Sonntag, 14. Mai 2006
Die musikalische Reise - Teil 1
Frau Svashtara hat gerufen und ich folge ihr in 30 Tagen/Teilen um die Welt:


Gestern erst ist sie von Moskau zurückgekehrt. Sie fühlte sich so müde, unendlich müde und erschöpft. Einige Tage nach dem großen Ereignis, dem großen Empfang und der anschließenden Feier, war sie mit leerem Kopf durch die Trostlosigkeit Moskaus gestreift. Monumentale Bauten, die die Armut der Menschen überstrahlen sollen, haben sie zu all der abgefallenen Anstrengung zusätzlich ausgesaugt. Dabei weiß sie, dass dies erst der Anfang war. Wenn man einen so wichtigen Preis wie den des Tschaikowskywettbewerbs gewonnen hatte, konnte dies den Beginn einer internationalen Karriere bedeuten. Man muss es nur geschickt anpacken. Die Musikwelt blickt gespannt auf die Geschehnisse innerhalb der bedeutenden Wettbewerbe. Als Martha Argerich beim Chopinwettbewerb unter Protest aus der Jury austrat, weil Ivo Pogorelich nur der dritte Preis zugeteilt wurde, obwohl er laut ihrer Aussage ein Genie wäre, war sein Name in aller Munde. Diesen Preis verdankte sie zahlreichen Studien alter Meister und ihrem Lehrer, der Mentor und Berater, aber auch Drillmeister in einer Person ist. Er ist ihr personifiziertes schlechtes Gewissen und gleichzeitig ihr Selbstbewusstsein. Wie sehr hatten sie noch bei der Auswahl der Stücke gestritten. Das dritte Klavierkonzert von Rachmaninov wollte sie spielen, mit dem ersten Satz ihre unglaubliche Virtuosität unter Beweis stellen, und immer wieder ermahnte er sie, ihre eigentliche Stärke, ihr musikalisches Verständnis mit der ihr eigenen klanglichen Vielfalt zum Ausdruck zu bringen. Schließlich gab sie nach. Der langsame Satz vom A-Dur Konzert KV488 brachte ihr im Finalkonzert nicht nur stehende Ovation vom Publikum, sondern auch den entscheidenden Vorteil im Sieg gegen den Koreaner ein.

Sie mag nicht üben. Die Stücke sitzen sowieso in ihren Fingern und dem Kopf, klingen im Ohr und Herzen. Sie muss nicht mehr tun, als sich von Ängsten zu befreien, damit die Töne aus ihr herausfließen können. Dafür hat sie lange und hart gearbeitet. Morgen wird sie nach Barcelona reisen, um ein Klavierrezital zu geben. Die Einladung traf bereits vor ihr im heimatlichen Briefkasten ein. Man hatte diesen Termin extra für einen der Finalisten des Wettbewerbs, vorzugsweise für den Gewinner, reserviert. Vor einigen Jahren war sie schon einmal in Barcelona, damals für einen Meisterkurs. Die Stadt weckt mit dem ihr ganz eigenen Charme alte Erinnerungen. Jetzt im warmen Frühlingswind zeigte sie sich von ihrer schönsten Seite. Ein zusätzlicher Anreiz für die spontane Zusage. Der Koffer liegt aufgeklappt neben dem Bett, wie sie ihn gestern dort abgelegt hat. Das lange schwarze Kleid hängt vor dem Schrank. Während sie getragene Kleidungsstücke durch frische ersetzt, die Konzertschuhe einem prüfenden Blick unterzieht und schließlich das erforderliche Notenmaterial sortiert, schlendert sie in Gedanken bereits die kleinen Gassen der Altstadt zwischen kühlem Mauerwerk entlang, an gaudíesken Fassaden vorbei, streift mit einem Blick die Miró-Statuen und verliert sich über dem Wasser im Hafen. Ja, damals war sie noch viel jünger als jetzt und verliebt. Die Eltern hatten ihr verboten, den Kunststudenten wiederzusehen. Sie hätte keine Zeit für derlei Geplänkel. Ihre Karriere sei viel wichtiger. Der teure Unterricht, die vielen Übungsstunden am Klavier, ob sie dies alles für ein Strohfeuer auf´s Spiel setzen wolle. Ja, das wollte sie damals, wollte mit ihm barfuß im Regen über die Wiesen des Parks de Ciudadella laufen, war neugierig auf die vielen kleinen Clubs und Bars, in denen sie sich mit seinen Freunden trafen. Es war damals eine fremde neue Welt für sie. Dafür hatte sie nie Zeit. Wenn andere mit Freunden zum Skifahren oder im Sommer ins Freibad gingen, saß sie am Klavier und übte. Sie übte, als sich die Mädchen ihrer Klasse zum Abschlussball herrichteten. Sie übte, als sich gefundene Pärchen händchenhaltend zur Eisdiele schlenderten. Sie übte, als die Ersten ihren Führerschein begossen. Sie übte, als die anderen den Abiturstreich ausheckten. Und sie übte – damals schon am Konservatorium – als sich die Klassenkameraden erst für den ein oder anderen Studiengang entschieden. Sie hatte nie eine Wahl. Eine Gabe ist eine Aufgabe sagte man ihr. Dieser Spruch schien sie wie ein Fluch zu verfolgen.

