Dienstag, 30. Mai 2006
Die musikalische Reise - Teil 12
Von weiter Ferne dringt der Ton der Türglocke in ihr Bewusstsein. Langsam öffnet sie die Augen, beginnt damit die Zimmerdecke abzutasten. Nach und nach erinnert sie sich: San Francisco, die Heimreise, ihr Professor. All das scheint plötzlich so unwirklich zu sein. Sie weiß nicht, wie lange sie so auf dem Boden im Flur gelegen hat. Noch fühlt sie sich zu schwach, um sich aufzusetzen. Ihre Hände spüren Nässe neben dem Körper, die ihre Kleidung durchdringt. Über die Schulter rollt sie sich zur Seite, zieht die Beine an und stützt sich auf einen Arm. Der Inhalt ihrer Blase breitet sich in einer Pfütze unter ihr auf dem Parkett aus. Es muss eine tiefe Ohnmacht gewesen sein. Plötzlich beginnen Tränen wie aus dem Nichts aus ihren Augen zu quellen. Ein tiefes Seufzen packt ihren Körper, wächst zu einem Schrei an und schüttelt ihn. Sie rappelt sich heulend auf, um im Badezimmer die nassen Kleider auszuziehen. Dann lässt sie Wasser in die Wanne einlaufen. Während sie zitternd auf dem Rand der Wanne sitzt, zieht ein Band von Bildern aus ihrer Erinnerung durch ihren Kopf. Die letzte Begegnung, der Wettbewerb, das Mozartkonzert. Sie hatte nicht einmal Gelegenheit, mit ihm den Sieg zu feiern. Als sie ihn anrief, um vom Wettbewerb zu berichten, war er für seine Verhältnisse fast ausgelassen. Sie hat für ihn gewonnen, wollte seine Anerkennung, die er meist zurückhielt, um sie nur noch mehr anzuspornen. „Das hast Du verdient. Ich habe es Dir sehr gewünscht und freue mich für Dich.“ Seine letzten an sie gerichteten Worte sickern in die Hirnrinde und brennen sich dort ein. Jemand behauptete einst, erst wenn die Eltern gestorben seien, würde man erwachsen. Der Professor war für sie immer mehr als Vater und Mutter. Sie brauchte ihn nicht mehr für ihre musikalische Entwicklung, wusste sie doch, was sie zu tun hatte, wie zu arbeiten und kannte seine Worte schon bevor er sie aussprach. Dennoch war er für sie immer eine wichtige Bezugsperson, ein Freund und Berater. Jetzt ist sie auf sich allein gestellt. Nicht wie in einem Konzert, in dem sie ebenfalls ganz alleine am Flügel sitzt. Diese Art der Einsamkeit kann sie mit Klängen füllen. Es ist ein Gefühl, als ob sie ohne Netz mitten auf einem Seil über den Abgrund balanciert. Jeden Moment kann sie in die Tiefe stürzen. Selbst wenn sie die Plattform am anderen Ende erreicht, kann sie das Erlebte mit niemandem teilen. Der, der das Seil und den Abgrund nur zu gut kennt, ist nicht mehr. Das Läuten des Telefons reißt sie aus ihren Gedanken. Sie mag jetzt mit keinem sprechen. Stattdessen taucht sie einen Fuß in das Wasser, zieht den anderen nach und senkt sich in die Wanne. Das warme Wasser, das ihren Körper umhüllt, gibt ihr in solchen Situationen das Gefühl von Geborgenheit. Vom Flur hört sie eine Stimme auf den Anrufbeantworter sprechen. Man teilt ihr mit, wann die Beerdigung sein wird und fragt, ob bei ihr alles in Ordnung wäre. Selten war so vieles in Unordnung in ihrem Leben wie jetzt. Sie weiß nicht, ob sie auf die Beerdigung gehen wird. Da ist diese Konzertverpflichtung in Rom. Nein, die ließe sich auch verschieben. Viel mehr als das ist es die Angst vor der Endgültigkeit, die sie jegliche Gedanken an die Beisetzung vermeiden lässt. Noch ist sie nicht bereit, zu nahe ist der Mensch, der verabschiedet wird. Sie möchte ihn gerne am Leben halten, glauben, dass alles nur ein böser Traum war.

