Montag, 17. Februar 2020
Tageblog 17.2.2020 Reisen
Am gestrigen Sonntag bin ich um 5.00 aufgestanden, um der 75. Geburtstagsfeier meiner Stuttgarter Freundin beizuwohnen. Sie hatte ihre Gäste zum Mittagstisch gebeten und mich speziell, diese Feier musikalisch zu umrahmen. Um 1.00 heute Morgen war ich wieder zurück in München. Dazwischen lag ein rasanter Uberfahrer, ein verpasster Zug, ein von mir ausgelöster Feuerwehreinsatz, Polizei und Sicherheitskonferenz, ein Flug und viel Puls. Aber der Reihe nach.

Bekanntlich fliege ich als Angestellte einer Fluglinie besonders günstig, sogar günstiger als die Strecke mit dem Auto zurückzulegen. Zudem bekomme ich inzwischen auch bei der Bahn Vergünstigungen, die jedoch an schlecht ausgelastete Verbindungen geknüpft sind. Als ich am Sonntag um 5.00 aufstehe, habe ich eine Bahnfahrkarte für den Zug um 7.02. Man könnte meinen, die Zeit bis zur Abfahrt genüge, um sich grundzureinigen, aufzuhübschen und von der Wohnstätte mit der U-Bahn zum Hauptbahnhof zu kommen. Dort rechne ich derzeit mindestens 10 Min. Fußweg von unten bis zu den Gleisen ein, denn ich kann nicht schnell gehen. Um 6.20 entscheide ich mich sogar für eine U-Bahn früher. Ich bin zeitlich immer gerne auf der sicheren Seite. Doch das Leben hat andere Pläne mit mir. Als ich nämlich den Aufzug im 3. Stock betrete und auf E drücke, geht die innere Schiebetüre zu und der Indikator leuchtet, sonst bewegt sich aber nichts.

Ich benutze normalerweise die Treppe, selbst mit schweren Einkäufen - nur mit zwei Koffern lasse ich mich zum Dienst vom Aufzug nach unten transportieren. Wenn ich sehr früh morgens zur Arbeit antrete, spiele ich gelegentlich das Aufzugsteckenbleib-Szenario im Kopf durch. Sie wissen schon, das ist dieses Erwachsenending, bei dem Sie Vorfälle antizipieren, die dann doch nicht eintreten. In meiner derzeitigen Situation bediene ich mich wegen Bewegungseinschränkung oft des LIfts. Und der Rucksack an diesem Morgen ist auch nicht so leicht. Ich gehe also auch jetzt im echten Szenario meine Optionen im Kopf durch und drücke erst mal alle Knöpfe, die auch gleichzeitig aufleuchten. Sonst bewegt sich nichts. Der Alarmknopf gibt einen schrillen Ton durch's Treppenhaus ab, der einem sehr lauten Rauchmelder ähnelt. In den Pausen höre ich den Nachhall, so still ist es. Ich drücke die innere Schiebetür zur Seite. Da der Lift noch nicht gefahren ist, presse ich gegen die äussere Türe. Die bleibt aber vorschriftsmäßig verriegelt. Das TÜV Siegel ist von Januar 2020, doch die Notfallnummer des Notdienstes unleserlich.

Zum ersten Mal wird mir klar, wie wichtig jetzt langsames Atmen ist. Mein Puls steigt stetig. Im Hausflur ist immer noch alles ruhig. Ich beginne, mit der Faust gegen die Aussentüre zu hauen und verhalten "Hilfe?" zu rufen. Als ich damit keinen Erfolg habe, wechsle ich zu einem etwas bestimmteren Ausrufezeichen. Da höre ich Nachbarn vor der Türe. Ich sage, sie sollen beim früheren Hausverwalter im 5.Stock läuten, weil der um diese Uhrzeit auf sein Telefon nicht reagiert. Auch ein weiterer Nachbar aus dem 5. weiß, wie man den Aufzug händisch bedient. In der Vergangenheit musste dieses Wissen öfter angewendet werden. Doch auch dieser Nachbar lässt sich nicht in seiner Nachtruhe stören. Die gewählte Notdienstnummer informiert, dass sie nicht mehr zuständig, da der Vertrag ausgelaufen sei. Meine Atemfrequenz steigt. Nun hilft nur noch die Feuerwehr. Wenn die Herrschaften schnell da sind, kriege ich vielleicht sogar noch meinen Zug. In meiner Aufregung rufe ich aber erst mal die 110 und lande bei der Polizei.

"Ja dann ruaffans bittschön a do o wo's hi woin!" sagt der Angerufene, und ich stelle ihn mir wie den Sedlmayr aus der alten Serie Polizeiinspektion 1 vor. In diesem Szenario wäre ich die Frau Gmeinwieser, die sich auf Kinkerlitzchen versteift, während die Herren Beamten wichtige Fälle zu lösen haben. Unter der 112 antwortet ein Herr, der nicht nur mit dem Hören, sondern auch mit dem Buchstabieren Probleme hat. Mein Straßename ist sehr kurz. Den bekomme ich etwa fünf Mal falsch zurückbuchstabiert. Irgendwann einigen wir uns auf markante GPS Koordinaten, die mein Handy sendet. Dann sage ich zu den Nachbarn, sie könnten sich jetzt wieder schlafen legen, da Hilfe im Anmarsch sei, sollten vorher aber noch die Haustüre unten öffnen.

