen. Sie ärgert sich ein wenig darüber. Gleichzeitig weiß sie, dass seine ungestüme Art, für Überraschungen zu sorgen, Ausdruck seiner Selbst ist. Schon damals waren sie deswegen aneinandergeraten. Als Klavierbegleitung konnte sie sich einfügen, nicht aber als Mensch.

Sie weiß nicht einmal, wann genau sie ihn wiedersehen wird. Kleine Notizen an Rezeptionen und neben Telefonapparaten werden ihr wie in einem Detektivspiel den Weg zu ihm weisen. Am Ausgang des Flughafens wartet ein Chauffeur, der sie zu ihrem Hotel bringen soll. Erst gleitet ihr Blick suchend über die Menschenmenge, bis sie das Schild mit der Aufschrift Ma petite Julie sieht. Der Halter, ein Schwarzer in légèrer Kleidung, grinst, als sie ihren Namen nennt. Ja, er hätte Anweisung, sie in die Stadt zu bringen. Auf dem Rücksitz liegt ein Fax mit dem Namen des Hotels, sowie Ort und Zeit für eine kurze Probe. Am Abend will er die beiden Brahmssonaten für Violoncello und Klavier aufführen. Die erste in e-moll war das Stück, mit dem sie seine Bekanntschaft vor vier Jahren machte. Seine Agentur hatte ihre Nummer vom Vorlesungsverzeichnis des Konservatoriums. Der Ruf einer ausgezeichneten Begleiterin eilte ihr über die Hochschulgrenzen voraus. Es folgten unzählige Proben und Konzerte mit verschiedensten Stücken aus dem Cellorepertoire. Nebenbei formierten sie ein Klaviertrio mit einem mäßig bekannten, dafür musikalisch hervorragenden Violinisten. Die Schubert- und Beethoventrios spielten sie so lange, bis sie zu den Ohren herauskamen. Dabei kann sie sich an den Trios von Schubert normalerweise nicht satt hören. Möglicherweise hat sie sich irgendwann einmal an den beiden Musikern sattgehört. Oder sie hat sich im Laufe der Zeit verändert. Sie wuchs aus der Rolle der kleinen Begleiterin hinaus, um zu dem zu werden, was sie jetzt ist. Eine Frau, die sich nicht mehr einfach sagen lässt, was sie zu tun oder zu lassen hat. Sie ist stolz auf das, was sie erreicht hat, auf das, was sie ist. In nur einer Nacht hat er sie wieder zu Wachs in seinen Händen werden lassen. Wie konnte das geschehen? Was ist seine Zauberformel, die sie nicht nein sagen lässt? Während sie sich auf der Rückbank des Wagens zurücklehnt, spürt sie wieder die warmen Kreise durch ihren Körper ziehen.

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