Am Nachmittag ruft sie in der Agentur an. Ja, man habe vom Tod ihres Lehrers gehört. Ob sie nicht dennoch nach Rom fahren möchte. Falls nicht, würde für Ersatz gesorgt. Als nächstes telefoniert sie mit der Frau des Lehrers. Die entgegnete Verzweiflung schnürt ihr den Hals zu. Sie weiß nicht, was sie sagen soll. Passende Worte scheint es in solch einer Situation nicht zu geben. Da ist kein Raum für formulierte Gedanken. Beide weinen leise am Telefon. Dann verspricht sie, am nächsten Tag vorbeizukommen. Als sie den Hörer auf die Gabel senkt, fällt ihr Blick auf ein Foto aus längst vergessenen Tagen. Ein junges Mädchen sitzt darauf am Klavier, die Augen auf die Tastatur gerichtet. Daneben der Lehrer, der ihr Tun mit wohlwollendem Gesichtsausdruck verfolgt. Das Bild steht in einem Rahmen auf dem kleinen Tischchen im Flur. Manchmal war sie sich nicht sicher, ob sie weitermachen soll. In solchen Momenten betrachtete sie das Foto und wusste augenblicklich, dass ihre Wahl die Richtige war. Dieser Mann war zu einer Art Vaterersatz für sie geworden. Von ihrem Vater hat sie kaum Aufmerksamkeit bekommen. Er wusste oft nicht einmal, ob sie verreist war oder nur bei einer Freundin übernachtete. Als sie von Zuhause wegging, drückte er ihr einen Scheck in die Hand. Er hätte ihr auch eine Ohrfeige geben können, für sie wäre da kein Unterschied gewesen. Alles, was sie jemals von ihm wollte, war seine Aufmerksamkeit und Zuwendung. Auf ihren Konzerten glänzte er mit Abwesenheit. Einzig wenn sie für geladene Gäste im Haus spielen sollte, war er da. Nicht dass er ihr zuhörte. Seine Gedanken drehten sich meist um Geschäftliches. Während sie mit Tönen spielte, spielte er mit Zahlen und Worten. Sie leben in zwei Welten, die unterschiedlicher nicht sein können. Alles, was er ihr nicht geben konnte, hat sie sich im Laufe der Zeit von ihrem Mentor geholt. Dieser Mann schenkte ihr ungeteilte Aufmerksamkeit, hatte immer ein offenes Ohr für ihre kleinen Alltagssorgen und setzte sich mit ihren Gedanken und Worten auseinander. Die Diskussionen waren niemals bösartig, sondern eher konstruktiv. Dennoch war sie manchmal wütend auf ihn. Mit seinem Wissen gab er ihr manchmal das Gefühl, ein Kind zu sein. Dabei wollte sie ihm doch beweisen, wie sehr sie verstand, was er meinte. Sie wollte es in Klang umsetzen und ihm zeigen, dass sie seine Anforderungen zu erfüllen bereit ist. Später wurden die Auseinandersetzungen weniger. Er wusste, dass sie wusste, was zu tun sei. Nur ab und zu stupste er sie in eine Richtung, wenn sie sich an der Weggabelung nicht entscheiden konnte. Meistens behielt er damit Recht, zuletzt bei der Entscheidung um das Stück für das Wettbewerbsfinale.

Sie setzt sich an den Flügel und schlägt die Noten zu Chopins zweiter Sonate auf. Die Finger mögen die Tasten nicht berühren. Zwischen ihren Händen und der Tastatur scheint eine unsichtbare Scheibe zu liegen. Die Haut fühlt sich an, als ob sie dicke Handschuhe aus Glaswolle trüge. Auf den Handinnenflächen haben sich rote Stellen mit kleinen Bläschen gebildet. Vielleicht war das Badewasser zu heiß oder sie reagiert auf irgendetwas allergisch. Jedenfalls muss sie morgen deswegen unbedingt einen Arzt konsultieren. So kann sie nicht musizieren, allenfalls unkoordiniert auf die Tasten einhämmern. Tränen laufen über ihre Wangen, als sie ihre Hände betrachtet. So sitzt sie eine unbestimmte Weile regungslos vor dem Notenblatt mit Chopins bekanntestem Werk, dem Trauermarsch.

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