Mit Schwung klappt sie den Deckel des Koffers zu. Keine Zeit für dunkle Gedanken. Morgen wird sie früh aufstehen müssen, um das erste Flugzeug nach Barcelona zu bekommen. Neben einer kleinen Einspielprobe am fremden Instrument will sie ein wenig durch die Stadt schlendern, alten Erinnerungen melancholisch nachhängen, neue Eindrücke sammeln und alles in sich aufsaugen, um es schließlich in ihrem Spiel hörbar zu machen. Morgen schon, nur einige Stunden ist das Ereignis weg, doch die Erinnerung macht alles so nah, als wäre sie bereits dort.


Bomec, bitte helfen Sie mir, sich in Ihrer Stadt zurechtzufinden.

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Yo mama!
Aus aktuellem Anlass:

Früher dachte ich immer, Mutter zu sein wäre bestimmt ganz schlimm. Dabei bezog sich mein Urteil nicht auf die Fakten meiner eigenen Erfahrung, sondern vielmehr auf einen einzigen Umstand. Meine Oma erhielt regelmäßig Spendenbittbriefe vom Müttergenesungswerk. Wenn Mütter genesen sollen, wären sie demnach krank, so meine Schlussfolgerung. Ich dachte weiter, Mutter sein wäre so was wie eine Grippe mit hohem Fieber, die aber nie vorbeigeht. Deswegen beschenkte ich meine Mutter regelmäßig am Muttertag mit selbstgemalten Bildern, auf denen alles Gute, wahlweise auch gute Besserung stand. Natürlich wurde das irgendwie missverstanden. Dabei hatte ich es nur gut gemeint. Mit den Jahren folgte Selbstgebasteltes aus Filz, Streichhölzern und leeren Klopapierrollen. Ich war sozusagen Vorreiter für die moderne Kunst. Beuys hat später meine Idee mit dem Filz geklaut. Wie er allerdings von meinen Werken Wind bekam, ist mir ein Rätsel. Wahrscheinlich – so meine Vermutung – wurde unser Müll damals wegen der hohen Verbrennungskosten oder einer geheimen Arbeitsbeschaffungsmaßnahme für Kohleabbaukumpel von Süddeutschland ins Ruhrgebiet transportiert. Immerhin fand ich eines meiner Werke in der Tonne hinter dem Haus. Grund genug, von nun an auf verfallbeständigere Materialien wie gebrannter Ton und Stein auszuweichen.

Irgendwann begann ich den Muttertag zu hassen. In der Schule mussten wir im Werkunterricht bereits eine Woche vor besagtem Tag mit Bastelarbeiten beginnen, die dann zuhause sowieso im Müll landen würden. Außerdem war ungeachtet der Wetterlage ein obligatorischer Spaziergang an diesem Tag angesagt. Ich war Spaziergangnehmer. Von Gewerkschaft und Betriebsrat war damals noch nicht die Rede. Während ich lustlos durch Wald und Wiesen hinter meiner Rudimentärfamilie herschlurfte, sammelte ich Steine, die ich meiner Mutter aufgrund eingeschränkter Jackentaschenkapazität in die Handtasche schmuggelte. Nach unserer Rückkehr leerte meine Mutter ihre Tasche aus und ich sortierte vor ihren Augen die für mich weniger wertvollen mit gezieltem Wurf durch die offene Balkontüre aus. Das war die Mehrzahl der Steine und meine späte Rache.

Heute empfinde ich es – abgesehen von krakeelenden Kleinkindern und Platzmangel– noch ganz nachvollziehbar, wenn die Familien morgens zum Frühstück mit den Kleinen öffentliche Lokalitäten aufsuchen, in denen ich aufgrund von Einkaufsverweigerung zu frühstücken gezwungen bin. Schlimm sind aber die erwachsenen Kinder, die ihren Müttern gelangweilt im gebügelten Hemd gegenübersitzen, um der Mama was Gutes zu tun. Sätze wie Ach wie schön, dass wir heute mal zusammen frühstücken werden zum konversationslückenfüllenden Mantra. Solcherlei Zusammenkünfte sind nur noch durch die Anwesenheit des jeweiligen Lebensabschnittsgefährten zu toppen. Dann sitzen Mama und Tochter/Sohnemann, die Abstammung unverkennbar im Gesicht tragend, nebeneinander und werden durch ein zwischen beiden hin und her wanderndes Augenpaar von gegenüber permanent verglichen. Ich bin mir sicher, die Trennungsrate steigt nach so einem Tag bei unverheirateten Paaren erheblich. Keiner kann die Augen vor den Spuren des Älterwerdens verschließen, doch während man sich selbst mit gnädigeren Augen betrachtet, wird im Angesicht der gealterten Ausgabe des Bettgefährten keine Gnade mehr möglich sein. Mal ganz ehrlich, wer hatte nach einer Familienzusammenkunft nicht schon das Antlitz der Schwiegermutter im Kopf, während man sich abends dem Partner lustvoll nähert. Im Angesicht der Schwiegermutter stirbt jegliche Erotik. Es soll dies gar ein in Fachkreisen empfohlenes Mittel gegen vorzeitigen Orgasmus sein. Davon ist unbedingt abzuraten, denn auf Dauer könnte dies nicht nur einen vorzeitigen Orgasmus, sondern jegliche Lust im Keime ersticken. Und da wundern sich noch Manche, dass ältere Männer oft jüngere Frauen bevorzugen. Bei so manchen Gesichtern, die ich heute sah, wundert mich nichts mehr. Erotisches Heimweh hat seine Wurzeln in genau solchen Tagen wie heute.

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