Freitag, 26. Mai 2006
Die musikalische Reise - Teil 11
Der vergangene Abend nach dem Konzert war kurz. Nach einer unbeschlafenen Nacht packte sie eilig, verließ das Hotel in einem Taxi zum Flughafen und holte nicht nur den Schlaf, sondern auch das Träumen im Flieger nach. Früh am Morgen landet sie in München. Das Tageslicht fühlt sich unwirklich an, lässt sie schlafwandlerisch durch eine imaginäre Landschaft schreiten. Von oben hat sie bereits die blühenden Rapsfelder bestaunt – versprenkelt gelbe Vierecke in der so geometrisch sortierten Landschaft. Kein einziger Fleck dieser Landschaft ist von Menschenhand unberührt. Dieser Gedanke lässt sie melancholisch werden. Vielleicht ist es aber auch die Tatsache, dass sie Californien verlassen hat, ohne sich zu verabschieden. Die Nacht war die nächste Variante einer ewig alten Sonate. Am morgen war sie wieder einmal mit einem Zettel auf dem Nachttisch allein. Lettern, die sie gerne zum Leben erweckt hätte, um sich davon wachküssen zu lassen. Wie sehr sie seine Art zu gehen hasste. Und nicht nur das, sie hasst das Gefühl, zu einem kleinen Mädchen zu regredieren, das gehalten und gestreichelt werden will. Lange hat sie dieses Gefühl in die hinterste Ecke ihres Herzens gedrängt, eingesperrt und verleugnet, hat sich einzureden versucht, wie unabhängig und erwachsen sie doch sei. Jetzt ist es wieder da. Sie hasst ihn dafür, wünscht ihm einen unheilbaren kratzenden Ausschlag an den Hals oder mindestens ein paar Eiterabszesse an Stirn und Gesäß. Bei diesem Gedanken muss sie schmunzeln. Ihr Plan schlug fehl. Dafür kann sie sich jetzt wieder auf sich und ihre Arbeit konzentrieren. Ab heute werden für unbestimmte Zeit tote Komponisten die einzigen Männer sein, die sie an sich heranlässt.

In Rom wird sie mit dem Orchester der Mailänder Scala debütieren. Wieder einmal Mozarts A-Dur Konzert. Sie war vor vielen Jahren mit ihren Eltern in Rom, hat Pantheon und Villa antiqua gesehen, das Kolosseum und die unzähligen Kirchen. Von einer Hügelstadt in die nächste, schießt es ihr durch den Kopf, als sie den Koffer abstellt, um die Wohnungstüre aufzusperren. Mit der Türe schiebt sie die Post zur Seite, die sich dahinter auf dem Boden stapelt. Rechnungen, Werbung, eine Postkarte ihrer Schülerin, eine Musikzeitschrift. Sie schaut nur flüchtig nach Absendern, bevor sie damit den Stapel auf ihrem Schreibtisch ein wenig vergrößert. Der Anrufbeantworter blinkt ungeduldig. Die Stimme ihrer Mutter ertönt. Worte wie friedlich eingeschlafen, Herz und tot hört sie durch den dicken Schleier aus Müdigkeit und Unverständnis. Diese Worte verwendet ihre Mutter in Kombination mit dem Namen ihres Professors. Ihr Mentor tot? Warum wurde sie nicht schon gestern informiert? Was ist passiert? Erst jetzt erinnert sie sich, dass sie im Flugzeug nicht erreichbar war. Ein Stechen, das sich durch ihren Körper zieht, lässt sie zucken. Ihr wird schlecht, dann schwindelig, schließlich geben die Beine nach. Wie in Zeitlupe sackt ihr Körper in sich zusammen.

Bin jetzt zwei Tage in der Stadt der Hügel. Danach geht es weiter. Liest hier noch einer mit?

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