Wenn demnächst eine Person im Aufzug steckt und ich möglicherweise nicht helfen kann, würde ich auf jeden Fall vor der Türe warten und mit ihr sprechen. Das beruhigt nämlich ungemein. Ich fange also an, in diesem kleinen Vierpersonenaufzug mit mir zu sprechen, bis ich die Feuerwehrmänner eintreffen höre. Sogleich kommt Leben in den Hausflur. Durch den Panzerglasstreifen der Türe sehe ich Taschenlampenkegel. Am rechten oberen Rahmen der Türe ist die Verriegelung, an der sich die Herren zu schaffen machen. Zwischendurch höre ich Kommentare wie, zu kurz, zu breit, wer baut denn heut' noch so einen Mist und die Dreckstür' ist so alt, da hamma kein Werkzeug. Das wirkt nicht zwansläufig beruhigend auf meinen Puls. Ich überlege mir, wie ich mich stelle, falls Funkenflug vom Bolzenschneider und Sie wissen schon, wohin mit dem teuren Mantel und so. Das Backup via Funk hat auch keine gute Idee. Nach viel hin und her geht irgendwann die Türe auf und ich trete in einen Kreis von fünf Feuerwehrmännern in voller Montur, einem Notarzt und zwei Nachbarn, die sich alle auf dem Stockwerk versammelt haben. Einer packt das Equipment weg. Alle schauen mich an, doch keiner erwidert mein fröhliches "Guten Morgen". Ich frage, ob ich noch wo unterschreiben muss, bedanke mich und verschwinde dann in meine Wohnung, schließlich bin ich auf einer Mission. Der Zug ist höchstens noch mit Blaulicht zu erwischen. Das wage ich aber nicht zu fragen, die Herren haben ja bestimmt Wichtigeres zu tun.

Der nächste Zug ist für mich nicht buchbar, seltsamerweise auch nicht über die normale Bahnwebseite. Ich wage nicht, eine Fahrkarte im Zug zu kaufen und buche stattdessen einen Flug. Das Ticket wird mir normalerweise binnen Sekunden zugestellt. Heute finde ich es erst nach Minuten im Spamordner. Ein Uber ist schnell vor Ort, die Zeit drängt. Dem Fahrer erzähle ich eine herzerweichende Geschichte von den Dingen, die man mit Geld nicht kaufen kann und der Freundin, die vielleicht nicht mehr so oft Geburtstag feiert. Er ist zuversichtlich, dass wir in 25 Minuten am Terminal stehen. Durch die Sicherheitskonferenz ist die Polizei auf der Autobahn sehr präsent. Er wagt das blaue Auto nur langsam zu überholen, denn während ich freundlich auf dem Rücksitz winke, liegen wir schon 30 Km/h über der erlaubten Geschwindigkeit. Als wir das Terminal erreichen sind gerade mal 30 Minuten vergangen.

Die Schlange an der Sicherheitskontrolle ist überschaubar. Ich sage dem Mitarbeiter, er möge meinen Rucksack mit dem teuren Instrument nach dem Scannen im Auge behalten, denn die Sensoren werden bei mir anschlagen. Das gehe nicht, meint er trocken und überhaupt würde ich bestimmt nicht piepsen, denn das sei kein Metallscanner. Ein Inder lässt mich vor sich in die Schlange einfädeln. Natürlich piepse ich, werde abgetastet und nehme anschließend meinen unbeaufsichtigten Rucksack wieder in Empfang. Zum Gate sind es 10 Minuten, doch rennen kann ich nicht. Als die Flugzeugtüre schließt, bin ich die letzte, die ihren Sitz sucht. Der Uberfahrer hat inzwischen seine Runde abgebrochen und fährt wieder Richtung Stadt, denn er war zur Sicherheit und in Aussicht auf eine Fahrt nach Stuttgart noch ein bisschen in der Nähe geblieben. Mein Puls ist jetzt wieder normal.



Am Abend laufe ich zum ersten Mal durch die Baustelle des Stuttgarter Hauptbahnhofs. Die Wege sind lang und für mich beschwerlich. Gleis 15 ist ganz rechts, die Toiletten neben Gleis 1. Das wird aber erst später relevant, denn noch ist mein Zug, der um 19.10 abfahren sollte, nur um 45 Minuten verspätet. Die reine Zugfahrt soll diesmal dreieinhalb Stunden dauern, obwohl man normalerweise mit dem ICE in nur zweieinhalb München erreichen kann. Ich bin an diesen Zug gebunden, wie offenbar viele Andere auch. Ein junger Mann hat die mit abbrechender Stimme durchgesagte Information auch nicht verstanden. So kommen wir in's Gespräch. Irgendwann erzähle ich ihm von meinen wilden Jahren in einem Club namens Das unbekannte Tier, in dem nicht nur die Fantastischen Vier angefangen, sondern auch mein Freund Ralf und ich einst gefeiert haben. Gegenüber stand der Palast der Republik, eine zur Straßenbar umgebaute Stuttgarter Bedürfnisanstalt. Gott, was haben wir da getrunken. Er fragt, was eine Bedürfnisanstalt sei und schlagartig fühle ich mich alt. Unser Gespräch muss seltsam anmuten, dabei ist er so jung auch wieder nicht. Die neue Ansage lautet 110 Minuten Verspätung, der Folgezug fällt aus. Der junge Mann geht sich informieren. Irgendwann kommt er zurück und meint, er würde jetzt über Nürnberg nach München fahren und dass die Zugbindung aufgehoben sei. Ich entscheide zu bleiben, brauche aber jetzt langsam mal eine Toilette.



Um's kurz zu machen, ich bin um 1.00 wieder daheim. Diesmal entscheide ich mich für die Treppe. Der Lift steht immer noch im 3.Stock. Dafür ist es im nächtlichen Hausflur erstaunlich ruhig. Im Bett bin ich erst gegen 2. Aber alles Geld und Mühe haben sich gelohnt, wenn ich mich an das strahlende Gesicht der Jubilarin erinnere. Ich hoffe, wir machen das noch zwanzig Mal so.

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